18. Kapitel - Du darfst nicht sterben
Als die Schule aus war, traten die drei Freunde in ein idyllisch herbstliches Wetter. Der Regen hatte aufgehört und nun brachten goldene Sonnenstrahlen die Pfützen auf den Straßen zum Erstrahlen. Die Luft roch, als wäre sie frisch gespült worden.
Evangeline atmete tief ein und wieder aus, während sie in den Himmel schaute. Sie streckte sich ausgiebig. „Wir sind frei!"
„Und es scheint ein guter Tag für einen kleinen Einkauf." Auch Cordelia schien ihrem Lächeln nach zu urteilen recht glücklich über das Wetter zu sein. „Tante Jasmin wird sicherlich nichts dagegen haben, wenn ich den Nachmittag mit euch verbringe." Ihre Augen leuchteten auf, als sie das aussprach. Was für eine Aussicht das für sie sein musste, dass endlich jemand auf sie wartete.
In diesem Moment sprang das Glitzern eines Sonnenstrahls aus einer sehr langen Pfütze und verwandelte sich in Sphinx. Das lenkte Oliver im Gegensatz zu der traumhaften Atmosphäre genug ab, um die Grübelei sein zu lassen.
„Bestätigung meiner Theorie", posaunte er und schaute Eve an. „Dein neues Haustier kann nur bestehen, wenn die Sonne scheint."
„Oh", machte Cordelia und zog ein bedauerndes Gesicht, „da hat der Kleine hier keine guten Chancen."
Evangeline verdrehte die Augen und kniete nieder, um den Schakal zu streicheln. „Also erstmal ist er nicht mein Haustier und, dass sie ohne Sonne nicht gut zurechtkommen, ist für Sonnentropfen vermutlich ziemlich logisch."
Sphinx kläffte, als würde er ihr voll und ganz zustimmen. Cordelia verschränkte die Arme vor der Brust. „Logik ist mit deiner Fantasie ja wohl kaum vereinbar."
Eve legte den Kopf schief. „Bei der letzten Teestunde sprangen sie auf die Stühle und schütteten sich das heiße Zeug gegenseitig in die Gesichter." Sie zuckte mit den Schultern. „Und warfen die Tassen hinterher."
Nun hatte Sphinx Interesse an Oliver gefunden und trabte auf ihn zu. Der Lockenkopf hockte sich hin und begann, das schmale Wesen ausgiebig zu kraulen. „Na, würdest du dich wohl mit unserem Henry verstehen?"
„Schakale zählen zu den Hunden – vielleicht würden sie Freunde werden", meinte Cordelia fachmännisch. Eves Gesichtsausdruck verfinsterte sich, doch sie offenbarte ihnen nicht ihre Gedanken. Es war wohl sinnlos, ihren primitiven Mitmenschen die magischen Umstände ihrer Reimwelt zu erklären.
„Machen wir uns auf den Weg?", fragte Oliver, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. Die beiden Mädchen nickten und so zogen sie gemeinsam in Richtung Marktplatz.
Oliver verlor sich während des Gehens wieder in seinen Gedanken. Immer wieder flammte vor ihm das Gesicht des Verfolgten auf. Ein abgewetztes und müdes Gesicht mit tiefdunklen Augen. In seiner Brust verkeilte sich plötzlicher, unerwarteter Schmerz. Oliver blickte um sich, schaute in glitzernde Fenster und folgte mit den Augen drei Herbstblättern, die über den Gehweg tanzten. Er saugte die Umgebung förmlich auf, um keine Bilder aufkommen zu lassen, die er glaubte, verdrängt zu haben. Emeraldmoor war wunderschön – aber nicht so wunderschön.
Er ging dazu über, sich vehement einzureden, er habe sich verguckt. Dass alles ein sehr skurriles Missverständnis war, seine Vergangenheit nicht vor der Schule gestanden hatte. Dass er die tiefen Augen vorher noch nie gesehen hatte.
Der Schmerz pochte dumpf und hart, wie eine triefende Wunde.
Gleich neben Eve wurde eine ältere Frau brutal niedergestochen. Das Mädchen lief weiter, ohne Notiz davon zunehmen. Oliver glaubte, aus mehreren Körperstellen zu bluten.
Er fuhr sich durch die Locken, blickte sich hastig um und kämpfte so gut er konnte, gegen die Furcht in seinem Inneren.
Hier war kein Keller.
Und auch kein abgebrochener Balken, der immer wieder in Olivers Erinnerung aufflammte, wann immer er die Chance bekam. Nie hatte er sich dieses Standbild erklären können, die Fotografie, die sich in sein Hirn gebrannt hatte.
Irgendwo schrie ein Kind um sein Leben, weinte und weinte und verstummte schließlich qualvoll. Oliver unterdrückte den Drang, zu rennen, um es zu retten.
Da war kein Kind.
Er blickte auf und bemerkte, dass er weit hinter den Mädchen zurückgefallen war, die sein Fehlen offenbar nicht zu bemerken schienen. Eve und Cordelia schlenderten Arm in Arm weiter und plauderten. Oliver fühlte sich, als wäre er einen Marathon gelaufen. Er stand matt und traurig da, völlig unpassend zu den strahlenden Hauswänden.
„Oliver...", hörte er hinter sich. Ungläubig weiteten sich seine Augen, dann wirbelte er herum und sah sie.
„Lady Willow", hauchte er. Da stand sie, neben einer Gasseneinmündung und sah ihn eindringlich an. Ein gewisses Strahlen ging von ihr ab, das seine Angst augenblicklich minderte. Ihre Hände waren gefalten und ihr Blick wirkte voll Kummer.
Und dann verschwand sie. Wurde achtlos fortgeweht von dem Schlag eines dunklen Mantels. Ein Mantel, der augenblicklich in der Gasse verschwand.
Erneut rannte Oliver an diesem Tag los, vergaß völlig die beiden Mädchen. Noch verbissener als am Vormittag verfolgte er den Schatten durch die Stadt. Dessen weinroter Mantel mit schwarzem Saum wehte vor ihm her, als könne er einfach so nach der Vergangenheit greifen.
Etwas, das er um jeden Preis hatte vermeiden wollen.
Seine Gedanken verloren sich in Bilder, die ihn in den nächtlichen Wald führten. Er rannte und rannte, Äste und Zweige schabten über sein kindliches Gesicht. Der Emeraldwood zerrte an seinen Kleidern und seiner Haut, als wollte er sich den Jungen einverleiben. Bis heute war sich Oliver sicher, ein Feuer zwischen den Bäumen gesehen zu haben und einen wilden Tanz, in dem fliegende Besen eine Rolle gespielt hatten und wundersame Mädchen mit Rabenfedern im Haar.
Als es ihm gelang, die Erinnerung an jene Nacht abzuschütteln, stand er in einem Hinterhof. Oliver wirbelte herum. Ringsum war das Mauerwerk hell und der Boden geziert von Pfützen. Hatte er ihn wieder verloren?
Da erklangen Schritte aus einer abgelegenen Ecke und langsam trat eine Gestalt in das goldene Sonnenlicht.
Die Person zog sich die rote Kapuze vom Kopf und schaute ihn an. „Oliver."
Instinktiv trat Oliver einen Schritt zurück, als müsste nun er fliehen. Doch sein Herz machte einen fehlgeleiteten Sprung, der Freude verhieß. Weil es fünf Jahre her war, dass Oliver geflohen war und ihn zurückgelassen hatte.
Der junge Mann hob beschwichtigend die Hände. „Ich will dir nichts Böses."
Nach wie vor misstrauisch schaute Oliver sich genauestens um. „Ist er auch hier? War es euer Plan, mich herzulocken?"
„Nein", erwiderte der andere. „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mal, wo er ist."
Nach kurzem Zögern entspannte Oliver seine Glieder und seufzte. „Warum diese Verfolgungsjagd, Casper?"
„Ich wollte dich allein sprechen", erwiderte der Ältere. Um genau zu sein sieben Jahre älter. Casper war groß und schlank, doch Oliver wusste, dass er unter der Kleidung beinahe abgemagert war. Das war schon immer so gewesen. Sein Gesicht wirkte abgekämpft und violette Augenringe rissen die dunklen Augen in noch tiefere Abgründe. Caspers Haar reichte ihm scheinbar fast bis zu den Schultern, früher war es kürzer gewesen.
Oliver geriet in die Versuchung, nach Caspers Seele zu tasten, um dessen Absichten einschätzen zu können. Doch er fürchtete sich davor, hatte nach dem ersten Mal lange Albträume von ihr gehabt.
Er hatte es nie übers Herz bringen können, ihm zu sagen, wie krank seine Seele war. Als Kind hatte Oliver oft befürchtet, Casper würde von dem einen auf den anderen Tag sterben, obwohl ihm körperlich nichts fehlte. Nur seine Seele war in diesem seltsamen, beängstigenden Zustand.
Erneut seufzte Oliver. „Wir sind hier allein."
Casper lächelte leicht. Sie standen sich für ein paar Sekunden unschlüssig gegenüber.
Dann machte er Ältere zwei entschlossene Schritte und drückte Oliver an sich.
Zugegeben, einen sehr kurzen Moment lang hatte er geglaubt, erdolcht zu werden. Aber dann fiel die Anspannung plötzlich von ihm ab und er riss die Barrieren nieder. Zumindest jene, die den Weg zu Casper versperrt hatten.
Sie umarmten sich lange.
„Ich glaube es nicht, dass du hier bist", sagte Oliver, nachdem sie voneinander abgelassen hatten. Seine Augen glänzten vor Glück. „Wie bist du entkommen?"
„Entkommen ist das falsche Wort", murmelte Casper und wich seinem Blick aus. „Eher haben wir uns befreit."
Oliver zog die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du damit?"
Casper wand sich ein wenig. „Nachdem du fort warst, wurde er unerträglich. Tyrannischer als wir es uns je vorgestellt hatten. Viele starben unter seinem Wahnsinn. Eines Tages taten wir restlichen, die um ihr Leben fürchteten, uns zusammen und überwältigten ihn." Er zuckte mit den Schultern und schaute nachdenklich in den Himmel. „Er floh von unserem damaligen Wohnort, aber vermutlich hat er es nicht weitgeschafft. Glaub mir, er war völlig hinüber."
Oliver fühlte einen leichten Stich. Beinahe wie Trauer.
Dabei gab es keinen Grund, traurig zu sein. Eher hätte er jauchzen sollen, weil der grausamste Mensch auf Erden nicht mehr dort zu wandeln schien.
Aber so war das wohl, wenn es sich bei diesem Menschen um den eigenen Vater handelte.
„Jetzt bist du also auch endlich frei?"
„Wir sind endlich frei", antwortete Casper stolz. Doch bei Oliver stellte sich erneut Skepsis ein. „Ihr?"
„Hör mal, das sind hilflose Familien. Wo sollten sie denn hin?" Casper schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Oliver beschloss widerwillig, ihm Verständnis entgegen zu bringen. Auch wenn er sich nicht an viel Hilflosigkeit erinnern konnte.
„Ich bin froh, dass du noch lebst." Er senkte den Blick. „Ich hatte das alles damals nicht geplant, es war eine spontane Entscheidung. Wärst du mitgewesen, wären wir gemeinsam geflohen, aber... Ich bin einfach nur gerannt und gerannt."
„Und das ist gut", unterbrach ihn Casper sanft. „Du warst so jung und vielleicht wärst du gar nicht lebend zurückgekommen." Seine Miene wirkte zutiefst bedauernd. „Eigentlich hätte ich auf dich aufpassen müssen."
Das war absoluter Unsinn. Schon immer war es Oliver gewesen, der auf Casper geachtet hatte, statt andersrum. Doch das behielt er lieber für sich.
„Was hat euch denn erzählt?"
Casper seufzte verächtlich. „Dass du tot seist, aber das glaubte keiner von uns. So pfiffig wie du bist, wussten wir alle, dass du entkommen bist." Er lächelte erneut. „Und nun zeigt sich, wie recht wir hatten."
Oliver nickte. „Ja, ich habe es gut erwischt."
Casper legte ihm die Hände auf die Schultern. „Nun sind wir endlich wieder vereint. Wir – du, ich und unsere Familie. Die Einsamkeit kann enden."
Nun, das war eine relativ verschobene Wahrnehmung. Oliver kam in den Sinn, ihn einfach anzulügen, aber das war nicht seine Art und Casper würde es früher oder später ohnehin erfahren.
„Ich bin nicht einsam." Er lächelte schief. „Ich habe hier sehr tolle Freunde und tatsächlich..." Er schluckte und richtete sich so gut wie möglich auf. „Casper, ich habe hier eine Familie."
Voller Wärme dachte er an die Bluemans und John.
Casper schien diese Wärme ebenfalls wahrzunehmen, denn er zuckte zurück, als hätte er sich geradezu verbrannt. „Oh" Schmerz flackerte in seinem Gesicht.
„Es tut mir so leid."
Mehr wusste Oliver nicht zu sagen. Was wäre gewesen, wenn sie beide geflohen und nach Emeraldmoor gekommen wären?
Er schaute Casper an, der immer so verwahrlost aussah und schämte sich gewaltig. Denn diese Vorstellung jagte ihm ungeheure Angst ein.
„Nein, nein, schon gut. Gar nicht nötig, dass du dich entschuldigst." Caspers Haltung verkrampfte sich. „Dass du ein neues Leben angefangen hast, ist gut und freut mich."
Nun war sein Lächeln hart. Unecht.
Oliver zog sich wieder ein wenig zurück. „Lass uns einfach mal etwas zusammen machen. Am besten mit Eve und Cordelia, du wirst sie lieben."
Da horchte Casper auf und neigte neugierig den Kopf. „Eve? Wie Evangeline?"
„Nun, darauf kommen die wenigsten." Oliver grinste. „Sie ist wundervoll."
Nun schien Caspers Lächeln wieder ehrlicher und er nickte langsam. „Das glaube ich sofort."
Es entstand eine ratlose Stille zwischen ihnen. Nach fünf Jahren schienen die Jungen nicht mehr ganz zu wissen, wie sie miteinander umgehen sollten.
„Du kannst sie eigentlich auch jetzt kennenlernen", meinte Oliver hastig, um der seltsamen Situation zu entgehen. „Wir waren gerade dabei, ein Geschenk für jemanden zu suchen."
In Caspers Augen flackerte es auf. Ein Zeichen dafür, dass ihm die Idee nicht gefiel. Tatsächlich machte er sogar einen Schritt rückwärts. „Lieber nicht...Zumindest nicht heute."
Darüber hatten sie noch nie wirklich gesprochen, weil es Casper unangenehm war. Oliver war immer so gütig gewesen, es zu akzeptieren, aber jetzt war es ihm wohl einfach entfallen. Sein Gegenüber konnte nicht einfach so neue Leute kennenlernen, geschweige denn neue Orte. Dass er sich in die Stadt gewagt hatte, glich einem Wunder. Sein Leben war schon immer beschattet worden von einer seltsamen Angst, die sich keiner erklären konnte.
Sie gingen bis zur belebteren Straße, wo sich Casper die Kapuze über den Kopf zog. Oliver musterte ihn besorgt und fragte sich, ob er ihn wirklich gehen lassen sollte. Doch tatsächlich sah er gefasster aus als jemals zuvor und das ließ in Oliver die Hoffnung aufkeimen, es sei besser geworden. Vielleicht hatte sich in den letzten fünf Jahren etwas verändert.
„Wir sehen uns sehr bald wieder." Casper brachte ein müdes Lächeln zustande. Er war immer müde.
„Auf jeden Fall", erwiderte Oliver grinsend. Dann verschwand der Ältere hinter einer kleinen Gruppe tratschender Frauen und im nächsten Moment glaubte Oliver, er hätte alles nur geträumt. Außerdem hatte er einen bitteren Beigeschmack im Mund und hätte sich am liebsten übergeben. Alle Energie schien seinen Körper auf einmal verlassen zu haben.
Also lief er nach Hause.
****
Olivers Heimweg war eine einzige Qual. Es war, als hätte die Begegnung mit Casper all seine Dämonen wachgerüttelt und nun machten sie Jagd auf ihn. Unzählige Leute starben um ihn herum, brachen seine Knochen, zerrissen sein Herz. Er klammerte sich an sich selbst fest und stolperte zwischen so vielen Lebenden umher, ohne dass er sie wahrnahm. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und er zuckte zusammen. Irgendwer griff nach seinem Knöchel und er beschleunigte seine Schritte.
Da ist niemand. Da ist niemand. Da ist niemand.
Am liebsten hätte er es laut herausgeschrien. Sie waren Rauch und Nebel und tot wie das Laub in den Pfützen. Warum begriff sein Verstand es nicht? Diese Menschen waren seit langer Zeit tot.
Aber wie sollte er das seinem Kopf klar machen, wenn er immer wieder ihre Tode starb und ihre letzten Momente durchlebte? Wenn er Schmerzen erlitt, ohne verletzt worden zu sein?
Der Himmel wurde in schwarz getaucht, als rote Blitze darin aufzuckten. Emeraldmoor wurde dunkel dunkel dunkel.
Oliver wirbelte herum und suchte die finsteren Gasseneinmündungen nach der schreienden Seele ab, die so schwarz und krank war. Sie kroch grausig kichernd über den Boden, ein grotesk menschlicher Schatten. Sie drehte den Kopf in einen unnatürlichen Winkel und blinzelte Oliver an. Olivers Seele quakte wie eine aufgebrachte Wildente. Die kranke Seele sickerte stöhnend in den Boden und in die feinen Risse der Hauswände, wobei sie die zähe Dunkelheit mit sich nahm. Beides zog sich zurück in den schwachen Körper des Menschen, der mit ihr geboren war.
Ich habe nicht nach dir gegriffen.
Oliver zitterte von der Begegnung, die gar nicht stattgefunden hatte. Oder eben doch stattgefunden hatte.
Für ihn stattgefunden hatte.
Als er sich nun umsah, wieder halb in der Wirklichkeit (ein dehnbarer Begriff in diesen Zeiten), fand er sich am Feenhaus wieder. Es wurde momentan hergerichtet für den zukünftigen Einzug von Tante Jasmin und Cordelia, aber gerade war niemand zu sehen. Gerade war Oliver mutterseelenallein auf der Welt.
„Oliver", riss ihn eine sanfte Stimme aus den düsteren Gedanken. Er wirbelte herum und hätte heulen können vor Erleichterung.
„Amalia."
Endlich ein tröstendes Gesicht und eine gesunde – wenn auch tote – Seele. Die Schönheit lächelte so liebevoll, dass Oliver nicht anders konnte, als freudig auf sie zuzulaufen. Amalia breitete die Arme aus und er mahlte sich bereits aus, wie er sie hochhob und umherwirbelte, sie küsste und zu einem Wiesentanzt aufforderte, ihr sein Herz schenkte und sich von Eve trauen ließ, weil die es aus unerfindlichen Gründen sicher durfte und...
„Oliver", hauchte Amalia mit weit aufgerissenen Augen. Er stand vor ihr, noch gar nicht ganz begreifend, was geschehen war. Dann lief etwas Warmes über seine Finger, unaufhaltsam und klebrig. Dem blonden Mädchen standen Tränen in den Augen und ihm wurden die Beine schwer. Oliver fing die geistesgegenwärtig auf, die Hand immer noch an dem Schaft des Dolches.
Woher kam der Dolch?
„Nein..." Er zog die Waffe zurück und ließ sie in das Gras fallen. „Nein, nein, nein..." Amalias schöne, blaue Augen ermatteten langsam. Oliver schüttelte sie für ihre Zerbrechlichkeit zu unsanft. „Nein, nein, nein, nein, nein. Nein!"
Ein Lächeln zauberte sich auf Amalias Gesicht. Blut bedeckte wie ein grausamer Schleier ihr schönes, neues Kleid.
„Wach auf", schluchzte Oliver. „Wach wieder auf, Amalia. Du darfst nicht sterben." Mit heißen Tränen auf den Wangen hob er sie sanft an sich, legte sein Gesicht an ihres. „Du darfst nicht tot sein."
Sie starb wunderschön und mit einem Lächeln.
Dann war es sehr lange dunkel und still.
Bis Oliver ferne Stimmen vernahm.
„Wach auf."
Seltsam. Das hatte er doch auch gerade gesagt.
„Wach auf, Oliver!"
Er wurde geschüttelt. Wer rief denn da so verzweifelt?
„Ich dachte, es wäre vorbei", schluchzte die ominöse Person. Es war eine Frau. Ein Mann antwortete mit tröstenden Worten und fuhrwerkte währenddessen weiter an Oliver herum.
Dem nun auffiel, dass er nicht atmete. Dass er es einfach nicht tat.
Er hatte keine Lungen mehr. Und keinen Körper.
Irgendwo brach etwas sehr laut und dann hörte er das Schlagen von Hufen.
„Um Himmels Willen!", schrie die Frau. Oliver wurde fallen gelassen.
Etwas ausgesprochen Weiches schob sich sanft über seine fahle Haut. Etwas schnaubte an seinem Ohr.
Und plötzlich schoss Leben in seinen Körper. Seine verstörte Seele wurde aus der traurigen Ecke, in der sie gehockt hatte, gerissen. Eine silberne Welle zog sie aufrecht und umringte sie mit einem kraftvollen Licht, das Olivers Körper zurückkehren ließ. Seine Lungen eingeschlossen, die sich nun aufbäumten, als hätten sie es hundert Jahren nicht getan.
Oliver richtete sich schlagartig auf und sog kalte, herbstliche Luft in seinen Mund bis er glaubte, dass keine mehr da war. Schwer atmend – aber wenigstens atmend – lehnte er sich an die Memento Moris Beine, der weiterhin seinen Freund beschnupperte.
Er hob den Blick.
Vor ihm stand seine Familie - Geraldine, Harry und John. Erste weinte noch immer, Zweiter rieb sich leichenblass über die Stirn und letzter hatte die Augen vor Furcht weit aufgerissen.
„Ich dachte, du bist tot."
„John hat dich hier gefunden." Harry hatte ein Viertel seiner Fassung wieder. Oliver sah sich um und stellte fest, dass er hinter der Scheune saß. Gleich an der Ecke, die zum Hof hinausführte.
„Wie konntest du uns das nur antun!?" Geraldine meinte das nicht böse und fiel ihrem Sohn völlig aufgelöst um den Hals. Dem war das etwas unangenehm, aber er konnte und wollte die Tränen gar nicht aufhalten. Sowieso fühlte sich sein Gesicht völlig aufgequollen an, als hätte er das Meer geweint. Harry schüttelte mit glasigen Augen den Kopf.
„Als er zu uns kam, ist es auch passiert", klärte er John auf. „Nach seiner ersten Nacht bei uns, dachten wir er wäre tot."
Damals war es Amalia gewesen, die ihn gerettet hatte. Heute Memento Mori.
„Sollen wir einen Arzt rufen oder den Priester?" Geraldine hielt Oliver an den Schultern gepackt.
„Nein, die können nichts machen...", erwiderte er in dem Wissen, dass ihr das völlig klar war. „Ich bin ja nicht besessen oder so. Und Eves Eltern haben es ja auch nie gemacht."
„Wir werden darüber reden, junger Mann", ordnete Harry streng an. Oliver sah an sich hinab. „Auf dem Boden?"
Geraldine schmunzelte und sah aus, als könne sie das alles selbst nicht fassen. „Ich glaub, ich mache uns einen Tee."
Nachdem sie aufgestanden war, fiel sie überraschend Memento Mori um den Hals. Er ließ es gelassen zu.
„Weiche ihm nie wieder von der Seite, hast du das verstanden?"
Oliver legte den Kopf schief und fragte sich, wie er den Vierbeiner die Dachbodenleiter hochbekommen sollte.
Da kam ein zweiter Vierbeiner angetrabt und begann, Oliver freudig abzuschlecken. Das beförderte den Jungen endgültig aus seiner Starre und brachte ihn sogar zum Lachen. Henry jaulte erfreut, als er gekrault wurde. Schließlich stand Oliver auf und seufzte. Sein Blick begegnete dem von John und das brach ihm beinahe das Herz.
Der Zehnjährige sah immer noch so aus, als wäre Oliver tatsächlich gestorben.
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