15. Kapitel - Die Königin und die Russen
Die Emeralder waren, was Besonderheiten in ihrer kleinen Stadt betraf, überraschend... nun ja unüberrascht. Die meisten hegten nicht so ein großes Interesse an Dingen wie Sebastian Max, waren an Eve als Straßennymphe inzwischen gewöhnt und glaubten ohnehin, dass auch Geister bei ihnen einkauften. Das sollte nun wirklich niemanden stören, denn wer bezahlte, sollte auch etwas bekommen.
Nun, wenn man es genau betrachtet, waren die Bewohner des kleinen Städtchens ganz vernarrt in ihre Seltsamkeiten. Es ließ sich fabelhaft bei Tee und Kuchen über weiße Raben, die den lieben langen Tag nur saßen und starrten, tratschen. Allein die Gerüchte, die sich um die beiden Kinder drehten, die beide völlig zerzaust in Richtung Waisenhaus liefen, waren zeitungswürdig.
Was damit ausgedrückt werden soll: Niemand schrie auf, wenn eben doch etwas Unnatürliches geschah, weil es einfach schon immer so gewesen war. Im absoluten Notfall wurde eben behauptet, dass Gott (der in Emeraldmoor manchmal mehr, manchmal weniger präsent war) dies und jenes so gewollt hatte. Die Geister taten nichts, Eve war herzensgut und die Raben waren ebenso wenig in irgendeiner Weise gefährlich. Der Bilderbuchbauer Laurenc hatte sich schnell mit ihnen abgefunden, nachdem er festgestellt hatte, dass sie seine Kürbisse in Frieden ließen.
Die Emeralder fragten nicht. Sebastian Max war kein Emeralder.
Evangeline und Oliver wurden von vielen eisblauen Augen beobachtet, während sie zu dem trostlosen Gebäude rannten, als hinge ihr Leben am seidenen Faden. Das Mädchen hörte das Flüstern ihres Gefieders, wandte sich jedoch nicht zu den Hausdächern.
Sie wollte gerade durch das Tor biegen, da hielt Oliver sie grob zurück und schob sie eilig hinter einen der steinernen Pfosten.
„Was soll denn das?", fauchte Eve empört und patschte ihm auf den Arm, der sie umschlang.
„Halt mal still", erwiderte Oliver, „Schwester Judith spricht mit jemandem."
Als Eve Ruhe gab, ließ er sie los. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich werde der Person später mein Beileid aussprechen, aber warum muss ich mich deshalb verstecken?"
„Weil es eine Fremde ist", sagte er und lunzte um den Pfosten. Eves Augen leuchteten auf. „Uh"
Nun spionierten beide auf das Waisenhausgelände.
„Tatsache", hauchte Evangeline begeistert. Neuzugänge kamen in Emeraldmoor circa aller hundert Jahre vor. Zumindest interessante Neuzugänge.
Die Parkviertelbewohner waren nicht interessant.
„Der letzte, der dich interessiert hat, war Sebastian", stellte Oliver fest, „und du siehst sofort, ob diese Frau es würdig ist, unsere Luft zu atmen."
Eve bog ein wenig die Augenbrauen bei dieser harschen Formulierung, war für eine Antwort jedoch zu sehr mit Schwester Judith Gesprächspartnerin beschäftigt. Sie war hübsch. Ein voluminöser Zopf glitt ihr über den Rücken und sie hatte schöne Haut, gefärbt wie eine Eichel. Die runde Schwester Judith überragte sie um beinahe zwei Köpfe, obwohl sie keine besonderen Schuhe trug und auch wenn sie sicher fast so alt sein musste wie Mary, sah man es ihr nicht an.
„Taste mal nach ihr", murmelte Eve, deren Magen vor Neugierde kribbelte. Oliver zog scharf die Luft ein. „Das gehört sich nicht."
„Seit wann interessiert dich denn, was sich gehört?"
„Nun, ich bin inzwischen vernünftig."
Eve musterte Oliver von oben bis unten, in seinen schiefen Kleidern mit den windgeformten Haaren und neigte dann ganz langsam den Kopf. Auf seinem Gesicht lag ein breites Grinsen.
„Gut", meinte Eve, „ich dachte schon, du seist krank."
„Lass mich mal näher ran", verlangte Oliver und schob sich nah an die Mauer. Seine Begleiterin beobachtete ihn und wäre es nicht dieser Narr, so hätte es beinahe ehrfürchtig gewirkt.
Eine Sekunde lang geschah nichts. Dann zuckte Oliver zusammen, krümmte sich und bedeckte mit den Händen seine Ohren. „Gott verdammt, ich bin schon wach."
„Doch nicht Schwester Judith!", keifte Eve leise und stellte seine Fähigkeiten in Frage. „Und Ohren zuhalten bringt nichts."
„Sie steht direkt vor ihr", empörte sich Oliver. „und ich weiß, dass das nichts bringt."
Um die allgemeine Verwirrung zu lichten: Die Seele von Eves reizender Tante klang leider wie ein Wecker.
Da drehte sich Schwester Judith plötzlich in ihre Richtung. „Kommt ihr zwei jetzt endlich hervor oder was veranstaltet ihr da?"
Sie zog ihre Uhr hervor und sah nach der Zeit.
Oliver zog eine Schnute und trabte mit Eve im Schlepptau auf die beiden Frauen zu. Die Gesichtszüge der Nonne entgleisten. „Um Himmels Willen, was ist denn mit euch passiert?"
„Wölfe", erwiderte ihre Nichte schlicht. Schwester Judith schaute die Fremde an und schrumpfte um einige Zentimeter. Diese hob eine geschwungene Augenbraue. „Wölfe?"
An der Art wie sie allein dieses Wort sagte, argwöhnte Evangeline. Es klang nicht nach Sturm und Hügeln und Wellen. Hätte Oliver sich nur nicht in der Person vertan.
„Nein nein", beteuerte Schwester Judith und warf Eve und Oliver einen bodenlosen Blick zu. „Im Emeraldwood gibt es keine Wölfe."
Eve lächelte. „Nur Bären."
„Und Einhörner", ergänzte Oliver.
Beide waren in diesem Moment davon überzeugt, dass Schwester Judith zum Satanismus wechseln würde, so wie sie gerade dampfte.
Die Neue lächelte. „Das wäre kein Problem. Einen Leoparden habe ich auch schon überlebt."
Ihre Stimme hatte Ähnlichkeit mit wunderbar schmelzender Butter.
Schwester Judith begann wieder zu strahlen. „Wisst ihr, Ms Golding ist schon sehr viel gereist."
„Nun ja", sagte gewisse Ms Golding, „küsst niemals einen Löwen, bevor er nicht gefressen hat."
Eve war davon überzeugt, dass sich ihre Tante gerade schockverliebt hatte. Dann glänzte ein Wort der vergangenen Konversation hell in ihrem Kopf auf. Mit riesengroßen Augen sah sie die fremde Schönheit an. „Golding?"
Die Angesprochene lächelte nur, weil Schwester Judith für sie sprach. „Ganz recht, ihr zwei. Das ist Ms Jasmin Golding. Cordelias Tante."
Falls es überhaupt noch nötig war, wurden Eves Augen nur noch größer. Sie hätte sich nie träumen lassen, die geheimnisvolle Person um Cordelias kostbare Geschenke je zu treffen. In ihren Erzählungen hatte sie sie immer in eine Königin verwandelt, die durch die Welten reiste und verletzte Wildtiere rettete. Manchmal hatte man ihr das geglaubt.
„Als Delias Freunde dürft ihr mich einfach Tante Jasmin nennen." Die Dame lächelte. „Ihr seid doch ihre Lebensretter, nicht wahr?"
Oliver lüftete einen Hut, den es nicht gab. „Es ist uns eine Ehre, Eure Hoheit." Kurzerhand rang sich Evangeline einen eiligen Knicks ab, weil man das vor einer Königin nun mal so machte.
Schwester Judith blickte auf ihre Taschenuhr, als würde sie abwägen, ob diese einen Wurf nach den beiden überleben würde. Augenscheinlich entschied sie sich, sie für zu wertvoll zu halten.
Tante Jasmin lachte. „Himmel, ihr seid ja drollig."
Eve neigte den Kopf. Drollig sagte man zu Mr Smith Spitz.
„Cordelia ist die Prinzessin", erläuterte Oliver, „so seid ihr die Königin. Und Euer Schloss ist in einem Baum."
Da herrschte für einen Moment Schweigen und Tante Jasmin blinzelte ganz langsam. Schwester Judith knurrte wie ein großer Hund. „Ihr müsst sie auch gleich vergraulen, nicht wahr?"
Evangeline hob die Nase. „Die Parkvierteleute haben wir mehr verstört und die sind auch noch da."
Ihre Tante wiegte den Kopf, als wäre das tatsächlich ein Argument.
Die Königin lachte. „Keine Sorge, ihr könnt mich nicht vergraulen. Wer den Dschungel gesehen hat, überlebt alles."
Und da sahen sich die drei Emeralder ganz verschworen an, als wüssten sie um etwas, das Tante Jasmin verborgen blieb.
Eve beschloss, dem Neuzugang bald das Kunsteck vorzustellen.
Oliver kehrte zu Wichtigerem zurück. „Sie sind wohl hier, um nach Cordelia zu sehen?"
Tante Jasmin lächelte ganz warm. „Nun, ich bin mehr hier um sie nach Hause zu bringen."
„Sie hat kein Zuhause", platzte es aus Eve heraus. Es klang so trocken, dass Schwester Judith ihr einen verstörten Blick zuwarf.
„Ich denke nur, dass sie es nicht weiß", erwiderte Tante Jasmin lächelnd und wurde von dem Mädchen sehr skeptisch angesehen.
Sie machten sich auf den Weg ins Waisenhaus.
„Sie müssen gut sein, wissen Sie", sagte Oliver beim Gehen, „wir waren in den letzten Jahren ein gutes Zuhause."
Evangeline musste lächeln.
„Das glaub ich gern", erwiderte Tante Jasmin. Ähnlich wie Eve hatte sie ein deutlich erkennbares Strahlen an sich, kupfern wie die Schätze aus sandverschütteten Höhlen. Gemeinsam verwandelten sie das Waisenhaus in eine sonnendurchflutete Kathedrale und wer das nicht sah, der spürte es zumindest.
Schwester Judith lächelte so herzlich wie wohl noch nie, als sie sich zu ihren Begleitern drehte. „Ich würde sagen, wir klären die Förmlichkeiten, die euch ohnehin nicht interessieren und ihr geht Cordelia angemessen auf die Überraschung vorbereiten. Eve, was sollen die Federn?"
Ihre Nichte betrachtete besagte Federn, als wäre sie selbst nicht so sicher. Dann streckte sie sie Tante Jasmin hin. „Eigentlich waren sie als Willkommensgeschenk gedacht."
Als die Frau nach ihnen griff, zog sie sie wieder zurück. „Aber nun nicht mehr."
„Oh, wieso. Die sind recht hübsch." Tante Jasmin wirkte verwirrt. Evangeline zog das Gesicht, das man zog, wenn man im Begriff war, sich das größte Seemannsgarn von der Seele zu wickeln. „Nun, Sie würden bei einer Berührung zu Schnee zerfallen."
„Darum bringst du sie meiner Nichte."
„Wenn Cordelia ihren Kleiderschrank küsst, verwandeln sich die Federn in drei Frösche. Bis später, meine Königin."
Evangeline drehte sich um und ging auf den Turm zu. Oliver nickte den Damen charmant zu. „Übrigens ist die Tür doch recht unhöflich. Die Prinzessin bevorzugt die Strickleiter."
„Die wa-", wollte Schwester Judith wettern, doch da war er schon auf halbem Weg zu Eve.
„Sie klingt nach Regen, Eve. Weit entfernter, schöner Regen", meinte Oliver auf der engen Turmtreppe, die ihn sicherlich mit jedem Schritt unwiederbringlich verschlucken würde.
„Oliver, du bist so ein Frechdachs. Wie kannst du nur nach ihrer Seele tasten?", erwiderte Eve empört und wich den vertrauensunwürdigen Stufen aus.
„Weißt du, du hast einen Vogel." Oliver spürte das Holz unter seinem Fuß nachgeben.
„Kolibri, wenn du es genau wissen willst." Eve beschloss, ein wenig zu schweben.
„Ente." Oliver vermisste die Strickleiter.
Kurz vor der trostlosen Tür an der trostlosen Wand in dem trostlosen Turm stockte Evangeline, weil ihr Geist ihr Streiche spielte. Was, wenn das Fenster offenstand und die Vorhänge im Wind wehten? Wenn das Zimmer leer war und Cordelia für immer fort?
Eve wollten schon Tränen in die Augen steigen, als Oliver die Tür aufriss, weil Privatsphäre ihn nichts anging. Als ihnen Schneeflocken entgegenkamen, vergaß Eve vor Überraschung, was sie befürchtet hatte und ließ sich bereitwillig von Oliver in das kleine Zimmer schieben.
Cordelia – völlig unversehrt – starrte die beiden ebenso ratlos an.
„Donnerwetter." Oliver sah sich begeistert um. „Frau Holle muss ja arg verärgert sein."
Die beiden stiegen über ein kleines Häufchen Weiß auf ihre Freundin zu.
„Sei bloß nicht sauer", verteidigte sich Cordelia, „ich habe nur von der Reimwelt geträumt."
„Ruhig Blut", erwiderte Eve beruhigend, während sie feststellte, dass es immer noch schneite, „ich war heute Morgen selbst dort."
Die Mädchen umarmten sich.
„Bei Sebastian hat es auch geschneit", erzählte die Träumerin. Hinter ihr beendete Oliver seine Mission, mit der Zunge Schneeflocken zu fangen und stellte sich neben sie. „Wann können wir eigentlich sagen, dass etwas nicht normal ist?"
Eve kniete sich nachdenklich hin und wühlte im Schnee. Er war nicht kalt. „Kein Grund zur Sorge. Er ist noch weiß."
„Ich sorge mich nicht, ich stelle nur die Grenzen in Frage."
„Gibt keine Grenzen."
Als Eve Cordelia ansah, blickte die beinahe bohrend zurück. „Weißt du etwas, das wir nicht wissen?"
„Ach, ich weiß nichts." Die Träumerin richtete sich auf. „Aber die Reimwelt wirkt irgendwie verschoben."
„Ist das die Welt, in die Cordelia immer hüpft, wenn sie mit dem Tod fangen spielt?", fragte Oliver und wurde im nächsten Moment staunend von Eve und Cordelia betrachtet. Er zuckte die Schultern. „Ich bin raffiniert, wisst ihr?"
Die Mädchen sahen sich an und verdrehten einvernehmlich die Augen. Der Junge verzog das Gesicht. „Frech. Meinetwegen, warum ist diese Reimwelt verschoben?"
„Die 100-Dollar Frage, Mr Blueman."
„Anders, warum geht uns das was an?"
„Weil uns langweilig ist."
„Akzeptiert."
Evangeline entschied, den Spaß kurz bleiben zu lassen und sah Oliver direkt an. „Ich würde nur gern herausfinden, warum sie jetzt so laut ist. Und sich scheinbar bemerkbar macht." Sie wies um sich. „Zwielicht und das Rudel sind unruhig, weshalb ich glaube, dass sie auch nicht wissen, warum das alles passiert."
Oliver nickte, als würde er voll und ganz mitkommen. „Wer ist Zwielicht?"
„Meine Wölfin. Ihr müsst die Federn berühren." Eve hielt den anderen ihre Mitbringsel unter die Nase.
Cordelia sah sehr skeptisch aus, nahm ihre jedoch entgegen und wurde dabei von Eve sehr gruselig beobachtet. Es vergingen einige Sekunden und nichts geschah.
„Und nun?", fragte das Mädchen und drehte den Stiel zwischen den Fingern hin und her.
„Kannst du sie mir vielleicht wegnehmen?", fragte Oliver, der seine Feder ebenfalls in der Hand hatte. „Sie ist eiskalt."
Evangeline betrachtete begeistert sein weißes Exemplar und wanderte dann wieder zurück zu Cordelias.
„Nanu", entfuhr es ihr. Auch ihre Freundin schaute auf ihre Feder und ihre Augen weiteten sich. Diese war nämlich auf einmal pechschwarz.
„So lob ich mir eine gescheite Rabenfeder aber", sagte Oliver und legte seine auf das Bett. „Die kann sich aber keiner lange antun, meine Finger sind schon ganz blau."
„Aber sie sind nicht zu Schnee zerfallen", murmelte Eve nachdenklich. Oliver grinste. „Liegt ja auch schon genug."
In dem Moment ging die Tür auf. Offenbar war Schwester Judith ebenfalls nicht mit der Privatsphäre bekannt. Sie polterte in den Raum und sah wahrscheinlich genauso aus wie Eve und Oliver einige Minuten zuvor.
„Um Himmels Willen."
Evangeline verzog das Gesicht. „Weißt du, Satanismus sieht anders aus."
Doch ihre Tante schien gar nicht zuzuhören, sondern sah sich nur um. „Das präsentieren wir unserem Gast nicht." Ihr Blick fiel auf Cordelia. „Hast du gepackt?"
„Gepackt? Wofür?"
Da verfinsterte sich der Blick der älteren Frau doch. „Was habt ihr denn bitte hier getrieben?"
„Schneeflocken gezählt", erwiderte Evangeline lahm.
Schwester Judith sah auf die Uhr. „Gut, gut, dann kommen jetzt erstmal alle runter und ihr holt die Sachen heute Abend. Aber bloß kein Wort über den..." Sie seufzte lang und musterte die weißen Flocken mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen. „...über all das hier."
Eve legte den Kopf schief und hätte jetzt gern die Gedanken ihrer Tante gelesen.
Ohne Widerstand zu leisten trabten die drei vor der Nonne die Treppe hinab. Für einen Moment schob die Träumerin die Gedanken zu ihrer Reimwelt zur Seite und war gespannt auf das Treffen zwischen Cordelia und Tante Jasmin.
Die hübsche Frau wartete mit dem Rücken zu ihnen im Foyer. Als Cordelia sie sah, schlug sie die Hand vor den Mund und doch konnte man die Schnappatmung in den weiten Hallen hören. Eve lächelte, sowie auch Schwester Judith und Oliver. Bei dem Geräusch drehte sich Tante Jasmin um und es war ihrem Gesicht abzulesen, dass sie nicht wusste, wie ihre Nichte reagieren sollte. Doch als diese eiligst loslief, riss sie die Arme auf und ganz gleich wie sehr Eve oder Tante Jasmin strahlen konnten – die Sonne die in diesem Moment aufging, war die Strahlendste, die das Waisenhaus je gespürt hatte.
Cordelia riss Tante Jasmin beinahe von den Füßen.
Schwester Judith tupfte sich ein paar Tränen von den Wangen.
Eve und Oliver grinsten sich an.
Während sie Cordelias Sprint gemächlich zurücklegten, lösten sie die Frischvereinten langsam und sahen einander an, wie im Traum.
„Ms Golding war das letzte Mal vor vielen Jahren hier, da lebte ihr Bruder noch." Schwester Judith bewahrte tapfer ihre Fassung. „Ich hätte nie gedacht, dass sie eines Tages herziehen würde."
Evangeline erinnerte sich an den regen Briefwechsel zwischen Cordelia und ihrer Tante, die ihr stets schöne Dinge geschickt hatte. Hatte in einem je gestanden, wie sie sich fühlte? Wäre die Königin dann eher in das verwunschene Reich gekommen?
„Du kommst mit mir, meine Delia", flüsterte Tante Jasmin lächelnd und sah so glücklich noch tausend Mal jünger aus. In Cordelias grünen Augen standen Tränen wie Tau auf frischem Moos. „Aber wohin denn, liebe Tante?"
Jasmin bedachte sie noch einmal mit einem zärtlichen Blick, ehe sie sich an Schwester Judith wandte. „Ihr habt es ihr nie erzählt?"
„Ihre Eltern baten uns damals vor zwölf Jahren darum. Sollte ihnen je etwas geschehen, würde Cordelia erst von Ihnen davon erfahren." Sie lächelte. „Darum hoffte ich stets, dass Sie eines Tages kommen würden."
Tante Jasmins Augen wurden dunkel. „Ich habe wochenlange getrauert, aber es war mir nicht möglich, zu der Beerdigung zu erscheinen. Nun, es gab wohl auch keine richtige."
Es herrschte Schweigen. Evangeline musterte Cordelia, die ebenso geknickt aussah wie ihr Familienmitglied. Doch sie sah nicht aus wie sonst, wenn ihre Eltern zur Sprache kamen. Da stand eine Hoffnung zwischen ihnen, wohl stärker als alles, was je existiert hatte.
„Mh", machte Oliver, als der Moment etwas sehr lang wurde, „frage ich jetzt nach dem millionenschweren Erbe oder ist das unhöflich?"
Cordelia hob den Kopf und ließ das Feuer züngeln, dass sie in Gegenwart ihres Freundes oft an den Tag legte. „Du bist auch immer ein Scherzkeks, nicht wahr?"
„Hauptberuflich trotzdem Grasinspekteur." Er grinste selig.
Tante Jasmin lachte glockenhell. „Ich merk schon, ihr seid eine ganz außergewöhnliche Truppe." Sie wandte sich an ihre Nichte. „Aber ganz unrecht hat er nicht. Glaubtest du tatsächlich all die Jahre, deine Eltern hätten dir nichts vererbt?"
„Nun, alles was ich gewollt hätte, wurde zerstört." Cordelia legte den Kopf schief und ihr Blick wechselte zwischen Tante Jasmin und Schwester Judith hin und her. „Darf ich erfahren, worum es sich handelt?"
Die Frauen nickten einander feierlich zu und steigerten die Spannung noch mehr.
„Delia, du besitzt ein Haus in dieser Stadt." Die Königin schaute sie eindringlich an. „Sicher kennst du es, man kann es nicht übersehen."
Die Nonne neben ihr zwinkerte verschwörerisch. „Das letzte vor dem Emeraldwood."
Bei den dreien fiel so ziemlich gleichzeitig der Groschen, doch Eve sprach es letztendlich aus. „Das Feenhaus?"
Evangeline wusste nicht, was sie denken sollte. Es gab doch Gesetze in Emeraldmoor. Nicht zu Papier gebracht, aber dafür versteckt zwischen den Winden und fließend durch die Wasser. So durfte niemand Fogstone auf seinem Thron stören oder – nun ja – dem Feenhaus zu Nahe kommen. Außerdem gehörte weder die Burg jemandem, noch die gruselige Villa. Das hatte Eve zumindest geglaubt. Das Feenhaus war auf seine Weise wild und unnahbar, ein Phänomen, von dem keiner wusste, wo es herkam. Es war da gewesen vor Zeit und Raum.
Und nun gehörte es Cordelia.
Außerdem war es gebaut worden.
Eve entschied, das nicht einzusehen. Darum nahm sie die dringende Maßnahme vor, Schwester Judith auf dem ganzen Weg zum Stadtrand grimmig anzufunkeln. Diese jedoch war viel zu sehr damit beschäftigt, Tante Jasmin anzuhimmeln, als wäre diese Gott höchst persönlich. Es fiel der Nonne ausgesprochen schwer, einen höflichen Abstand zwischen sich und Cordelia und Jasmin einzuhalten. Oliver ergriff die Chance der familiären Zweisamkeit und zog Eve ein bisschen zur Seite.
Sie gab es auf, Schwester Judith zu strafen, weil diese daran sowieso nicht interessiert war und widmete sich dem Lockenkopf. „Sie wünschen?"
Oliver legte den Kopf schief, als müsse sie genau wissen, worum es ging. „Die Reimwelt also."
„Durchaus, durchaus", erwiderte Eve schlicht. Es entstand eine kleine Pause.
„Ich möchte schon gern wissen, was es damit auf sich hat."
Seine Begleiterin zuckte mit den Schultern. Sie fand, dass man den Ort, den sie seit Anbeginn ihres Daseins kannte, nicht erklären sollte. Dass sie ihn damit auf ein unwürdiges Minimum herunterbrechen würde, weil es nicht des Menschen Recht war ihn in Worte zu fassen. Einem Künstler – egal welcher Form – müsste sie die Reimwelt nicht beibringen.
„Weißt du...", begann sie langsam, ...sie wird von jedem anders empfunden, vermute ich." Evangeline formte mit ihren Händen eine Kugel. „Sie ist der Ort, wo die künstlerische Ader einer Person zuhause ist. Wo sich Gedichte, Gemälde oder Märchen manifestieren."
„Also eine Bibliothek, die auch eine Galerie ist", schlussfolgerte Oliver. Eve verzog das Gesicht, weil so ein Vergleich beinahe körperliche Schmerzen verursachte. „Nein, nein, nein. Hör mal, mir zeigt sich die Reimwelt oft als gläserner Wald voller Schnee."
„Warum?"
„Das weiß ich nicht."
„Warum weißt du das nicht?"
Eve zog mürrisch die Augenbrauen zusammen. „Sehe ich so aus, als hätte ich sie studiert?"
„Du hast sie doch benannt."
„Kunst hat viele Namen. Meine ist nun mal das Reimen und Träumen."
„Warum dann Reimwelt und nicht Traumwelt?"
„Weil Sphinx kein Traum ist."
„Wer ist Sphinx?"
„Mein Sonnentropfen."
„Warum hast du einen Sonnentropfen?"
Da blieb Eve stehen, seufzte und schaute Oliver tief in die Augen. „Nächstes Mal nehme ich dich einfach mit."
Es verging ein Augenblick bis er zufrieden nickte.
Sie setzten sich wieder in Bewegung, die anderen hatten ihr Halten nicht bemerkt.
„Weißt du, ich kannte mal jemanden..." Oliver fuhr sich durch das wüste Haar, „...der wollte so eine Welt wie deine Reimwelt finden."
Evangeline lachte. „Nun, dafür muss er nur ein Buch aufschlagen oder ein Bild zeichnen."
„Oh nein...", hauchte Oliver abwesend, „das war ihm nicht genug."
Sie schnaubte. „Mehr ist da aber nicht."
Zumindest nicht für andere Menschen als Eve und seit kurzem Cordelia, obwohl zurzeit ohnehin mehr von der Welt aus Tinte und Farben zu spüren war als je zuvor.
Oliver wirkte inzwischen sehr grüblerisch. „Hast du eigentlich je in Erwägung gezogen, dass du in der Reimwelt geboren wurdest?"
Das traf Eve unerwartet und jagte wie ein Blitz durch ihre Eingeweide. Als sie verstanden hatte, was ihr Freund gerade von sich gegeben hatte, formte sich ihr Gesicht zu Unglauben, Verwirrung und schnell danach Ablehnung. Doch bevor sie ihm mitteilen konnte, dass es eine Leistung war, vor ihr etwas so Absurdes auszusprechen, kam ihr kleiner Zug zum Stehen.
Vor ihnen ragte das Feenhaus in den Himmel.
„Ai", sagte Tante Jasmin und wirkte ein wenig geschockt. Schwester Judith, die offenbar lange nicht mehr in der Nähe der Villa gewesen war, wandte sich rasant zu ihrer Nichte um. „Feenhaus?!"
Eve verdrehte die Augen. „Ihr irrt euch gewaltig in diesen Geschöpfen."
Oliver stemmte die Hände in die Seiten. „Nun... gemütlich."
Tante Jasmin rang sichtlich mit Worten. „Ich... Ich habe es nie mit eigenen Augen gesehen, um ehrlich zu sein, aber das..." Sie verlieh mit ausladenden Armbewegungen ihrer Empörung Ausdruck. „Warum denn so düster?"
Eve verzog argwöhnisch das Gesicht. „Wir lieben das Feenhaus."
Cordelia legte ihrer Tante beruhigend die Hand auf den Arm. „Es lässt sich sicher herrichten."
Jasmin verschränkte die Arme vor der Brust. „Sammy, was hast du dir nur dabei gedacht?"
Für den nächsten Moment schwiegen alle, als würde Cordelias verstorbene Mutter tatsächlich antworten.
„Können wir hinein?" Evangeline war ausgesprochen neugierig.
Tante Jasmin drehte sich um und hatte ihre bezaubernde Art wieder voll hergestellt. „Nein, nein. So enttäuschend diese Gestalt auch ist, ich werde mich mit allen Mitteln darum kümmern." Sie nahm lächelnd die Hände ihrer Nichte in ihre. „Und dann führe ich dich endlich in dein neues Zuhause." Ihr Blick wanderte zu Schwester Judith. „Bis dahin finden wir sicher eine nette Bleibe in der Stadt."
Eves Verwandtschaft nickte so eifrig, dass man nur hoffen konnte, dass sich ihr Kopf nicht von den Schultern löste.
„Also treten wir wieder den Rückzug an", besiegelte Oliver das Thema und drehte sich schon auf dem Absatz um. Doch Tante Jasmin schüttelte den Kopf. „Ich würde gerne noch ein Stück mit Eve spazieren."
Diese sah bei diesen Worten verstörter aus, als sie beabsichtigt hatte. „Mit mir?"
Tante Jasmin lachte und schaute sich um. „Gibt es hier denn noch eine andere Eve?"
Die Träumerin warf ihrer Freundin einen unsicheren Blick zu, doch Cordelia nickte gutmütig. Jasmin machte sich bereits auf den Weg in Richtung Wald und so blieb Eve nichts anderes übrig, als ihr verwirrt zu folgen.
Die kurze Streckte bis zum Waldrand sagten sie nichts, was ein wenig unangenehm war. Eve war unschlüssig, wie sie sich fühlen sollte. Warum in aller Welt wollte Cordelias Tante mit ihr sprechen?
Unter den ersten Baumkronen brach die Erwachsene schließlich das Schweigen. „Soweit ich weiß, bist du ihre liebste Freundin." Sie sah sich interessiert um, als wäre der Emeraldwood ein verzauberter Wald.
„Durchaus", erwiderte Eve höflich und verzichtete darauf, zu erwähnen, dass sie Cordelias einzige Freundin war. Vermutlich wusste die Dame das ohnehin schon.
„Aha", meinte Tante Jasmin ausdruckslos und im nächsten Moment wusste keine etwas zu sagen. Es entstand eine seltsame Spannung, die Eve hibbelig machte. Da war etwas, das gesagt werden musste und es war davon auszugehen, dass es nichts Schönes war. Der Elefant im Porzellanladen.
Das jeweilige Strahlen der Frauen flackerte wie eine vom Wind gepeinigte Flamme. Eve ließ ihren Blick ruhig über die Bäume wandern und lauschte den vielen Geräuschen, die sie umgaben. Die Luft roch nach uralter Weisheit.
„Und dennoch", setzte Tante Jasmin an und faltete die Hände, „war sie gewillt, sich umzubringen."
Ein kühler Windstoß fuhr über den Waldweg und wirbelte Eves wildes Haar auf, zudem schienen die Bäume zu erbeben. Beinahe rechnete Eve mit einem Donner, der über ihnen aufbrüllte. Die Reimwelt war wohl so nah, dass ihre Reaktion in die wahre Welt sickerte. Die Träumerin wusste nicht, ob das schlecht war.
„Suizid", sagte Tante Jasmin trocken, als Eve nicht reagierte.
„Ich habe dich schon gehört", murmelte diese, ohne dabei aufzusehen. Ihre Seele knotete sich vor Unbehagen zusammen wie eine Brezel und bat um Themawechsel.
„Evangeline... warum?" Aus irgendeinem Grund klang die Frau kälter und Eve fühlte sich eingekesselt von versteckten Vorwürfen und lauernder Schuld.
„Ich weiß es nicht", erwiderte sie lahm und knetete ihr Nachthemd.
„Das glaube ich dir nicht."
Es entstand eine lange Pause, weil Eve nicht gewillt war, mehr zu sagen. Am liebsten wäre sie davongelaufen und hätte sich im Moor versteckt. Deswegen war Tante Jasmin mit ihr hergekommen, um sie zur Rechenschaft zu ziehen?
„Nun sag schon, du bist doch nicht dumm."
Eve glaubte, die Zähne zu fletschen wie ein Wolf, als sie sich zu ihrer Begleitung umwandte. „Nun, vielleicht hatte sie einen Geliebten aus einer anderen Welt und wollte zu ihm."
Das sollte wie ein alberner Scherz klingen. Tante Jasmin war ohnehin zu kurz da, um darin irgendetwas anderes zu sehen. Doch sie ließ sich nicht auf die Provokation ein, ihre Stimme war zwar eisig, aber blieb ruhig.
„Selbst sowas ist eigentlich für niemanden ein Grund, sich von einer Klippe zu stürzen."
Eve kaute auf ihrer Unterlippe herum und ihr Geist zwang sie zurück auf den schwarzen Steig. Die Hand, die sie ausgestreckt hatte, den Namen, den sie gerufen hätte.
„Woher willst du das denn wissen?", fragte sie mit zittriger Stimme.
„Weil es weiß Gott viele Männer gibt, aber nur eine Cordelia. Der logische Verstand hätte sie auf einen anderen vertröstet, aber die Bande zu dieser Welt wären nicht wegen eines daher gelaufenen Mannes gerissen. Oh nein, nicht bei meiner starken Cordelia." Tante Jasmin schüttelte energisch den Kopf, während Evangeline sie aus großen, verzweifelten Augen anschaute.
Die Dame aus fremden Landen seufzte. „Weißt du, warum sich Menschen das Leben nehmen?"
Evangeline schüttelte den Kopf, weil sie sich von vorne herein weigerte, darüber nachzudenken.
Tante Jasmin sah das, zwang sie aber nicht zu einer Antwort. „Weil sie sich wertlos fühlen, nicht geschätzt. Sie glauben, ohne sie wären sowieso alle viel besser dran und dass sie nur eine Last sind." Ihre goldenen Augen waren in Dunkelheit getaucht. „Ihr könnt kein besonders gutes Zuhause gewesen sein."
Evangeline fühlte sich, als wäre sie verprügelt worden. Mit jedem Wort war sie schlimmer getroffen worden.
„Ich wusste nicht, wie", flüsterte sie. Sie erinnerte sich an das Gespräch mit Cordelia im Glaswald. Ihre Freundin hatte ihr genau das vorgeworfen. Nie hatten sie Anstalten gemacht, sich wirklich für sie zu interessieren. Waren davon ausgegangen, dass es sich von selbst legte, versuchten sogar, es totzuschweigen. Wortwörtlich.
Dass sie ihr immer und immer wieder gesagt hatte, sie wolle sterben.
„Wir wollten ihr nicht weh tun, indem wir fragen." Eve wusste, dass das keine Entschuldigung war und eigentlich wusste sie auch nicht, warum sie diskutieren wollte.
Tante Jasmin legte den Kopf schief und offenbar hatte sich ihre Wut gelegt. „Manchmal muss man die Menschen zwingen, zu reden und ihnen wehtun. Ihnen die Augen öffnen und immer wieder damit quälen, bis es ihnen leichter fällt. Du wusstest doch, dass es meine Nichte zerfrisst."
Eves Gesicht war versteinert, doch sie fühlte eine Träne über ihre Wange laufen. „So wurde es wenigstens nicht real."
Sie schämte sich nun dafür, den Emeraldern vorgeworfen zu haben, sie würden nicht zuhören.
Nun sah auch Tante Jasmin traurig aus. „Eve, du bist mit Schmerz vertraut, nicht wahr?"
Auch daran wollte sie nicht erinnert werden, weil es ohnehin niemand zu wissen brauchte.
„Er wurde mir aber nicht im Laufe des Lebens gegeben." Sie zuckte müde die Schultern. „Er war einfach schon immer da."
Sie hatte Cordelia oder Oliver nie erzählt, wie sie manche Nächte in Tränen ausbrach und sich gefühlt hatte, als würden ihr mehrere Knochen fehlen. Sie hatte nie einsehen wollen, dass es immer geschah, wenn die Sehnsucht sie sehr intensiv gepeinigt hatte.
„Hast du jemanden verloren?", fragte Tante Jasmin. Evangeline schüttelte leicht den Kopf. „Es gibt nur viele Gedichte."
„Gedichte? Du schreibst?"
„Manche bluten oder schreien", sagte Eve. „Ich habe nie verstanden, weshalb."
„Sammys Bilder haben auch manchmal geblutet oder geschrien." Tante Jasmin sah in die Baumkronen, als könne sie Cordelias Mutter darin sehen. „Wenn ich eines von meiner Schwägerin gelernt habe, dann, dass es, wenn Künstler glücklich wären, keine Kunst gäbe."
Eve sah überrascht auf, wollte protestieren und ließ es bleiben. Es klang einfach viel zu wahr.
„Es ist ertragbar", war alles, was sie hervorbrachte.
„Für Künstler schon, doch nicht für Sterbliche." Tante Jasmin strich ihr Kleid glatt. „Wir können unsere Empfindungen nicht in Reime oder Pinselstriche stecken, sondern müssen mit ihnen kämpfen. Die meisten verlieren."
Es entstand wieder eine Pause, aber ohne Elefant. Schließlich sprach Eve aus, was Tante Jasmin von ihr erwartete.
„Cordelia hat verloren."
„Angenommen, sie hat es wegen einem Mann getan, dann hat er ihr mehr das Gefühl gegeben, kein Fehler zu sein, als ihr. Anders kann ich mir das nicht erklären."
Das tat wieder sehr weh. Eve wusste, dass sie sich bemüht hatten, aber offenbar nicht auf die richtige Weise.
„Warum quälst du mich jetzt?", fragte sie.
„Um dir die Augen zu öffnen." Tante Jasmin lächelte ganz leicht.
Eve wartete, dass noch etwas folgte, doch da war nichts. Sie zuckte die Schultern. „Und nun?"
„Glaubst du denn, es ist noch Zeit, etwas zu ändern?"
Und so standen sie da in dem Emeraldwood und Eve hatte etwas lernen können. Trotz der kurzen Zeit, die sie Tante Jasmin kannte, stand nun fest, dass sie Freunde waren.
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Sie kehrten in die Stadt zurück und trafen auf der Oststraße auf Bilderbuchbauer Laurenc. Dieser schob sich gerade den Hut zurecht. „Es wird wohl immer eigenartiger."
Tante Jasmin blieb stehen. „Werter Herr."
Laurenc sah auf und wäre beinahe gegen die nächste Laterne gelaufen. Er war schon vielen Frauen begegnet, sogar schon mehrmals und er kannte sie alle beim Namen wie seine Hühner. Doch diese Dame war ihm noch nie untergekommen und sicher hatte er ihr noch nie ein paar Eier geschenkt. Das gefiel den meisten Frauen nämlich und er war ja ein feiner Kerl.
Die, die er kannte, waren auf ihre Weise hübsch anzusehen, aber wen er da vor sich hatte – das war eine ganz andere Erfahrung.
„Da muss uns wohl eine Göttin vom Himmel gekommen sein", murmelte er und wurde ein bisschen rot.
Evangelien grinste. Sie mochte Bilderbuchbauer Laurenc, weil er ein bisschen trottelig war und ein gutes Herz hatte.
Tante Jasmin lachte und verstreute damit Gold auf dem Weg. „Sie schmeicheln mir. Ich wollte nur wissen, warum sie so zerstreut wirken."
Bilderbuchbauer Laurenc wurde noch roter und hatte nun seine Kappe in der Hand, um damit rumzuspielen. Sein Blick fiel auf Eve. „Mädchen, du bist doch Expertin für seltsames Zeug."
„Du kennst die Raben doch inzwischen."
„Jaja, die weißen Viecher." Laurenc schüttelte energisch den Kopf. „Aber dass die Russen kommen, hätte ich ja nie gedacht."
Darauf wusste Eve keine Antwort und schaute nur verwirrt.
„Na, schaut es euch einfach an. Auf dem Platz, die Nonnentrulla steht da auch schon und guckt." Bilderbuchbauer Laurenc lüftete mit Kappe in der Hand seine Kappe. „Muss jetzt auch wieder. Madame, wenn sie mal ein paar Eier brauchen, fragen sie ruhig mich. Die von Berta sind die besten."
Nun wurde Tante Jasmin ein wenig rot und bedankte sich. Laurenc trotte weiter.
„Weißt du, ich kenne mich auf dem Land in keiner Weise aus", meinte Tante Jasmin, als er außer Hörweite war, „aber ich würde eher eine Kuh Berta nennen."
„Ne, seine Kuh heißt Sofia."
„Und so würde ich ein Huhn nennen."
„Ist beides gut. Ei und Milch. Der Hahn heißt übrigens Manfred."
Die beiden Frauen lachten sich an und machten sich dann eilig auf den Weg zum Marktplatz. Bereits vor der Schneiderei hörten sie Gesang – russischen Gesang.
Tante Jasmin und Eve warfen sich einen fragenden Blick zu, ehe sie am Ziel angekommen waren. Wie festgewurzelt standen sie da und beobachteten fasziniert die Szenerie.
In der roten Abenddämmerung schlurften neun Soldaten auf den Platz, zwei von ihnen schleppten einen zehnten. Sie sahen allesamt ramponiert aus, mit schlecht gewickelten Wunden und humpelndem Gang. Die, die konnten, sangen. Das Lied klang melancholisch und traurig. Eve wollten bei dem Anblick Tränen in die Augen steigen.
„Findest du nicht auch, die sehen etwas... eigenartig aus?" Tante Jasmin zog die Augenbrauen zusammen. Tatsächlich wirkte die kleine Armee ein wenig durchscheinend und verblasst. Ihre Uniform war beinahe farblos und ihre Gesichter fahl.
Die beiden huschten zu der Nonnentrulla Schwester Judith, die bei Oliver und Cordelia stand. Mr Greyshire und auch einige andere Schaulustige waren ebenfalls da.
„Was ist los?"
Schwester Judith sah sehr ratlos aus. „Weiß doch keiner. Sie singen pausenlos und laufen im Kreis."
Oliver formte mit seinen Fingern ein Kreuz. „Es ist verdammt unheimlich."
„Geister also", schlussfolgerte Tante Jasmin.
In dem Moment sahen Eve und Oliver sich an und wussten sofort: Nein, keine Geister.
„Es klingt schön", meinte Cordelia überraschend und nach einigem Überlegen stimmten die Anwesenden mit einem Kopfnicken und leisem Gemurmel zu.
„Aber eben auch traurig", ergänzte Eve.
Und als die Emeralder die kleine Truppe als ungefährlich eingestuft hatte, setzten sie sich nur auf Bänke und schauten aus den Fenstern, um dem Gesang zu lauschen. Es war grotesk und eigenartig, doch es war ja sowieso niemand mit einer Erklärung da.
Als der letzte Strahl der Sonne über den Dächern verschwunden war und der Marktplatz in Dunkelheit getaucht wurde, verschwanden die russischen Soldaten, als wären sie nie da gewesen.
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