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4. Kapitel - Die Teeparty des Unglücks

„Wir werden die neue Welt finden und unsere Nachkommen werden sie einweihen. Auf dass wir das Elend der hiesigen eines Tages hinter uns lassen können."
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Den restlichen Tag verbrachten sie gemeinsam. Der Hunger trieb sie irgendwann vom Baum und zum Hof, wo Olivers Mutter auf ihren Sohn wartete. Die beiden Mädchen an seiner Seite war sie seit Jahren gewohnt. Sie tadelte ihn aufgrund seiner Faulheit, lobte Cordelia dafür, dass sie heute weniger blass war und meinte, dass Eves Haar heute besonders glänzte. Drinnen wartete bereits ein frisch gebackener Kuchen auf die Gäste, zu denen wenig später auch Mr Blueman stieß. Es wurde gelacht und gescherzt. Zuerst schloss Cordelia sich der ausgelassenen Stimmung an, doch plötzlich überkam sie das Gefühl, sie würde sich vom Tisch entfernen. Die anderen rückten von ihr ab mitsamt dem Schein der Kerze.

Cordelia saß in der Dunkelheit und schaute ihnen wie durch ein fernes Fenster zu. Und plötzlich saßen dort ihre Eltern mit einem zehnjährigen Mädchen, das mit der Serviette spielte. Samantha Golding lachte und ihr Mann betrachtete sie dabei wie einen Engel. Auch auf diesem Tisch stand eine Kerze. Ein Windhauch erfasste die kleine Flamme und brachte sie zum Tanzen. Cordelia beobachtete sie gebannt, die Fingernägel in den Handflächen vergraben. Sie spürte den Schmerz nicht.

Plötzlich war der Kerzenschein ein Flammenmeer.

Plötzlich brannten die Blumen und die Tischdecke.

Plötzlich schaute das Mädchen Cordelia aus großen grünen Augen an. Nicht verängstigt oder panisch. In dem Blick lag die blanke Unwissenheit eines unschuldigen Kindes, als würde es darauf vertrauen, jeden Moment aus einem Albtraum zu erwachen.

Cordelia wollte gern erwachen. Aber seit fünf Jahren hatte sie niemand geweckt.

Dornröschen.

Im nächsten Moment ergriff jemand ihre Hand und sie wurde schlagartig zurück an den Tisch der Bluemans gezogen. Die Kerze flackerte ruhig vor sich hin. Eigentlich hatte sie wirklich geglaubt, die Furcht vor ihnen überwunden zu haben, aber offenbar schlug sie in seltenen Momenten immer noch gerne zu.
Sie ist ganz ruhig, ermahnte sich Cordelia streng. Es gab wirklich keinen Grund, in solcherlei Vorstellungen zu versinken. Ohnehin war es reine Zeitverschwendung, denn die Vergangenheit war vergangen. Ihre Eltern und das zehnjährige Mädchen waren fort.
Bei diesem harten Gedanken durchfuhr sie ein heftiger Schmerz, doch sie verdrängte ihn tief in ihrem Geist. Knüllte ihn zusammen und packte ihn in die nächstbeste Kiste, aus der er sich in absehbarer Zeit sowieso wieder winden würde. Aber nicht hier am Tisch, das gestattete sie ihm einfach nicht.

Es musste einfach irgendwann aufhören.

Es würde aufhören.

Als sie den Kopf hob, sah sie, dass Evangeline ihre verkrampften Finger gelöst hatte. Ihre Freundin lächelte sie warm an, obwohl in ihren Augen ebenfalls Schmerz aufleuchtete. Als hätte sie einen Teil davon zu sich genommen, um Cordelia zu entlasten. Diese Vorstellung war schön.
Das Gefühl würde betäubt werden, wenn sie sprach. Sich zurück in die Realität versetzte und nicht wie ein Geist am Tisch saß. Es tat ihr ohnehin leid, wie sie häufig auf andere wirkte. Abwesend, unglücklich, gefangen in der Erinnerung an ein hübsches Anwesen aus Rauch und Flammen. Einige versuchten oft, sie aufzumuntern oder ihr die Hand zu reichen, um sie aus den Trümmern zu ziehen. Aber Cordelia wusste oft nichts mit der Welt außerhalb davon anzufangen. Sie befürchtete, niemand mehr zu sein, wenn sie diesen Schmerz verlor. Er machte sie immerhin noch zu einer Person. Sie kannte das Mädchen auf der anderen Seite der Trümmer nicht und wollte sie vielleicht auch gar nicht kennenlernen. Das war der falsche Weg, das sah sie durchaus ein. Aber die Sanduhr war schon lange abgelaufen.
Doch vor allem jetzt wollte sie nicht, dass die Bluemans es bemerkten. Sie waren mitunter die Rücksichtsvollsten, was Cordelias trauriges Lächeln und das ständige Schweigen betraf. Es gab Momente, da fand sie das schrecklich. Sie meinten es gut.

Sie meinten es alle gut.

Cordelia nahm sich ein Tuch, um sich den Mund abzutupfen. Mit dieser Geste, die am Tisch einer Bauernfamilie eindeutig zu vornehm wirkte, wollte sie sich zur Ordnung rufen und verhindern, dass jemand außer Eve bemerkte, wo ihre Gedanken hingen. Es sollte nicht länger nach außen dringen. Es durfte nicht länger nach außen dringen.
„Oliver, haben deine Eltern dir eigentlich schon von dem neuen Familienzuwachs erzählt?", fragte sie mit einem perfekt gemimten Lächeln und schaute ihn erwartungsvoll an. Ihre Stimme klang glücklicherweise fest und die Worte flogen sanft über den Tisch. Es gab keine Anzeichen dafür, dass sie eine schwere Bürde trugen.
Olivers Augen begannen zu strahlen. „Vater, du möchtest ein neues Pferd kaufen?"
Harry Blueman lehnte sich gemächlich in seinem Stuhl zurück und lachte auf. „Nein, mein Junge, dafür fehlt uns gerade das Geld. Geraldine würde mich einen Kopf kürzer machen, wenn ich noch eines herbringe."
„Oli ist doch mit den drei Rabauken schon völlig überfordert", sagte seine Frau tadelnd.
„Bin ich nicht", erwiderte Oliver, doch daraufhin schüttelte sie nur den Kopf. „Cordelia meint vermutlich den Jungen, der nächste Woche auf der Farm hilft."
„Der kleine freche John." Evangeline lächelte schief.
Oliver zog eine Schnute. „Ein kleines, freches Fohlen wäre mir auch lieb gewesen. Es kann genauso gut John heißen."
„Du wirst nochmal ein Pferd heiraten, mein Sohn." Geraldine sah ihn tadelnd an, doch um ihre Augen kringelten sich Lachfalten. Sie liebte Oliver als wäre er wirklich ihr Kind. Harry faltete die Hände über dem Bauch. „Würdest du nicht immer in den Wolken rumturnen, bräuchten wir keine Aushilfe. Und lass dem Burschen ein wenig Taschengeld. Kann er sich sparen für dunkle Zeiten."
„Harry, was du wieder redest." Geraldine schüttelte erneut den Kopf. „Immer kommen bei dir die dunklen Zeiten."
„Es wird Herbst, Liebste." Sein Blick wanderte aus dem Fenster, vor dem die Mädchen saßen. „Wer mit dunklen Zeiten rechnet, ist glücklicher über die guten."
Oliver tippte in einem nervtötenden Rhythmus mit der Kuchengabel gegen seinen Becher. „Ob man das Kind wohl gegen ein Fohlen eintauschen könnte?"
„Jetzt ist aber gut", rügte seine Mutter. „Du wirst die paar Tage wohl aushalten."
„Er soll mir bloß die Grasinspektion lassen", verlangte Oliver. „Die ist für so einen Drei-Käse-Hoch viel zu heikel."
„Na sicher", murrte Harry, „wenn er ein Drei-Käse-Hoch ist, was bist dann du?"
Oliver lächelte voller Stolz. „Natürlich ein Sechs-Käse-Hoch."
„Und was soll mal aus dir werden, du Grasinspekteur?", fragte Geraldine. Ihr Sohn neigte den Kopf und schien angestrengt zu überlegen. „Ich strebe natürlich an, zum Emmentaler zu reifen, aber so wie es bisher läuft, wird des wohl nur der Gouda."
Mrs Blueman gab ihm einen Klaps auf den Arm. Oliver lachte und sie versuchte sehr, ein Lächeln zu unterdrücken. Es gelang nicht.

Cordelia spürte einen Stich.

Sie erlaubte sich eigentlich nicht, eifersüchtig zu sein. Sie versuchte immer so gut wie möglich, die Tatsache vor Augen zu haben und sich bewusst zu sein, dass sie nicht zu ändern waren. Oliver hatte eine Familie. Sie hatte keine Familie. Doch manchmal schlichen sich diese Gedanken in ihren Kopf. Schwache, dumme Gedanken.

Warum hat er eine zweite Chance erhalten?

Oliver war wahrscheinlich genauso ein Waisenkind wie sie und doch teilten sie in keiner Weise das gleiche Schicksal. Er hatte vielleicht im gleichen Meer getrieben wie sie, ohne Boot und maximal einer maroden Planke, die aus seinem frechen Humor gezimmert war. Er war gesehen und gerettet worden. Jemand hatte ihn aus den Fluten gezogen, ihn trockengerieben und eine Kerze entzündet.

Cordelia war auf dem besten Weg, zu ertrinken.

Doch sie sah durchaus ein, dass das ihre eigene Schuld war. Manchmal glaubte sie, jede ausgestreckte Hand mit Absicht fortzuschlagen. Sie zerriss jede wärmende Decke, brachte jeden Docht zum Erkalten. Sie gab sich ganz gern die Schuld, vor allem, weil sich so die Eifersucht gut vertreiben ließ. Und wenn die Eifersucht nicht flüsterte, dann flüsterte das Unglück. Und wenn das Unglück nicht flüsterte, dann flüsterte die Schuld. Irgendetwas flüsterte immer.

Sie sah auf ihren leeren Teller.
Sei doch nicht so undankbar.

Sie stand morgens vor dem kleinen Spiegel.
Du solltest wirklich mehr lächeln.

Sie sah Eve die Straße hinunterhüpfen, nachdem sie sich verabschiedet hatten.
Sie gibt sich so viel Mühe und was tust du?

Sie gaben sich alle Mühe und das wusste Cordelia. Doch sie wusste oft einfach nichts damit anzufangen. Sie ertrug es einfach nicht, wie sie angeschaut wurde, wenn sie von der Tragödie sprach. Immer schon seit fünf Jahren las sie in den Augen der anderen das Gleiche. Unverständnis, weil sie selbst so einen Schmerz nicht kannten; Mitleid, weil sie es nicht ändern konnten und seit ein paar Monaten blitzte darin auch Resignation auf und verdrängte immer mehr das andere. Cordelia war eine Schonfrist von einigen Jahren gewährt worden, doch nun wollte es niemand mehr hören. Sie nahm es ihnen wirklich nicht übel, denn sie selbst war es ja auch leid. Es ging nicht zu ändern, wie sehr sich das trauernde Kind in ihr auch danach sehnte. Nun war sie kein Kind mehr.

Sie lächelte den ganzen Nachmittag lang und wich Evangelines skeptischen Blicken aus. Beides war irgendwann so anstrengend, dass sie sehr müde wurde. Cordelia kämpfte dagegen an, doch mit der Zeit saß sie in einer Kugel aus Gedanken und hörte die Stimmen der anderen nur noch gedämpft. Als sie an diesem Sonntag aufgewacht war, hätte sie nicht erwartet, dass er sich so entwickeln würde. Sie hatte gehofft, dass die Ranken des Trübsinns sie nicht so unbeugsam fesseln würden. Ihr waren Tage wie diese bekannt, an denen das Gewicht ihrer Kleidung sie noch tiefer in den schwarzen Ozean zu ziehen schien. Cordelia hatte sich mit der Zeit an sie gewöhnt, vor allem durch die völlige Kapitulation gegenüber dem Unglück. Vielleicht hatte sie in einer sehr verweinten Nacht beschlossen, nie wieder vollkommen glücklich zu sein. Nicht in dieser Welt.
Leider waren diese Tage inzwischen zu etwas Schrecklicherem mutiert. Zuerst hatten sie Cordelia in tiefe Trauer gestürzt und auch, wenn das keiner, der nie darüber hinausgekommen war, glauben würde – dagegen gab es durchaus die ein oder anderen Mittel zur Linderung. Sie hatte sie oft tapfer durchgestanden und sich vor allem von Eve und Oliver dabei helfen lassen. Nun viel ihr immer mehr auf, dass das Leuchten ihrer Freunde sie nach und nach weniger erreichte. Ein Nebel umschloss sie und verdeckte zunehmend das rettende Licht des Leuchtturms. Cordelia war nicht mehr nur traurig in den Weiten der Fluten, sondern auch hoffnungslos. Sie suchte nicht mehr nach Holzplanken zum Hinaufziehen oder hielt Ausschau nach fester Erde. Nein, sie trieb weiter und weiter dem Untergang entgegen. Und manchmal, wenn das Licht sie doch noch erreichte, dann schloss sie einfach die Augen. Doch das hatte einen Grund. Einen Grund, der so unbegreiflich wie unaussprechbar war. Cordelia schloss die Augen, so wie sie es damals zwischen den Flammen getan hatte.

Denn damals hatte sie dabei etwas gesehen.

Von den Bluemans verabschiedete sich eine andere Cordelia. Eine, die mechanisch lächelte und wirkte, als würde sie zum Hügelhaus zurückkehren, das elegant und hübsch auf sie wartete. Hinter dieser Cordelia stand die wahre Cordelia, die sich ergeben von der Hoffnungslosigkeit zerfressen ließ. Im Grunde war die Hoffnungslosigkeit ein hartnäckiger Holzwurm, der von dem armen Kleiderschrank in ihrem Turm vor lauter Langeweile auf sie übergesprungen war. Manchmal sah sie das arme, graue Ding an und tröstete sich damit, dass zumindest dieses jetzt ein wenig glücklicher war. Unterdessen trank das Unglück mit der Hoffnungslosigkeit Tee.

Evangeline und sie wanderten über den Pfad zurück zum Kreuzbrunnen. Es war ein sehr schöner Tag gewesen. Mit Freunden und mit Kuchen. Mit Lachen und mit Liebe. Warum also brannte Cordelias Inneres vor Schmerz? Warum war sie immer weniger dazu fähig, es zu verbergen?
Warum schien sie nach fünf Jahren immer noch genau an der gleichen Stelle zu stehen?

Etwas abseits von dem Feenhaus blieben sie unerwartet stehen. Bisher waren sie den Weg schweigend gegangen. Evangeline sah die bedrohliche Villa auf seltsam sehnsüchtige Weise an und seufzte. Es war ein sehr schreckliches Seufzen. Die Art, die man mit Kummer und den Worten „Es ist nicht zu ändern" in Verbindung bringt.
Eve hatte die Fähigkeit, anders zu fühlen. Das war den Mädchen schon früh aufgefallen. Sie nahm viel feiner die Gefühle von anderen wahr. Sie konnte sie in die Hände nehmen, um ihre Finger wickeln und daraus einen Pullover häkeln. Sie fühlte unfassbar tief und es kam nicht selten vor, dass sie darum schneller anfing zu weinen. Denn Eve wusste nicht nur, was in dem anderen vor sich ging, sondern nahm seine Empfindungen gleichzeitig auf. Sie fühlte, was ihr gegenüber fühlte. Wenn ihr jemand unter Tränen erzählen würde, dass seine Tante gestorben sei, würde sie sofort glauben, es handle sich um ihre Tante. Cordelia wusste, dass Eve diese Eigenart nicht wirklich mochte. Es erschien ihr sehr heuchlerisch, Dinge zu betrauern, die sie eigentlich gar nicht betrafen. Inzwischen hatte sie auf ihre eigene Weise gelernt, damit umzugehen. Sie schaffte es recht gut, sich von den Leben und Leiden anderer zu distanzieren, aber häufig wurde sie dennoch mitgerissen. Vor allem bei Menschen, die ihr am Herzen lagen.

Cordelia betrachtete Evangeline, wie sie so im leichten Herbstwind stand, die Augen schillernd von Tränen, die ihr nicht zustanden. Sofort überkam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie wusste, dass sie ihrer Freundin ein Bild gesandt hatte. Ein Bild von dem dunklen Sturm und dem schwarzen Meer, in denen sie hin und her geworfen wurde. Eve sah von oben dabei zu und war gleichzeitig Gefangene der Fluten. Als würden Cordelia und sie Bäumchen wechsle dich spielen.
Betreten stand sie da, suchte nach Worten, nach einer Entschuldigung. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als wäre es ihre Lieblingsbeschäftigung, strahlend schöne Sonntage zu ruinieren. Cordelia wusste, dass Eve das wusste, dass sie es verstand, dass sie ihr nie Vorwürfe machen würde, dass sie den Tag dennoch genossen hatte und dass alles gut sei. Aber das machte es einfach nichts besser. Das schlechte Gewissen bat die Hoffnungslosigkeit um einen Keks.
Erneut seufzte Eve und dann lächelte sie. Es war nicht gestellt oder erzwungen, es war ein ganz natürliches Evelächeln. Sie hatte es nur für Cordelia ausgepackt. Und das Blau ihrer Augen glomm ein wenig auf, doch das Leuchten blieb aus.
„Tee. Tee und ein gutes Buch", sagte sie und nickte dabei zufrieden.
„Das brauchst du heute Abend?" Cordelia legte verwirrt den Kopf schief.
„Nein. Oder mal sehen, aber erstmal reicht die Vorstellung davon", erwiderte ihre Freundin und sah aus, als würden ihre Worte sich von selbst erklären. Als Cordelia trotzdem noch ziemlich verständnislos dreinschaute, wurde Eve ausführlicher.
„Bei Trübsinn denke ich an etwas Schönes. Etwas, das ich mit einem guten Gefühl verbinde." Sie fuhr sich durchs Haar und legte es sich über die Schulter. „Du könntest es auch versuchen. Nimm dir irgendeine Erinnerung und schau sie dir an." Eve schloss die Augen. „Ich stelle mir die Situation so intensiv vor, dass ich den Geschmack von Waldbeeren auf der Zunge habe, der Dampf des Tees mich umhüllt und ich das Blättern der Seiten hören kann." Im nächsten Moment öffnete sie lächelnd die Augen. „Das beruhigt mich. Gerade ist mein Inneres etwas aufgewühlt wie bei einer geschüttelten Schneekugel. Du könntest auch versuchen, deine Flocken etwas zu beruhigen, Deli."
Cordelia zuckte müde die Schultern. Sie hielt es für eine unnötige Anstrengung, den dichten Nebel in ihrem Kopf allein durch eine schöne Erinnerung zu lichten. Das war doch zu einfach. Außerdem hatte sie so schon Kopfschmerzen. Doch als sie sah, wie die Hoffnung in Evangelines Gesicht brach, die Erwartung in ihren Augen verschwand, die Brauen sich ein Stück zusammenzogen, da tat es ihr schrecklich leid.
„Dir zu liebe", sagte Cordelia und seufzte. Das schlechte Gewissen boxte ihr böswillig in die Magengrube.
Sie musste in den Gängen ihres Geistes auf die Suche gehen. Natürlich gab es dort schöne Erinnerungen, doch die meisten waren angekokelt, andere vom Unglück schwarz verfärbt und so manche hatte einen Wasserschaden erlitten. Einige Rahmen waren inzwischen vollkommen leer.
Natürlich konnte sie sich jene Bilder mit rußgefärbten Rändern anschauen, doch diese würden wohl kaum dem Sinn der Sache dienen. Wenn man mal ehrlich war, verursachten diese Erinnerungen nur noch mehr schmerzhaften Nebel. Nein, Cordelia braucht eine Erinnerung, in der sie – und wenn auch nur für wenige Sekunden – glücklich gewesen war. Auf ihrer Suche kam sie an einer schneeweißen Tür vorbei, die einen Spalt breit offenstand. Asche schien daraus hervorzustieben. Sie war versucht, den Raum dahinter zu betreten, denn er erfüllte die Bedingung des Glückes durchaus, aber auch hinter dieser Tür lag ein gewisser Schmerz in den Wänden.
„Es ist ganz schwer." Sie seufzte und schüttelte leicht den Kopf.
„Es kann etwas ganz Kleines sein", ermutigte Eve sie ganz sanft. Zwischen ihren Worten schwang ein „In Ordnung, wenn du es nicht schaffst" mit.
Und dann stand Cordelia plötzlich vor einer Erinnerung mit Holzrahmen, in den Pferde geschnitzt waren. Das Ölgemälde zeigte sie im letzten Sommer auf einem Hügel mit gelbem Gras, hinter ihr die hübsche Moon. Neben ihr saß Oliver und biss gerade in einen Apfel. Er grinste dabei auf seine schelmische Art und sah sehr jung aus. Zumindest war er seitdem rasant gewachsen und war im Allgemeinen... Cordelia legte vor der Erinnerung den Kopf schief und wusste es nicht ganz zu benennen. Dort sah Oliver aus wie ein Kind und aus irgendeinem Grund konnte sie das nicht mit dem Jungen vereinbaren, der heute neben ihr auf der Schlossterrasse gelegen hatte.
An diesen warmen Nachmittag hatte sie wirklich lange nicht mehr gedacht. Evangeline hatte aufgrund der Sommergrippe leider zuhause das Bett hüten müssen und so waren Cordelia und Oliver alleine mit den Pferden losgezogen.

In Evangelines Augen schien ein ganzer Regenbogen zu strahlen, als ihre Freundin sie anlächelte. Cordelia war selbst überrascht wie einfach es war. Dem Unglück würde wahrscheinlich vor Schreck die Teetasse aus den Klauen fallen.
In diesem Moment schwang die weiße Tür von selbst auf und die Asche regnete auf sie herab. Cordelia verlor das Lächeln und starrte in den Raum, dessen Inneres ganz aus Silber zu bestehen schien.

Warum hatte sie ihn nicht fest verschlossen?

Sie streckte die Hand aus, wusste, dass das falsch war. Sie sehnte sich zwar in jeder Minute nach dieser Erinnerung, doch sie musste das Verlangen so gut wie möglich unterdrücken. Es war kaum eine Woche her...
Doch was spielte das für eine Rolle?

Die junge Frau stand da, eine Hand an die Brust gezogen, den Blick am Feenhaus zum Wald gerichtet.
„Ich möchte noch spazieren gehen." Ihre Stimme war belegt und sie war sich nicht sicher, ob sie es war, die sprach. Es war ganz klar, dass sie log. Es war ein äußerst schweres Unterfangen, seine engste Vertraute anzulügen, ohne dass diese etwas bemerkte. Doch in diesem Punkt duldete Eve das Lügen. Das Geheimnis.
Ihre Gedanken flogen in den Raum aus Silber. Evangeline seufzte, sah ebenfalls zum entfernten Waldrand und lächelte. „Sei vor dem Einbruch der Nacht zurück, ja?"
Cordelia war überrascht, dass ihre Freundin ihr nicht anbot, mitzukommen. Wusste sie, dass sie im Begriff war, einen Weg zu gehen, auf dem sie ihr nicht folgen konnte?
„Möchtest du mich denn nicht aufhalten?"
„Von einem Spaziergang?" Eve schmunzelte. Cordelia öffnete den Mund, schloss ihn kurz darauf aber wieder. Was sollte sie auch sagen? Ihr Blick wanderte zu ihren Füßen, weil sie diesem aufrichtigen und strahlenden Mädchen nicht in die Augen schauen konnte.
„Warte nicht auf mich", murmelte Cordelia und löste in diesem Moment ihren Pferdeschwanz.
„Finster wars, der Mond schien helle...", sagte Evangeline und sah zum Himmel. Allerdings war dieser weder finster, noch war der Mond zu sehen. Dann schaute sie zu Cordelia, überbrückte die wenigen Schritte zwischen ihnen und nahm ihre Hände. „Erinnerst du dich an das Gedicht?"
„Schon", erwiderte ihre Freundin etwas verwirrt. „Ich denke, ich würde es mit ein paar Anläufen zusammen bekommen."
„Dann sag es auf", meinte Eve, „vor dem Schlafengehen. Sag es auf wie ein Gebet."
„Warum?"
„Der Gedanke kam so über mich. Ich weiß nicht, warum ich dich darum bitte, aber vielleicht verwirrt es die Dämonen in dir." Sie lächelte. „Wie ein Zauberspruch."
„Denkst du, der heilige Henry vollbringt, was Gott nicht schafft?", fragte Cordelia belustigt.
„Weißt du's?" Evangeline grinste.

Dann verabschiedeten die beiden sich. Eve lief am Kreuzbrunnen vorbei in Richtung der Oststraße. Cordelia sah ihr nach und kämpfte mit sich. Sie könnte ihr hinterher. Sie könnte versuchen, es zu schaffen. Wie sollte sie wissen, dass es nicht besser werden konnte, wenn sie es nie versuchte?
Doch es war wie mit einem, der das Rauchen aufgeben wollte und die Pfeife dann auf dem Tisch liegen sah.
Nur noch ein letztes Mal.

Cordelia wusste nicht, wie spät es war, doch offenbar spät genug, damit der Himmel langsam dunkelblau wurde. Es würde zwar noch ein Weilchen dauern bis er von Nacht überzogen war, doch sie sollte nicht trödeln. Sie glaubte zwar nicht wirklich daran, es unbemerkt zurückzuschaffen, doch eine gewisse Hoffnung hegte sie dennoch. Es musste nicht jedes Mal so ein Aufsehen erregen, nicht noch ein Grund, um die Gerüchte anzufachen.
Es würde viel mehr wirken, wenn sie das Risiko erst gar nicht einging. Doch diesen Gedanken schob Cordelia leichthin zur Seite, weil die Sehnsucht in ihr bereits zu stark brannte. Es war keine liebreizende Sehnsucht wie jene nach den ersten Frühlingsknospen oder dem nächsten Treffen mit der Liebsten. Es war eine ganz und gar verzehrende Sehnsucht, beinahe eine Sucht. Die Sucht nach dem Unbegreiflichen, das vermutlich nicht mal die träumende Evangeline verstehen konnte. Warum sollte sie auch, es war Cordelias Geheimnis. Dieses eine Stück, auch wenn es noch so unmöglich erschien, sollte allein ihres sein.
Am Waldrand, zu dem sie die letzten Meter geeilt war, legte sie eine Hand an die Rinde einer Lärche und drehte sich um. Hier kam sie sich weit entfernt vor von Emeraldmoor. Das wundersame Städtlein thronte da auf seinem Hügel vor der herannahenden Abenddämmerung und sah zu hübsch aus, um tiefschürfende Wunden zu haben. Doch die Bewohner kannten die kaum verheilten Narben, liefen an ihnen vorüber oder blieben stehen, um sich aus weiter Ferne an sie zu erinnern.

Die Hügelruine war eine Wunde.

Das Feenhaus war eine Wunde.

Fogstone war eine Wunde.

Cordelia fragte sich, welche von ihnen noch bluteten. Oder ob Emeraldmoor den Schmerz, den diese Orte verursachten, auf Menschen übertragen konnte. Sie dachte an Oliver, der gehört hatte, jemand würde auf die Nebelburg ziehen und schüttelte unwillig den Kopf. Allein die Vorstellung war absurd. Genauso verstörend fände sie es, wenn jemand die Ruinen wieder in etwas Prachtvolles verwandeln würde. So sehr sie der Gedanke an sie auch verdarb, noch mehr würde es schmerzen, sie verschwinden zu sehen.
Im nächsten Moment tauchte das Mädchen in die Schatten des Waldes, ließ die Hügelstadt zurück auf ihrem Thron.

Zu oft waren Cordelia, Eve und Oliver gemeinsam durch diesen Teil der Insel gestreunt, als dass sie Angst haben könnte. Eigentlich handelte es sie bei den Nadel- und Laubbäumen, den Stöcken und Steinen und dem Zwitschern von Vögeln um gute Freunde. Wie Lady Willow immer schon sagte, war die Natur eine überaus heilsame Kraft. Auch sie besaß ein sonnenhaftes Leuchten, stärker als alles, was ein Mensch an sich haben konnte. Cordelia liebte den Emeraldwood mit all seinen unglaublichen Wundern. So hatten die drei kurz nach dem Schluss ihrer Freundschaft ihren geheimsten Platz entdeckt, tief in dem Moor, das der Stadt und dem Wald ihre Namen gab.

Cordelia folgte ein Stück dem Waldweg, ehe sie in das Unterholz abbog. Man konnte kaum von einem Trampelpfad sprechen, eher von einem schmalen Band, das der Wald selbst für Wanderer angelegt hatte. Je weiter man ihm folgte, desto dichter wurden die Baumkronen, undurchdringlicher das Gesträuch auf beiden Seiten. Hier und da zogen Dornen an Cordelias Kleid, als sie ungewöhnlich schnell durch die Gasse lief. Vielleicht hatte diese sich auch nur für ihr Unterfangen aufgetan.

Ein entsetzliches Unterfangen.

Doch Cordelia dachte schon längst nicht mehr darüber nach. Sie hatte es nun schon so oft getan, dass jegliche Zweifel erfolglos an ihr abprallten. Eigentlich konnte sie sich nicht einmal vorstellen, ohne zu leben.
Es ist doch nur schlafen, dachte sie jedes Mal, wenn sie es doch aus Versehen in Frage stellte. Was nicht daran lag, dass sie es verwerflich fand, sondern dass sie es schlichtweg nicht verstand. Allerdings war es auch nicht dafür gemacht, verstanden zu werden. Doch es war des Menschen Fluch, alles erklären zu wollen und an dem, was nicht erklärt werden wollte, biss er sich dann die Zähne aus.
Cordelia traf auf einen Bach, der eifrig vor sich hinplätscherte. Sie folgte seinem Lauf auf einem schmalen Stück Gras und Laub zwischen Uferböschung und Bäumen. Hier und da musste sie sich wirklich sehr darauf konzentrieren, nicht in das Wasser zu rutschen. Was absurd war, wenn man bedachte, was sie im Begriff war, zu tun.
Hinter einer Kurve wurde der Bach doppelt so breit und jagte hier an runden Steinen vorbei. Es war ein idyllisches Bild und hätte jedem Künstler als Muse gedient. Und die Geschichte, die sich dort zutrug, hätte jedem Dichter die Feder von selbst in die Hand gelegt. Cordelia war müde vom Tag, erschöpft wegen der vielen Kämpfe in ihrem Geist. Sie schlüpfte aus ihren Stiefeln, schaute sich prüfend um und stieg dann in das eiskalte Wasser. Es reichte ihr einige Zentimeter über die Knöchel und war eiskalt. Zwar schauderte sie, zuckte jedoch nicht zurück. Als sie sich weiter in den Bach sinken lassen wollte, blitzte plötzlich ein Bild vor ihrem inneren Auge auf. Erneut die Erinnerung mit dem geschnitzten Holzrahmen. Cordelia zögerte. Doch als schwarze Ascheflöckchen an dem Bild vorbeiwirbelten, wurde ihr Entschluss wieder fester. Sie schob Oliver, Moon und das sonnengelbe Gras von sich und stellte sich etwas anderes vor. Währenddessen sank sie in den Bach, legte sich ganz hinein und zwang ihre Glieder, die Kälte zu empfangen. An ihr vorbei trieben rote und gelbe Laubblätter. Über ihr gaben ein paar Löcher im Blattwerk den Blick auf den Himmel frei. Cordelias rotes Haar breitete sich in der sanften Strömung aus. Sie war ganz ruhig und friedlich. Ihre Gedanken standen vollkommen still. Und was konnte man schon vermuten, was sie da tat? Warum war sie gekommen, hatte sich in einer völlig unpassenden Jahreszeit in einen Bach gelegt und die Augen geschlossen?

Es ist doch nur schlafen, dachte sie.

Und doch war es Sterben.

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