22. Kapitel - Als Cordelia die Dunkelheit vertrieb
In den nächsten Stunden verlor Cordelia ziemlich das Zeitgefühl. Sie gewöhnte sich überraschend schnell an den Neuling, der sich zwar zurückhaltend verhielt, aber nach und nach einen netten – beinahe charmanten – Eindruck machte. Oliver und die Mädchen nahmen Casper mit zum Essen, zum Spielen mit den Kindern und nach und nach vermischten sich die Ereignisse zu einer Fülle an wohligen Düften, heiterem Gelächter und viel Freude.
Cordelias Eltern hätten es geliebt.
Der Regen zog behaglich vorüber und ließ Pfützen zum Springen für die Kinder – und Eve. Irgendwann zog sie ihre Freunde einfach jauchzend heran und sie tanzten im kühlen Nass wie junge Fohlen. Eve gestattete sich, Cordelia zu greifen und wild mit ihr herumzuwirbeln, als wären sie auf einem Ball.
Ihre Augen wurden zu blauen Sonnen. Und manchmal glaubte ihre Tanzpartnerin, in einer Schlossruine zu stehen und mit ihrem Schneeprinzen zu tanzen. Es war ihr gleich, was real war und was nicht. Nur, dass sie sich gerade die Seele aus dem Leib tanzte, war relevant. Sie spürte das Leben in sich wie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr. Es war als würde der Regen die letzten leidvollen Jahre von ihr herunterwaschen. Über ihren Köpfen schrien Raben mit perlmuttfarbenen Gefieder.
Es war auf einmal wie fliegen.
Auf ein uneindeutiges Kommando hin kamen die Menschen zum Stehen und einige begannen zu klatschen. Cordelia hörte ebenfalls auf, herumzuhüpfen und sah sich leicht verwirrt um. Seltsam, es war beinahe, als wäre sie aus einem Traum erwacht. Erfrischend liefen die letzten Regentropfen über ihre Stirn. Als ihr Blick auf die Emeralder fiel, wirkten die ähnlich ratlos. Mary starrte verdutzt auf ihren schlammigen Rock.
Oliver trat etwas außer Atem an sie heran. „Weiß eigentlich irgendjemand, woher die Musik kam?"
Cordelia runzelte die Stirn. Musik? Ja, da war Musik gewesen. Nur zu natürlich, um menschengemacht zu sein. Als hätte der Regen die Klänge von Geigen und Cellos angenommen. Sie wandte sich an Eve.
„Weißt du..."
Ihre Freundin schüttelte nachdenklich den Kopf. Sie machte den Mund auf, wollte offenbar etwas sagen, doch da... da ertönte plötzlich eine Flöte. Zaghaft und doch eindringlich. Ein Ton und Cordelia bangte um ihre Seele. Neugierig drehte sie den Kopf und anhand ihres Umfelds erkannte sie, woher diese plötzliche Musik kam. Auf einmal war in ihrer Mitte ein Junge auf einer Kiste erschienen. Gedankenverloren spielte er auf eine Blockflöte eine wunderschöne, fremdartige Melodie. Neben ihm stand ein älteres Mädchen. Das erste, was einem an ihr auffiel, war die wundersame Haut. Sie war hauptsächlich dunkel wie aus Ebenholz geschnitzt, doch Hals und Gesicht waren abschnittweiße von hellem Weiß gezeichnet. Das dunkle Haar fiel dem Mädchen über die Schultern, durchzogen von zwei schneeweißen Strähnen.
Sie war unbeschreiblich schön.
Da hörte der Junge, er musste ungefähr in Johns Alter sein, auf zu spielen. Nur für einen kleinen Moment und er richtete seine mandelförmigen Augen auf seine Zuhörer, die alle nach mehr dürsteten.
Und – es war unmöglich – plötzlich erklang die Flöte wieder. Kraftvoll und lieblich und vor allem instrumentlos. Das Holzstück lag achtlos in der Hand des Jungen. Cordelia erhaschte einen kurzen Moment auf Eve und wurde von der Sehnsucht, die sie in ihrem Blick erkannte, beinahe erschlagen. Evangeline schien ihre Hände nach diesen beiden auszustrecken und da ging es ihrer Freundin auf.
Geigen und Klavier mischten sich unter die Klänge, schwollen zu einem einladenden Epos an, den die Luft ihnen zu schenken schien. In der einsetzenden Abenddämmerung erschienen Schlieren wie aus Nordlicht über ihnen. Die Menge raunte völlig verzaubert und folgte den blauen und grünen Spuren mit den Augen. Nur Eve starrte nach wie vor auf die Fremden, welche sie nun ebenfalls im Fokus zu haben schienen.
Zwei Dinge wurden Cordelia in diesem Moment kristallklar.
Erstens: Der Junge und das Mädchen waren Eve unheimlich ähnlich.
Zweitens: Die Nordlichter stammten von Eve.
„Sie sind wie du", hauchte die Rothaarige atemlos. „Und sie haben Fähigkeiten wie du."
Ihre Freundin riss sich endlich los und schaute sie lange und seltsam ausdruckslos an.
„Und wie Saturn", antwortete sie schließlich.
Cordelia wandte ihren Blick gen Himmel und seufzte vergnügt. Denn er war hier – auf seine eigene, magische Art. Er war ihr so unglaublich nah.
Die Nordlichter bildeten schließlich eine Spur, die fort von der Ruine führte. Die Leute waren immer noch verwundert, kehrten jedoch zügig wieder zu der ursprünglichen Planung um. Es regnete nicht mehr.
„Kommt", wies Oliver seine Freunde an. „Es gibt Laternen."
Er lächelte Cordelia an und bedeutete ihr, dass dieser Abend immer noch ihren Eltern gewidmet war. Sie war nicht böse, dass sie nun offiziell mit wunderschöner und magischer Begleitmusik verabschiedet wurden. Ein kleiner Kreis bildete sich schließlich um sie und Augen voller Zuneigung lagen auf ihr. Mrs Sullivan trat mit einer hübschen Laterne und feuchten Augen an sie heran.
„Für Samantha und Florian", sagte sie lächelnd und überreichte dem Mädchen behutsam den goldenen Lichtschein. Sie blickte hinein in die tanzende Flamme und vermisste ihre Eltern schrecklich. Nur diesmal fühlte es sich wie Frieden an.
Da griff jemand an ihre Schulter. Cordelia hielt die Luft an und ihr Herz machte einen Sprung, doch als sie den Kopf wandte, war es nur Oliver. Was für eine alberne Vorstellung, es könnten ihre Eltern sein.
Er beugte sich herab an ihr Ohr. „Geh voraus, sie sind direkt hinter dir."
Sie sah ihm in die dunklen Augen und – auch wenn es unmöglich war – sie wusste sofort, dass er nicht die kleine Trauergemeinschaft meinte.
„Sie haben so lange auf dich gewartet, Deli." Olivers Blick ließ keine Zweifel an dem, was er sagte, zu. Cordelias Augen füllten sich mit Tränen und entschied daher, ihm einfach zu glauben. Ein kicksendes Lachen kam ihr über die Lippen, übermannt von zu vielen Emotionen. Süßer Schmerz fuhr durch ihre Glieder, doch er war so strahlend wie ein Stern.
„Voraus, Prinzessin", ordnete Evangeline feierlich an, „führe uns durch die Dunkelheit."
Und so geschah es. Duzende Lichtpunkte wanderten feierlich und geführt von unmöglichen Nordlichtern durch die Nacht, die sich den Himmel in Windeseile zu eigen machte. Cordelia strebte mutig ein Ziel an und auf magische Weise beugten sich die bunten Lichtstreifen ihrem Wunsch.
Der Weg war weiter, als sie geglaubt hatte, doch nicht eine Beschwerde kam aus der kleinen Menge. Eve und Oliver wuselten hier und da durch die Leute, um eine erloschene Kerze wieder zu entzünden. Selbst die Kinder schritten tapfer voran und die Luft vibrierte vor unabdingbarem Zusammenhalt.
So kamen sie schließlich an das arme Wäldchen, das die grausamste Klippe der Insel verbarg. Cordelia führte sie außen herum, damit sich keiner zwischen den tückischen Bäumen etwas tat. Nicht weit von ihr endete der Boden in zackigen Ausschweifungen. Ihr Herz stolperte und ihr Atem gefror. Sorge schoss Cordelia durch den Kopf. Was, wenn jemand der Anwesenden stürzte? Ein Kind stolperte? Sie drehte sich um, wollte sich für ihre Törichkeit entschuldigen und sie fortschicken, doch ein Blick in die vielen, entschlossenen Gesichter und ihr blieben die Worte im Hals stecken.
Von ihnen würde keiner umkehren. Diesmal folgten sie ihr.
Dies gab ihr neuen Mut und so schritt sie weiterhin voran. Schneller als ihr Kopf ausgerechnet hatte, stand sie wieder dort. Dort, wo sie mit ihrem Leben endgültig abgeschlossen hatte. Tiefes Erschüttern durchfuhr ihre Seele und beinahe ließ sie die Laterne los. Erbarmungsloser Wind zerrte an dem kleinen Licht, das sie damals nicht bei sich gehabt hatte.
Cordelia zwang sich zum Atmen. Trotz des Wissens, dass Oliver und Eve hinter ihr standen – Himmel, wie musste es ihnen ergehen – fühlte sie sich mutterseelenallein auf diesem gottverlassenen Todessteig. Beinahe absurd, wie dünne unsichtbare Finger nach jedem griffen, der sich hierher verirrte.
Plötzlich fühlte Cordelia sich in eine frühe Kindheitserinnerung versetzt. Im Garten hatte ihr Vater zwischen zwei Bäumen ein Seil aufgespannt, über das sie balancieren wollte. Was hatte sie doch für eine Angst gehabt, zu fallen.
„Schätzchen, du schaffst das", ihre Mutter nahm behutsam ihre Hand, „du musst nur einen Schritt nach dem anderen machen."
Cordelias Vater trat auf ihre andere Seite. „Außerdem sind wir hier und das werden wir auch immer sein."
Die kleine Cordelia nickte und machte einen Schritt – die große auch. Tränen liefen ihr über die Wangen, doch sie ging wieder auf dieses grausame Ende zu, das Licht stoisch zwischen ihren Fingern, wo es die Dunkelheit vertrieb. Dunkelheit, die viel zu lange aus Cordelia geflossen war und sie umhüllt hatte, wie Nebel.
Doch nun würde sie sehen.
Sie schwor sich, nun würde sie die Augen öffnen und sehen.
Aprubt stoppte sie. Der schwarze Steig war hier zu Ende und unter ihr tobte das Meer in schwarzen Massen. Cordelia funkelte sie an und blickte dann hinauf in den Himmel. Das Licht der Nordlichter wurde stärker und erhellte die Wellen, die sie nicht hatten ins Jenseits schicken können. Sie leuchteten so hell, dass die Dunkelheit sich in die Ecken der Klippen zurückzog. So hell, dass jene, die in Cordelia festgesteckt hatte, ohnmächtig ihren Körper verließ und ächzend über den schwarzen Stein kroch.
Cordelia hob beide Arme, selbst brennend wie ein unlöschbares Feuer und ließ das kleine Flämmchen, das ihre Seele entzündet hatte, in die blaugrüne Nacht.
Sie schaute ihm zu, wie es dahinsegelte und atmete dann nach fünf langen Jahren einfach aus.
Da erklang Jubel hinter ihrem Rücken und sie drehte sich um. Ihre Begleiter jauchzten und entsandten ihre eigenen Feuer ebenfalls, damit sie sich Cordelias anschlossen. Die Kinder lachten und kicherten begeistert.
Cordelia wollte heulen vor Glück. Sie legte einen beachtlichen Sprint über den vermaledeiten schwarzen Stieg hin direkt in Eves Arme. Beinahe riss sie sie dabei um und erdrückte sie zusätzlich.
Ihre Freundin war ein bisschen blass. Verständlich, schließlich hatte sie an diesem Ort traumatische Erfahrungen gehabt. Doch Eves Strahlen kehrte zügig zurück unter ihre Haut und tiefe Wärme machte sich zwischen ihnen breit.
Cordelia fing an zu lachen. Erst glucksend, doch es schwoll schnell zu etwas anderem an. Eve begann ebenfalls mit Lachen und bald gackerten die beiden Mädchen tosend an gegen das wilde wilde Meer. Sie hielten sich bei den Händen und hüpften wie vom Wahnsinn ergriffen auf und ab, wobei sie die verrücktesten Laute von sich gaben. Nicht lange bis Oliver sich ihnen anschloss und zusätzlich die Kinder, die das ohnehin recht gerne taten.
Und als dann das Kunsteck seinen Teil dazu beitrug, schrien sie bald alle mutig in diese verheißungsvolle Nacht.
„Lasst es raus, lasst es raus!", brüllte Eve anfeuernd und sprang an der Menge vorbei. Sie selbst schrie dem schwarzen Stieg wenig später ihre Seele entgegen.
Und vielleicht war es Einbildung, doch Cordelia glaubte, die Wellen wurden ein wenig ruhiger.
Ein wenig – oder Stunden, wer weiß – später saßen die drei Freunde tief im Emeraldwood. Um genau zu sein im Moor, wo eine Blutbuche stramm ihr Dasein fristete. Auch ihre Adern waren grün wie Smaragd. Dies war der geheime und geliebte Ort des Trios.
„Meine Mutter wird darüber nie wieder sprechen wollen", gluckste Eve verlegen. Oliver saß neben ihr und spielte mit einem maroden Stock. „Irgendwo muss die Tochter den Wahnsinn ja herhaben." Er grinste zufrieden.
Cordelia war erfüllt von Leichtigkeit und ein wenig heiter, als wäre da zu viel Glück in ihren Adern. Die Nacht war weit fortgeschritten, doch die Erwachsenen feierten noch immer irgendwo im Kunsteck. Niemandem war es aufgefallen, wie Eve, Oliver und sie sich davongeschlichen hatten.
„Gut, dass deine Eltern Karren geholt haben, um die Mannschaft abzuholen", sagte sie und lehnte sich seufzend an den Stamm des beschützerischen Baums. „So kamen wir schnell nach Emeraldmoor."
„Gut, dass sie uns nicht in ein Irrenhaus verschifft haben", erwiderte Oliver, „das Festland muss uns gehört haben."
Auf Eves Lippen lag ein verträumtes Lächeln und sie legte sich achtlos ins Moos. Sie schwiegen eine ganze Weile und ließen den plötzlichen Frieden auf sich wirken. Vielleicht machte der ein oder andere von ihnen sogar die Augen zu oder vielleicht sie alle drei. Vielleicht waren sie gar nicht mehr in der realen Welt.
„Dein Freund – Bruder ist verschwunden", sagte Eve irgendwann, Cordelia war egal, ob im Traum oder nicht.
„Ach ja", hauchte Oliver und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Nun, er wollte die Innigkeit unserer Leute nicht stören und ohnehin war es ihm zu viel.
„Hat man gemerkt."
Cordelia richtete überrascht ihren Blick auf Eve. „Hat man gemerkt?"
Die Träumerin zuckte die Schultern. „Er war unfassbar nervös. Als würden wir ihn bedrohen oder so. War er schon immer so?"
Oliver, an den die Frage gerichtet war, legte seinen Stock zur Seite. „Schon als Kind, ja. Casper hat sich immer stark von anderen unterschieden, aber ich weiß auch nicht so wirklich, woran das liegt. Obwohl er älter ist, habe ich immer die Rolle des älteren Bruders eingenommen."
„Hat man auch gemerkt", meinte Eve monoton.
Cordelia richtete sich empört auf. „Was kriegst du denn alles mit?"
Erneut zuckte die andere die Schultern. „Ich kann halt fühlen. Casper ist durch Oliver langsam ruhiger geworden, als wäre er ein Anker für ihn. Ihr seid euch nicht wirklich ähnlich."
„Unterschiedliche Mütter eben. Aber wir hatten lange nur einander."
Im Augenwinkel glaubte Cordelia zu sehen, wie er traurig lächelte.
„Oliver hat also auch dunkle Geheimnisse", raunte sie leicht neckisch. Er drehte den Kopf und zog eine Augenbraue hoch. „Deine Liebschaft kommt aus einer anderen Welt."
„Sei still", keifte Cordelia, während sie rot anlief, „er ist nicht meine Liebschaft."
„Oh nein, warum verwandelst du dich aber in eine Tomate, wenn ich nur seinen Namen sage? Satuuuurn. Oh Satuuurn!"
Cordelia warf das nächstbeste nach ihm. Es handelte sich dummerweise dabei um brackes Moorwasser.
„Geschieht dir recht", meinte sie stolz, als Oliver sich schüttelte.
Da raschelte die Blutbuche über ihnen.
„Ruhe, ihr beiden", flüsterte Eve, „sonst schmeißt sie uns noch raus."
Widerwillig setzten Cordelia und Oliver sich brav in das dunkle Grün und schon hörte der Baum auf zu zittern.
„Ist alles in Ordnung?", fragte Cordelia ihre Freundin, weil Eve seltsam verändert wirkte.
„Es ist die Sehnsucht. Nachts gewinnt sie viel Stärke." Evangeline blickte weiter in die Luft und in ihren Augen flackerte es. Ein tragischer, blauer Kampf.
„Wonach sehnt sich denn eine Fee so?", fragte Oliver leicht ungehobelt.
„Eve ist keine Fee, du Banause", zischte Cordelia mäßig, weil sie die Blutbuche nicht verärgern wollte.
„Frag meine Seele."
„Der fehlt ein Stück", antwortete der Lockenkopf leichthin. Eve riss sich aus ihrer Trance und schaute ihn geschockt an. „Bitte?"
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