
24. Kapitel - Der Junge, der damals aus dem Wald kam
Später am Tag lehnte Eve an dem Zaun der Schule und wartete auf ihre Freunde. Nach wie vor war sie bedrückt und hing düsteren Gedanken nach. Wollte nicht an die mysteriöse Fremde denken und tat doch nichts anderes.
Da ertönte die Glocke, die das Ende des Unterrichts ankündigte und riss die Träumerin weg von den wechselfarbigen Augen. Nur Momente später strömten Schüler aus dem Gebäude, unter ihnen auch Oliver und Cordelia. Die zwei grinsten, als sie sie sahen.
„Wir haben dich heute vermisst." Oliver berührte Eve leicht am Arm.
„Mrs Springston war untröstlich", fügte Cordelia hinzu.
Tratschende Kinder zogen an ihnen vorbei.
Eve gab ihre Lümmelstellung am Zaun auf und grinste schief. „Mr Greyshire doch hoffentlich auch."
„Ist in Tränen ausgebrochen", bestätigte Oliver und nickte ernst. Cordelia stieß ihm in die Seite. „Kaum zu glauben, aber neuerdings mögen sich die beiden anscheinend."
„Lüge", sagte Oliver.
„Nein, wirklich", ereiferte sich Cordelia, „die sind so gut wie verlobt."
Es war sehr schön, sie so ausgelassen zu erleben. Ein Mädchen, dem Eve in den letzten Jahren noch nie begegnet war.
Oliver verdrehte die Augen. „Wir haben etwas unsere Differenzen niedergelegt, mehr nicht."
Eve zuckte mit den Schultern. „Da gab es nie welche, ihr beide liebt Mathe und Pferde."
Sie klang unbeabsichtigt angespannter als geplant und auch ihre verschränkten Arme fielen ihren Freunden auf. So unterließ es Oliver, wegen dieser scheinbar aus der Luft gegriffenen Annahme nachzuhaken und legte nur den Kopf schief. „Was war denn heute überhaupt los?"
Evangeline seufzte. Es war ein langes, schweres Seufzen. Ihr Blick wanderte zum Himmel, der in sein gewöhnliches Grau gekleidet war und nun fürchtete sie sich vor der Sonne.
„Irgendwie ist das eine sehr eigenartige Geschichte."
Ihre Freundin setzte ein leicht besorgtes Gesicht auf. „Lasst uns ein Stück gehen." Behutsam löste sie Eves verkrampfte Haltung und führte sie auf den Gehweg. Oliver folgte. „Also seltsamer als eine Schallplatte in Form von russischen Soldaten ist ja wohl kaum möglich."
Eve sah sich gründlich um, bevor sie zu Sprechen begann. Etwas, was vorher noch nie nötig gewesen war, wenn es um die Reimwelt ging. Cordelia und Oliver – als hätten sie eine Ahnung – drängten sich näher an sie heran.
„Meine Mutter wollte in die Hafenstadt", begann Eve dünn, unsicher ob sie sich wirklich zurückerinnern wollte. Ihr Herz wünschte sich, sie wären nie aufgebrochen und hätten Emeraldmoor verlassen.
„Ein ziemlich verfluchter Ort, wenn ihr mich fragt", fuhr sie nach kurzem Zögern fort.
„Oh." Cordelia klang bedauernd.
„Viele Menschen, die zu sehr mich sich selbst beschäftigt sind." Eve dachte an das viele Grau, das sie hatte ersticken wollen. Wie lange hatte sie wohl geglaubt, sie müsste sterben?
Ihre seltsamen Pausen schienen ihre Begleiter nicht zu stören, vielmehr wurden ihre Mienen nur noch bedrückter. Evangeline sah sie jedoch nicht so recht, denn ihr Geist war wieder in der Menge und streckte sich nach wundersamen grünblauen Augen aus.
„Stellt euch einfach vor..." Eves Blick fiel auf ein paar weiße Raben, die auf einem Dach saßen. „Stellt euch einfach vor, ihr wärt weiße Federn und plötzlich werdet ihr in einen Haufen schwarzer geworfen und seid ganz allein."
„Und ertrinkt", schlussfolgerte Oliver. Das war mit Abstand die dramatischste Ausführung eines Tagesausflugs, den er kannte. Und er kannte sich selbst.
Evangeline nickte ganz leicht und rettete sich wieder in diese gottverlassene Gasse.
Cordelia musste irgendetwas in ihrem Blick gesehen haben. „Aber du hast eine andere weiße Feder gesehen."
Als Eve darauf erstmal nicht antwortete, aber eindeutig irgendeine Bestätigung gegeben haben musste, seufzte sie. „Das klingt beinahe romantisch."
Sowohl Oliver als auch Eve warfen ihr einen bestürzten Blick zu, als wäre das die letzte Assoziation, die ihnen eingefallen wäre. Sie verdrehte die Augen. „Ihr habt auch keinen Sinn für sowas."
„Amalia ist keine Feder", protestierte Oliver. Es herrschte kurz Stille, in denen sich die beiden wie immer giftig anschauten. Doch in Eves Ohren hallten diese vier Worte seltsam nach. Verknüpften sich mit den Federn, die sie ihren Freunden erst vor wenigen Tagen in die Hand gedrückt hatte. Olivers Fähigkeiten, anderer Seelen zu sehen, die Tatsache, dass Amalia ein Geist war...
Prüfend warf sie Oliver einen Blick zu, unter dem er erstarrte.
„Sie nicht", schlussfolgerte sie, „aber du."
Wie ein Ertappter blickte er ihr entgegen, die braunen Augen loderten kurz protestierend auf, doch er schloss sie, das Feuer unterbindend.
Oliver seufzte lang und als er die Augen wieder öffnete, sah er auf einmal merkwürdig anders aus. Was würde es auch bringen, die besten Freunde zu belügen.
Cordelia war neben Eve gerückt und musterte ihn verwirrt.
Ein unerwarteter Streifen Licht brach zwischen sie, der Himmel riss entzwei für ein überraschend frohes Herbstwetter.
Leid durchfuhr Eve wie eine dünne Klinge und sie wollte vor dem Leuchten zurückweichen.
„Wo ist denn Sphinx?", fragte Cordelia, als einzige nicht ganz gepackt von der plötzlichen Spannung. Sie sah erst sich um und dann Eve an. „Hast du ihn zurückgebracht?"
Evangeline seufzte, entließ Oliver ihrem Klammergriff und fuhr fort, von ihrem Vormittag zu erzählen.
Irgendwann saßen die drei dann auf Mr Andersons Bank, weil er dort nicht saß. Die Sonne gab einen trügerisch glücklichen Tag vor, doch die Freunde hüllten sich in schmerzerfüllte Schatten, die hauptsächlich von Oliver auszugehen schienen.
Cordelia hatte sämtliche Fragen zu der Fremden, die Eve wie ein Wunder beschrieben hatte, doch sie schwieg und beobachtete nur, wie Eve im Begriff war, sich mit Olivers Kolibri anzulegen.
„Müssen wir jetzt warten, bis du dich auch vom schwarzen Steig stürzt?", keifte sie herausfordernd. Statt sich in einen sinnlosen Streit zu stürzen, hob Oliver schlichtend die Hände. „Halt die Hufe still." Er stieß Luft aus und mit ihr tausend ungesagte Worte. „Undina muss dir ja richtig den Kopf verdreht haben."
„Du kennst sie also."
„Natürlich kenne ich sie, wir weiße Federn stammen doch alle vom gleichen Raben." Oliver neigte den Kopf und durchbohrte Eve. „Außer du. Du bist abtrünnig."
Sie verengte die Augen zu Schlitzen. „Zum Glück, sonst würde ich ja die Kunst anderer stehlen."
„Ich habe nie versucht, sie zu stehlen."
„Aber du hast nach ihr gegriffen", spuckte Eve aus, als wäre Oliver jener, der sie beraubt hatte.
„Da war ich ein Kind, das nicht wusste, was es tat. Ein Wunder, dass es sie nicht umgebracht hat, deine Kunst ist eiskalt."
„Und deine ist tot."
Der Streit wäre sicherlich noch ausgeartet, so hätte Eve vielleicht Raben auf Oliver gehetzt und er hätte ihre Seele zu einer Bretzel geknotet – wenn da nicht die endlos vernünftige Cordelia gewesen wäre.
„Entschuldigung!", stob sie feurig zwischen die beiden. Augenblicklich verstummten beide und sahen sie an wie verschreckte Rehe.
Cordelia faltete die Hände wie zum Gebet und atmete tief durch.
„Schön, dass euch jetzt aufgegangen ist, dass ich auch hier bin." Ihre Augen durchbohrten Eve und Oliver wie grüne Pfeile.
„Jetzt mal ehrlich, wie lange kennen wir uns schon? Werft ihr jetzt fünf Jahre Freundschaft über Bord, nur wegen irgendeiner alten Bekannten von Oliver?"
Evangeline schnaubte. „Sie hat die Sonne gestohlen!"
„Aber du bist der Mond", erwiderte Cordelia fahrig, „es wird dich nicht umbringen. Mal davon abgesehen wird Oliver ihr ja kaum gesagt haben, das zu tun."
Die Träumerin murrte leise, gab einen weiteren Angriff jedoch auf. Nun wandte Cordelia sich an den Lockenkopf, in dessen Augen sich die Vergangenheit aufbäumte.
„Vielleicht wäre es jetzt ja mal an der Zeit, Klartext zu sprechen. Einmal in eurem gesamten Leben."
Es war ihm anzusehen, dass er kurz davor war, dicht zu machen. Weiter die Augen zu verschließen und sich wie ein Kind zu verstecken. Eventuell wäre Oliver sogar aufgesprungen und wieder gerannt bis er umkippte. Aber nach fünf Jahren brachte er das einfach nicht fertig.
Die Mädchen schwiegen und gaben ihm Zeit, seinen Kolibri – oder was auch immer es für ein Vogel sein mochte – sanft aus seinem Kästchen zu heben und endlich fliegen zu lassen.
Der Tag war zu schön für Schauergeschichten.
„Meine Oma hat uns die Geschichte unserer Gruppe oft erzählt. Sie war nicht meine echte Oma, aber das spielte bei uns keine Rolle. Wir Kinder waren Geschwister, zumindest jene, die überlebten und die Erwachsenen waren alle wie unsere Eltern. Zumal viele von uns ihre eigenen schon zeitig verloren." Oliver lachte traurig. „Wisst ihr, es klang immer wie ein Märchen."
Eve beobachtete wie tiefer Schmerz in ihrem Freund aufblühte. Schmerz, der sicher vorher schon da gewesen und tapfer von ihm versteckt worden war.
Der Lockenkopf räusperte sich, schloss die Augen und erzählte ihnen ein Märchen.
„Es war einmal eine kleine Familie, Mutter, Vater, Kind. Sie hatten nicht viel, doch sie waren glücklich. Lebten im kleinen Vorort einer großen Stadt mit kleinem Gärtchen für den Jungen zum Spielen und viel Platz zum Träumen. Doch das Geld war immerzu knapp und die Sorgen wuchsen ihnen irgendwann über den Kopf. Gut gelegen kam zu der Zeit ein Freund, der von den Wundern der Stadt erzählte, wo es zu dieser Zeit viele Menschen hinzog. Arbeitsplätze im Überfluss, für Frau und Kind wäre in jedem Fall gesorgt.
Das klang so zauberhaft, dass sie schon bald entschieden, ihr kleines Haus zu verkaufen und in der Stadt das Glück zu finden. Nur gab es dort kein Glück. Wie viele andere vor ihnen strandete unsere kleine Familie in verregneten, dreckigen Straßen und mussten auf zwielichtige Gestalten vertrauen. Sie hatten Geschichten über andere Städte gehört, mit großen Namen und vielen Chancen, doch diese war keine von ihnen. Sie flüchteten in eine viel zu kleine Wohnung ohne Gärtchen für den Jungen zum Spielen und erst recht ohne Platz zum Träumen. Der Vater fand Arbeit in einer schrecklichen Fabrik, wo ihm der Rauch die Sinne vernebelte und er bald schon seinen eigenen Namen vergaß.
So lebten sie bis zum sechsten Jahr des Sohnes, der nicht mehr schlief und seine Eltern zusätzlich in die Verzweiflung trieben. Kaum zwei Tage vergingen nach seinem Geburtstag und seine Mutter, die schon lange Blut gespuckt hatte, verstarb.
Der Vater war untröstlich, entschied schon fast, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Doch da trat sein kleiner Sohn an ihn heran, mit leuchtenden Augen und sprach von einem Traum, den er gehabt hatte. In jenem hätten sie an einem Ort gelebt, der so klar war wie ein zugefrorener See, so rein wie ein schlafendes Baby und so blau wie ein winterlicher Himmel.
Sie begruben die geliebte Mutter in der Nähe ihres alten Heimes und versprachen ihr, diese wundersame Welt zu finden, die sie ihnen in jener Nacht gesandt hatte. Vater und Sohn zogen von Haus zu Haus, Wohnung zu Wohnung und verbreiteten die Kunde. Hoffnung wuchs zart in der Dunkelheit heran und so entstand eine kleine Gruppe entschlossener Menschen, auf der Suche nach einem sicheren Ort für ihre Kinder.
Und genau darum seid ihr hier, meine Kleinen. Ihr seid die Kinder, die diese Welt für uns finden werden."
So endete das Märchen, wirbelte nun stetig in Olivers Miene. Er schaute wehleidig ins Nichts, stand einen Schmerz aus, der Emeraldmoor hätte erdrücken können.
Eve und Cordelia gaben ihm alle Zeit der Welt, hielten ihre Neugierde so gut es ging im Zaum.
Offenbar wollte ihr Freund fortfahren, doch da erklang plötzlich Flötenmusik. Eve horchte auf und auch Oliver wandte den Kopf in die Richtung, aus der die fröhlichen Töne zu kommen schienen. Nur Cordelia sah dabei etwas ratlos zu.
„Was habt ihr denn auf einmal?"
„Diese Musik...", hauchte die Träumerin und sah sie an. „Kannst du sie nicht hören?"
Eindeutig konnte Cordelia die Klänge bei ihrem Gesichtsausdruck nicht sehen. Sie musste ihre Freunde für wahnsinnig halten.
„Das ist die Flöte von gestern", sagte Eve.
„Das ist Riku", sagte Oliver.
Dann stand er auf und lief los. Die Mädchen schauten einander an und die Träumerin seufzte.
„Jetzt wird die Sache wohl kompliziert."
Auf dem Weg zum Stadttor begann Cordelia auch, die Flöte zu hören. Sie teilte Eve im Laufen mit, dass es jene war, die sie bei der Verabschiedung ihrer Eltern gehört hatte. Eve war das ebenfalls aufgefallen und so kehrte sie wieder zurück zum Vortag, als alle so erstaunt hinaufgeblickt hatten zu dem Jungen und dem Mädchen. Das Mädchen, das seine Augenfarbe wechselte und Gedichte stehlen konnte. Ein klein wenig hoffte die Träumerin, sie wieder zusammen anzutreffen, in die blauen oder goldenen Iriden zu blicken und Sphinx zurückzufordern. Doch von Oliver ging eine spürbare Hoffnung aus, welche Eve hemmte. Sie räumte ein, dass es sich irgendwie um ein Missverständnis handelte, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass böse Menschen so jemanden wie Oliver hervorbringen konnten. Je näher sie dem Stadttor kamen, desto fahriger schien der Lockenkopf zu werden. Eve hoffte inständig, dass er die Bluemans nicht mit jedem weiteren Schritt vergaß. Wollte sich nicht vorstellen, dass er plötzlich weiterlief und wieder in den Wald verschwand, aus dem er gekommen war.
Doch das geschah glücklicherweise nicht. Der Junge kam vor dem steinernen Torbogen zum Stehen und blickte hinauf zu den Mauerresten, die seitlich daraus hervorwuchsen. Rester einer längst vergangenen Zeit.
Genau auf jenen Resten saß mit den Beinen baumelnd der Junge mit seiner fröhlichen Flöte.
Eve war froh, endlich nicht mehr Laufen zu müssen. Seitenstechen krümmte ihren Rumpf und sie stützte sich keuchend auf die Knie.
„Das war doch recht erholsam", hauchte Cordelia verzückt. Verstört wandte Evangeline ihren Kopf und musterte ihre Freundin, die mit rosigen Wangen ihr Kleid richtete. Sie runzelte die Stirn und fragte sich, zu welchem Zeitpunkt Cordelia sich so eine Ausdauer angeeignet hatte.
„Das kommt sicher vom Reiten", erklärte die Rothaarige fröhlich und klang dabei seltsam... hoheitsvoll.
„Unsinn. Rikus Musik hat heilende Wirkung auf die Menschen", nahm ihr Oliver die Illusion. Eves Gesicht verwandelte sich wohl noch mehr in ein Fragezeichen, denn er fuhr augenblicklich fort.
„Bei uns klappt das nicht."
Eve richtete sich wieder auf und zog eine Augenbraue hoch. „Du scheinst keine Probleme zu haben."
Irritiert legte Oliver den Kopf schief. „Naja... Ich reite tatsächlich viel."
Cordelia schaute zwischen beiden hin und her und schnaubte dann. „Ihr mit eurer Zaube- "
„Nein!", protestierten ihre Freunde gleichzeitig. Sie zuckte vor dem plötzlichen Widerstand zurück. „Wen habe ich denn jetzt beleidigt?"
„Wir benutzen diese Worte nicht", erklärte Oliver. Cordelia sah ihn an, als wäre er völlig übergeschnappt. Doch Eve sprang ihm aus irgendeinem Grund zur Seite.
„Wir haben es doch nie so genannt, Deli." Sie zuckte die Schultern. „Was würde Saturn denn sagen?"
Dieses Argument bewegte Cordelia scheinbar zur Einsicht. Wie sie es gewohnt waren, fand sie sich sehr schnell mit den Umständen ab und widmete sich dem Jungen. Dieser hatte inzwischen sein Stück beendet und blickte neugierig zu ihnen herab. Sein Aussehen kam Eve von Händlern aus der Hafenstadt bekannt vor, die von sehr weit herkamen. Sie hatten stets dunkles Haar und dunkle Augen, die ihnen mandelförmig ins Gesicht gezeichnet waren. Außerdem sollten sie eine sehr andersartige Sprache und Schrift beherrschen.
Unwillkürlich begann die Träumerin sich zu fragen, ob Riku die Bewohner der Insel seinerseits auch für sonderbar hielt. Doch in diesem Moment lag sein ruhiger Blick allein auf Oliver.
„Komm da runter", wies der Lockenkopf an. „Sonst tust du dir noch weh und das wird Großvater nicht gerne haben."
Olivers Worte hörten sich vertrauensvoll und seltsam sanft an. Erinnerten wie ein Lufthauch an eine Zeit, in der er glücklich gewesen und noch nicht in den Emeraldwood geflohen war. Jetzt, da die Geheimnisse der Stadt ohnehin aus allen Nähten platzten, wollte Eve den Rest seines Märchens hören.
Riku grinste und nickte. Dann stieß er sich ohne Vorwarnung von der Mauer und Oliver stürzte vor, um ihn aufzufangen. Es hätte John sein können.
Es hätte John sein müssen.
Der fremdländische Junge strahlte Oliver überglücklich an wie ein Kind seinen großen Bruder.
Eve erinnerte sich.
Wir Kinder waren Geschwister, zumindest jene, die überlebten und die Erwachsenen waren alle wie unsere Eltern.
Sie fühlte sich unfassbar fehl am Platz und Cordelia schien es nicht anders zu gehen. Was sich zusätzlich verschlimmerte, als die Jungen einfach nur schwiegen. Es war fraglich, ob es sich dabei um eine Schweigeminute des Wiedersehens handelte. Selbst für Evangelines feines Gespür war dieses Phänomen, das sich immer mehr in die Länge zog, nicht erklärbar.
„Oliver", schritt schließlich Cordelia harsch ein. Als schwarze Feder hatte sie offenbar eine weitaus kürzere Zündschnur, was die Eigenheiten ihrer Freunde anging.
Der Lockenkopf zuckte zusammen, was bewies, dass er ihre Existenz völlig vergessen hatte. Beide Mädchen verschränkten beleidigt die Arme vor der Brust.
Hastig setzte er Riku auf den Boden und rieb sich verlegen den Hinterkopf. „Entschuldigt, aber Riku hatte so viel zu erzählen. Außerdem musste ich ja auch seine Fragen beantworten."
„Also jetzt ist er übergeschnappt", schlussfolgerte Cordelia. Auch Eve, die sonst alle unerklärlichen Dinge gütig hinnahm, verlor langsam die Geduld.
Oliver schien augenscheinlich die offensichtliche Ablehnung seiner Freundinnen zu bedauernd. „Riku spricht nicht, darum unterhalte ich mich mit ihm über unsere Seelen."
Er sah unfassbar bekümmert aus. Der kleine Junge verbarg sich hinter Oliver.
Eve spürte einen unbekannten Druck in sich und Schatten zuckten über ihre Miene. Es fühlte sich seltsam falsch an, hier so ungeschützt und offen zu sprechen. Viel zu nah am Tor und weit entfernt vom Moor. Es war, als würde Oliver ihnen die blutigen Arme entgegenstrecken, sein Innerstes offengelegt. Plötzlich fühlte die Träumerin sich von allen Seiten beobachtet und das in ihrem geliebten Emeraldmoor.
„Ich lass das jetzt einfach mal so stehen", sagte Cordelia, die es gewohnt war, den Faden zu verlieren.
„Sowas kannst du?", hauchte Eve fasziniert.
Oliver zuckte unbehaglich die Schultern. „Wenn mir jemand seine Seele auf die Art offenbart, sehe ich alles. Er könnte nichts vor mir verstecken. Aber da es die einzige Art für Riku ist, sich voll und ganz auszudrücken, hat er sich damit abgefunden. Ich fühle, was er fühlt und deswegen weiß ich, was er uns sagen möchte."
Herbstblätter tanzten über die Straße.
„Du könntest Straftäter ohne Probleme überführen."
Das war eine so groteske Aussage, dass selbst Riku Cordelia sehr verwundert anschaute.
Oliver schüttelte den Kopf. „Wie hält es Saturn nur mit dir aus?"
„Was soll den Amalia sagen?", keifte Cordelia.
Während die beiden sich sinnlos anschimpften, ging Eve vorsichtig auf den kleinen Flötenmusiker zu, der sich bereits aus der Deckung des Lockenkopfes gewagt hatte. Sie ging in die Knie und neigte lächelnd den Kopf.
„Hallo, Riku."
Der Junge lächelte zurück, hob sein Instrument und spielte eine kurze, fröhliche Tonfolge. Es klang wie eine Begrüßung.
Augenblicklich fühlte Evangeline sich leichter. Zwar hatten die Töne keine heilsame Wirkung auf sie, aber ihre Abneigung gegenüber diesem Kind sank beträchtlich. Zwar handelte es sich hierbei nicht um eine der wundervollen Eigenarten ihres kleinen Städtchens, sondern um etwas spürbar Fremdes. Nur war Oliver vor fünf Jahren nicht selbst etwas Fremdes gewesen und war genau in diesem kleinen Städtchen untergekommen? Hatte sich den Smaragden vorgestellt und war von ihnen wie ein eigenes Kind behandelt worden?
„Weißt du, ich bin dir gar nicht so unähnlich."
Sein Blick bewies, dass ihm das längst klar war. Es war beinahe gruselig, wie viel Weisheit in dem Blick eines Kindes liegen konnte.
Eve blickte zu ihrem schmalen Haus und dachte sehnsüchtig an die Muscheln, die auf ihrer Schreibkommode lagen. Wie gern hätte sie Riku ihr eigenes kleines Wunder gezeigt. Nun, warum sollte sie es nicht trotzdem versuchen? Seit wann war die Reimwelt an physikalische Regeln gebunden?
Wie ein Taschenspieler hob sie vor Rikus Augen die Faust, schüttelte sie ein paar Mal und pustete darauf. Begeistert folgte er ihren Bewegungen. Eve atmete tief durch, suchte in ihrem Inneren nach dem Splitter und öffnete dann die Hand.
Rikus Augen wurden so groß, dass sie ihm aus dem Gesicht zu fallen drohten. Genau wie sie es sich gewünscht hatte, lag eine schillernde Muschel in ihren Fingern, die nie und nimmer wirklich existieren konnte. Der Flötenspieler quietschte vergnügt, als sie sich in eine Feder verwandelte.
Vergnügt hob Eve ihre flache Hand an den Mund und pustete. Schneeflocken purzelten von ihren Fingerspitzen zu Boden und ihre Augen leuchteten auf wie Nordlichter.
Der Musiker und die Dichterin waren so vertieft in ihren Austausch, dass sie das Flattern über ihren Köpfen gar nicht wahrnahmen. Nicht sahen, wie die weißen Raben aufstoben und davonsegelten.
„Hallo", hörten die vier plötzlich eine Stimme und wandten die Köpfe. Casper trat hinter einem Haus davor und blickte unsicher in die Runde. Sein Gesicht war eingefallen und das Haar zerzaust. Er machte den Eindruck, mehrere Monate nicht geschlafen zu haben.
Eve sah zu Oliver, rückte sogar ein Stück mehr in seine Richtung. Kurz blitzte in seinen Augen das Verlangen auf, seinem Bruder zur Hilfe zu eilen, doch er blieb an Ort und Stelle. Es war nicht ersichtlich, bei was er Casper überhaupt hätte helfen müssen.
„Hey", erwiderte schließlich Eve, weil keiner der anderen den Mund aufmachte.
Über ihren Köpfen begann die Sonne langsam zu sinken.
Caspers Haltung wirkte verkrampft, sein Blick war verzweifelt auf Oliver gerichtet. Tiefer Schmerz waberte in dem verrotteten Braun seiner Augen, so intensiv, dass Eve ihr eigenes fragiles Leid zusammenraffen und schützen wollte.
Als der Lockenkopf keine Reaktion zeigte, zuckte sein Bruder wie vor einem Schlag zurück und senkte den Blick. Seltsam kindlich.
„Geht es dir gut, Casper?", fragte Cordelia sachlich und zog die Augenbrauen zusammen. Keinen von ihnen schien die Situation sonderlich geheuer zu sein.
Nur Riku ging schließlich vor und nahm den jungen Mann an der Hand. Es war grotesk, wie sie augenblicklich die Rollen zu tauschen schienen.
In diesem Moment blickte Eve hinauf zu den Dächern und sah keinen einzigen weißen Raben.
„Ich weiß", hauchte Oliver und wurde erstmal wieder von den Mädchen blöd angeglotzt, bis ihnen aufging, dass er mit Riku sprach. Der Junge und Casper steuerten auf das Tor zu, der sinkenden Sonne entgegen. Gerade vor dem Punkt, wo man Emeraldmoor verließ, drehten beide sich nochmal um. Fragend, bittend sahen sie Oliver an.
Doch dieser schüttelte den Kopf. „Ich komme nicht mit. Zuhause wartet man auf mich."
Die Worte trafen Casper wie Pfeilspitzen und Eve rechnete beinahe damit, er würde zusammenbrechen. Doch das kurze Aufleuchten dieses separaten Schmerzes ging schnell in dem allgemeinen Brennen in seinem müden Blick unter. Riku jedoch wirkte nur resigniert. Er hatte damit ziemlich sicher schon gerechnet. Tatsächlich huschte noch ein kurzes Lächeln über sein Gesicht, ehe er Casper den Weg entlangführte.
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