14. Kapitel - Der Reimwelt Herzschlag
An diesem Montag wachte Eve zeitig auf. Nicht so zeitig, dass sie es noch zur ersten Schulstunde geschafft hätte, aber dennoch zeitig genug, dass die Sonne gerade erst ihre Strahlen glattgestrichen hatte. Heute durften alle Kinder zuhause bleiben, weil die Stadt noch einen Tag länger brauchte, um Aufzuatmen.
Das Mädchen schlug die Augen auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie erinnerte sich an einen Traum, der sie sehr eingenommen hatte, doch der Inhalt flog augenblicklich davon, quetschte sich am Fensterrahmen vorbei und verschwand im neuen Tag. Eve rappelte sich auf und rieb sich über das Gesicht. Durch ihren Körper ging ein seltsames Pochen. Es vergingen ein paar Sekunden bis sie erkannte, dass sie besorgt war. Allerdings konnte sie nicht deuten, weshalb. Ein Nachgeschmack des Traums?
Sie blinzelte zu ihrer Schreibkommode. Ehemals war diese ein Regal gewesen, da im Zimmer kaum Platz für ein Pult war. Eves Vater hatte einfach ein breites Holzbrett weiß bemalt, mit Rosenblüten verziert und an das Regal gebaut. Man konnte sie sogar hochklappen. Im Laufe der Jahre waren noch Stiftkästchen, Holzordner und eine Schublade nur für Schreibfedern hinzugekommen. Inzwischen wirkte die Schreibkommode sogar größer als Eves Kleiderschrank. Für sie hatte sie auch bei Weitem mehr Wert.
Sie erinnerte sich daran, dass sie am Vorabend ein altes Gedicht gelesen hatte. Wahrscheinlich musste sie es in sehr jungem Alter verfasst haben und war zufällig in einem unbearbeitetem Papierstapel darauf gestoßen. Es bestand nur aus vier Strophen.
Ich bin ein kleiner Sonnentropfen,
gefallen in eine weiße Nacht.
Neugierig auf diese Welt,
habe ich mich auf den Weg gemacht.
Ich verwandelte mein gülden Schein,
streckte ausgiebig meine Gestalt,
Stand mit Pfoten tief in Schnee,
umgeben von ein silbern Wald.
Kälte traf mich unerwartet,
alles zog sich mir zusammen.
Und plötzlich wurden Schatten wach,
unterm Monde mich zu fangen.
Ich bin ein kleiner Sonnentropfen,
auf der Flucht vor ihren Krallen.
Zusammengerollt, dem Tode nah,
wünscht ich, ich wäre nie gefallen.
Evangeline hielt das Papier zwischen den Händen und irgendetwas in ihrem Kopf hämmerte, auf dass sie endlich begriff. Doch sie war benommen von der Nacht, fühlte sich noch wie im Traum. Ihr Blick wanderte beiläufig auf das Fensterbrett, wo sich goldene Punkte auf dem hellen Holz ergossen. Dann sah sie auf die silbernen Scherben, die sie mit fünf Jahren aus dem Bach hinterm Haus gefischt hatte. Sie schillerten wie Regenbögen im Licht, hauchdünnen Diamanten gleich.
Unerklärbar.
Eve stürzte aus ihrem Zimmer und eilte die Treppe herab. Sofort war sie bei der Haustür, zog sich die Schuhe an und warf sich den Mantel über.
„Eve!", rief Mary und stand ihr mit einem Teller in der Hand gegenüber.
„Ich muss...", begann Eve, doch dann wusste sie nicht weiter. Ja, sie musste etwas. Sie fühlte es ganz deutlich, doch es war kein Gedanke.
„Du trägst dein Nachthemd, Kind", sagte ihre Mutter, als wäre sie übergeschnappt.
„Keine Zeit", drängte Eve und riss die Tür auf. „Ich muss die Biester aufhalten." Damit war sie auch schon außer Haus und ließ Mary völlig perplex hinter sich.
Eine schreckliche Angst hatte das Mädchen gepackt, während es förmlich über die Straße flog. Evangeline hatte zu dem Gefühl immer noch keinen Gedanken. Ihr ging nur dieses Kindergedicht durch den Kopf, immer und immer wieder.
Ich bin ein kleiner Sonnentropfen.
Sie jagte durch den Torbogen, den sie früher immer so pflichtbewusst beobachtet hatte. Dann brach sie links an den letzten Häusern vorbei und stolperte den Abhang zur Wiese herab. In einiger Entfernung lag still der Waldrand.
Stand mit Pfoten tief im Schnee.
Eve wusste nicht, ob sie über Gras lief. Sie sah die grüne Fläche und doch spürte sie kalte Flocken auf den Wangen. Doch es schneite nicht und das wusste sie. Und wäre sie dieses Phänomen nicht gewöhnt, hätte sie sich gewundert. Aber Eve hatte schon früh gelernt, dass sie sich darüber nicht wundern durfte.
Und plötzlich wurden Schatten wach.
Sie brach in den Wald, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Evangeline rannte tief hinein durch die Bäume, die schemenhaft am Rande ihres Blickfelds aufragten. Ein Pulsieren ging durch die Luft, die gesamte Atmosphäre schien zu erbeben. Eve war im Begriff den Herzschlag eines Waldes wahrzunehmen, in dem sie stand und der sie doch nicht umgab. Doch die Grenzen verschwammen, beugten sich ihr. Sie hatte nie herausgefunden, weshalb.
Zum Stehen kam sie an einer Lichtung, eine Hand an die Rinde einer Kiefer gelegt. Es handelte sich um eine gewöhnliche Lichtung, eine gewöhnliche Kiefer. Nirgends war Schnee zu sehen und der Himmel war klar und blau.
Eve schloss die Augen und atmete tief durch.
„Ich bin ein kleiner Sonnentropfen,
auf der Flucht vor ihren Krallen.
Zusammengerollt, dem Tode nah,
wünscht ich, ich wäre nie gefallen."
Die letzten Worte, die sie sprach, kamen als kleine Nebelwölkchen über ihre Lippen und schwebten den Baumkronen entgegen. Eve öffnete die Augen und stand in dem Wald aus Glas und Silber. Es war überhaupt nicht nötig, dass sie das Gedicht laut aufsagte. Eigentlich war gar nichts nötig. Eve verlief sich ganz von selbst und stolperte ohne Erklärung von der einen Welt in die andere. Darum ging sie ungern allein in den Wald, weil sie niemand herausrufen konnte. Doch heute hatte sie es gewagt, genauso wie am Vortag. Sie hätte das Kindergedicht nicht an einem Abend voller Sehnsucht lesen dürfen, denn dadurch geschahen häufig Dinge. Eve stellte es nicht in Frage. Sie hatte gelernt, dass diese Welt für das Träumen Platz ließ, jedoch nicht für das Geschehen. Doch jetzt sann sie doch darüber nach, ob es klug gewesen war, die Reimwelt wieder zu betreten. Denn irgendetwas war tatsächlich anders, anders als gestern. Anders als je zuvor.
Eve sah sich um und suchte nach der Veränderung. Die Bäume klirrten leicht und sahen aus wie immer. Das Mädchen öffnete die Hand und fing den Schnee auf. Und genau da fiel es ihr auf. Denn die Flocken waren dunkel wie Asche und als Evangeline den Boden betrachtete, war dieser bedeckt von kaltem Pech. Sie wusste nicht, ob das gut oder schlecht oder überhaupt irgendetwas war. Doch es war in jedem Fall neu und anders.
Verheißungsvoll und warnend.
Die Sonne glänzte durch die gläsernen Zweige hindurch und traf auf etwas mitten auf der Lichtung. Es erstrahlte in dem Licht wie ein goldener Ball. Eve sah von den schwarzen Flocken auf und erkannte ein Lebewesen im Schnee. Es zitterte und strahlte tiefe Angst aus. Sofort wusste sie, dass sie deshalb hergekommen war.
Und dann hörte sie das Knurren der Wölfe.
Schatten trat vor, so wie er es immer tat. Seine Pfoten stiegen empor aus den schwarzen Schlieren, die die Bäume warfen. Er war der größte im Rudel, das ihm leise schleichend folgte. Voller Feindseligkeit und mit gefletschten Zähnen näherten sie sich dem Sonnentropfen, den sie schon so lange jagten.
Es war nicht so, dass sie es böse meinten, eher waren sie zu dieser Jagd verdammt worden. Schatten trat vor, kauerte sich nieder, bereit das goldene Wesen zu verschlingen. Evangeline trat hervor und stellte sich ihm in den Weg. „Nein."
Ein Fremder hätte es nicht geglaubt, doch das dunkle Abltraumgetier zuckte zurück und starrte das Menschenkind verwirrt an. „Flügel."
Mit verbissenem Gesichtsausdruck schützte Eve den Sonnentropfen und allein ihre blitzenden Augen boten den Wölfen Einhalt.
„Ihr könnt Biester sein, nicht wahr?", keifte sie. Ihr Gegenüber zuckte gleichgültig mit den Ohren. „Ich erinnere mich nicht, dass wir ihn je erwischt hätten."
Schattens Stimme grollte wie ferner Donner.
Evangeline lockerte ihre Haltung ein wenig, weil sie das Rudel liebte. „Es ist diesmal anders."
Sie wusste nicht, woher diese Worte kamen.
Schatten knurrte verdrossen. „Warum bist du hier, Flügel?"
Spontan und ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, drehte sie sich um und hob den goldenen Ball hoch. Er war weich und leicht und eigentlich ein junger Schakal. Rotes Blut tropfte Eve auf den Arm.
Als sie den Wolf wieder ansah, schien dieser sehr an sich zu halten, nicht auf sie loszugehen. Schatten war immer recht dramatisch.
„Du hast uns dieses Schicksal auferlegt!", bellte er, begleitet von der Zustimmung seiner Artgenossen. Doch Evangeline ließ sich nicht von einem Wesen beeindrucken, dem sie als Kleinkind an den Ohren ziehen durfte. „Und nun nehme ich es wieder von euch. Herzlichen Glückwunsch."
Der Dunkle machte einen Schritt auf sie zu und vielleicht hätte sie das ein wenig einschüchternd gefunden, wenn er nicht plötzlich leicht in sich zusammengesackt wäre. Sie drückte das goldene Tier weiterhin an sich, musterte Schatten nun aber besorgt. Diesem schien das nicht wirklich zuzusagen.
Blut rann in schmalen Bächen über seine hintere Pfote, rührte her von einem grausigen Schnitt an der Flanke, der sich hinab bis zum Bein zog. Er trat kaum auf.
Der Wolf wich ihrem blauen Blick stur aus. „Er ist schlimmer dran."
„Biest", murrte Eve voller Zuneigung. Nie hätte sie geglaubt, Schatten einmal verletzt zu sehen. Seit wann war die Reimwelt überhaupt verletzlich?
Sie fühlte das Blut auf ihrem Arm und wusste, dass kaum noch Zeit blieb. Sie war sich sicher, ihr Sonnentropfen würde ohne Hilfe sterben.
Denn der Schnee war schwarz und Fantasie konnte nun sterben.
Da schob sich Zwielicht vor, nah an Schattens Seite. Sie war viel kleiner als er, doch nie war gesehen worden, dass er sich das zunutze gemacht hätte.
„Komm, wir gehen. Du kannst so kaum jagen."
Der große Wolf brummte noch ein wenig vor sich hin, ließ sich aber von ihr fortschieben. Im Gehen warf Zwielicht Eve einen warnenden Blick zu. „Achte auf das, was du tust."
Die Träumerin war sich sicher, dass sie auf ziemlich wenig in ihrem Leben achtete.
„Es ist doch nicht anders als mit den Muscheln", murrte sie leise und drehte sich um. Die Bäume waren braun und grün.
Madame Perez konnte viele Dinge nicht leiden. Wenn wir es genau betrachten, wäre es leichter, die Dinge aufzuzählen, die sie mochte, als jene, die sie nicht mochte. So hatte sie beispielsweise wenig für Katzen übrig, für Menschen, die Baguette nicht richtig aussprachen und insgeheim hegte sie einen gewissen Groll gegen die gemeine Bevölkerung des kleinen Städtchens Emeraldmoor, in das sie nur der Treue wegen gezogen war. Treue zu dem gütigen Hausherrn Sebastian Max, der leider Gottes gern und viel Zeit mit den Emeraldern verbrachte.
Die Laune der werten Madame Perez war allgemein eher verdrießlich, doch als sie an diesem Montagmorgen die Haustür zur Veranda öffnete, hing diese augenblicklich im tiefsten Keller der Insel. Vor ihr befanden sich drei Umstände, die sie wahrlich nicht ausstehen konnte. Zuerst das keuchende Mädchen, das sich häufig bei Sebastian herumtrieb und Madame Perez mit seinen blauen Augen Angst einjagte. Sie durfte es nie mit ihrem Besen aus dem Parkviertel jagen und musste ihm Tee anbieten, den es jedes Mal ablehnte. Zum Zweiten hätten wir das fellige Ding, das besagtes Mädchen (Ivy oder so ähnlich) in den Armen hielt. Es war nicht erkennbar, aber Madame Perez war absolut überzeugt, dass es sich um ein teuflisches Katzenvieh handelte. Sie wollte es nicht in ihrem Haus haben.
Und hätten die Mundwinkel der Haushälterin nicht ohnehin schon am Boden gehangen, so hätten sie sich spätestens beim Anblick des Blutes dorthin begeben. Blut auf den Treppenstufen, Blut auf dem Kirschholz und dem Läufer. Es tropfte von dem roten Arm des Mädchens und sah im Gegensatz zu Madame Perez Gesicht auf einmal ziemlich blass aus.
Eve, die es leid war, ständig Ivy oder du Mädchen genannt zu werden, hatte für ihr Gegenüber auch nicht viel übrig. Darum grinste sie so unnatürlich wie es ging, murmelte ein höchst knappes „Hallo" und schob sich schnurstracks an der Haushälterin vorbei. Mrs Perez schrie auf, als das weiche Ding sie berührte und war so verdutzt, dass sie für einen Moment im Türrahmen stehen blieb und eine Schnute zu. Dann nahm sie wutentbrannt die Verfolgung auf.
Evangeline war schneller. Eine Diskussion darüber, dass Sebastian nicht da war, obwohl das gar nicht der Fall war, konnte sie sich in diesem Moment nicht leisten. Nie hatte sie begriffen, warum Madame Perez bei ihm angestellt blieb, wo sie doch so wenig für Tiere übrighatte.
Denn Sebastian Max war Tierarzt.
Außerdem erforschte er begeistert Vögel und trotz der ausgestopften Exemplare in seinem Salon hatte Eve ihn schnell liebgewonnen.
Im Salon fand sie den jungen Mann, dem bei ihrem plötzlichen Auftauchen beinahe die Brille von der Nase rutschte. Die große Lupe, die er in der Hand hielt, fiel klirrend auf den imposanten Eichenholztisch, als Eve laut „Sebastian" rief und über die Stufe in den Salon stolperte.
„Evangeline", sagte Sebastian Max erstaunt und schob sich die Brille wieder gerade. Eilig nahm er sich seinen Gehstock und kam auf den unerwarteten Gast zu. Als Kind war auf der Suche nach einem Adlernest böse gestürzt und hinkte seither. Bei der ersten Begegnung mit Eve hatte sie ihm erzählt, dass ihn das authentisch wirken ließ, aber er solle doch erzählen, er habe einst mit einem Braunbären gekämpft, um eine junge Schneeeule zu retten.
Jetzt hielt sie ihm das arme Ding entgegen. „Können Sie ihm helfen?"
Der Vogelkundler nestelte erneut an seiner Brille herum und betrachtete höchst interessiert das Exemplar vor seiner Nase. Doch bevor er etwas dazu sagen konnte, kam Madame Perez angelaufen, höchst ausgelaugt nach dem Zwanzig Meter Marathon im Flur.
„Mr Max, ich bitte vielmals..." Sie lechzte nach Luft. „vielmals um Verzeihung, aber die Göre ist einfach so..." Erneut schlug der Mangel an Sauerstoff zu und Eve begann sich zu fragen, wo sie den Berg in Sebastians Haus übersehen hatte.
„Zurecht!" Der Arzt hob einen Finger. „Es handelt sich schließlich um einen Notfall!"
„Aber Mr Max... Die Etikette."
„Sie dürfen ihr einen Tee anbieten. Das berechnet Ihnen die Etikette dann schon."
„Keinen Tee", sagte Eve.
„Bedauerlich." Sebastian legte den Kopf schief. „In Ordnung. Ich schicke ihr also eine Rechnung."
„Wem?", fragte Madame Perez.
„Der Etikette."
„Sebastian, er stirbt."
„Höhst modern, der Etikette das Maskulin zuzuschreiben. Gefällt mir. Madame Perez, wir wahren in Zukunft der Etikette. Nehmen Sie sich gern den Rest des Tages frei." Er schlawinerte an Eve vorbei, welche ihm eiligst folgte. Seine Haushälterin blieb völlig verwirrt zurück. Dann machte sie sich auf, das Blut wegzuputzen. Eine Madame Perez nahm sich nicht frei.
Der Untersuchungsraum war kleiner als der Salon, hatte zwei große Fenster und einen silbernen Tisch auf Rädern. In einem großen Schrank befanden sich Tinkturen und Medikamente.
„Leg deinen Hund auf den Tisch." Sebastian kramte schon in allerlei Schubladen herum, während Eve etwas missmutig den Sonnentropfen ablegte. „Nun, ein Hund ist er nicht direkt."
Das stellte auch der junge Mann fest, als er mit gruseligem Werkzeug bewaffnet zu ihr trat. Er gab ein erstauntes „Oh" von sich und begann dann mit der Arbeit.
Eve setzte sich neben die Tür auf den Boden, während Sebastian an dem Tier herumbastelte und dachte nach. Sie hatte den ganzen Morgen so impulsiv gehandelt, dass sie erst jetzt wirklich begriff, was geschehen war. Zwielicht hatte ihr nicht verboten, die Reimwelt zu betreten. Eve hatte ja nicht mal gewusst, dass sie dorthin wollte. Und wenn, dann hätte sie nie erwartet, dass es so einfach sein würde. Für gewöhnlich geschah es willkürlich und auch nur, wenn die Sehnsucht wieder besonders stark war. Doch an diesem Montag war Evangeline aufgewacht und quasi in den Glaswald gepurzelt.
Sie sah das goldene Wesen an und blinzelte. Das Rudel, verdammt zur ewigen Jagd nach den Sonnenstrahlen, hatte es dieses Mal beinahe zerfetzt. Hätte sich Eves Gedicht daraufhin umgeschrieben oder in Luft aufgelöst? Hätte sie es aus einem Impuls heraus mit diesem grausamen Ende weitergeführt?
Eve fiel in diesem Moment auf, dass sie noch ihr Nachthemd trug. Dann dachte sie an die seltsame Warnung der Wölfin. Allgemein hatte das Rudel schon am Vortag unruhig gewirkt. Dann war da noch Schattens tiefe Verletzung.
Heute hatte sie herausgefunden, dass die Wölfe bluten konnten.
Heute hatte sie herausgefunden, dass ihre Reime getötet werden konnten.
Heute hatte sie herausgefunden, dass sie sie mit nach Emeraldmoor nehmen konnte.
Eve fuhr sich durch das zerzauste Haar und betrachtete ihre Hand. Beinahe hatte sie erwartet, schwarzen Schnee darauf zu finden.
„Oh, meine Zwielicht...", murmelte sie leise, „da ist keine Grenze mehr."
Im Salon kaute Evangeline nachdenklich auf ihrer Unterlippe und hoffte, Madame Perez geisterte in einem anderen Teil des Hauses herum. Ihre Gedanken hingen an dem schwarzen Stieg, der Moment als Cordelia verschwunden war. Eve versuchte, sich an den Himmel zu erinnern. Hatte es in dem Moment geblitzt oder war die Welt erbebt? Hatte es ein Zeichen gegeben, dass die Tore zur Reimwelt einen Spalt geöffnet blieben?
Eve fand es äußerst anstrengend, einen Umstand auszuklamüsern, um dessen Wissen sie geboren war. Sie liebte die Reimwelt und die Reimwelt liebte sie. Sie hatte stundenlang den Glaswald beobachtet, war mit den Wölfen um die Wette gelaufen und entdeckte Paläste aus Mondlicht. Sie war in beiden Welten aufgewachsen, doch nie hatte es den Anschein gegeben, dass daran etwas falsch war. Selbst das Rudel sagte, dass sie die Reimwelt in sich trug.
Soweit sie wusste, hatte Cordelia ihren Verehrer seit fünf Jahren besucht und auch, wenn sie dafür bedauerliche Mittel anwenden musste, war auch da keine Grenze in Gefahr gewesen. Sicher waren sie ein wenig gedehnt worden, aber bestimmt nicht gerissen.
Was war nun also anders?
Eve beschloss, Cordelia bald zu fragen, was wirklich passiert war in dieser Sturmnacht. Wie sie zurückgekommen war.
Im nächsten Moment fragte sie sich, warum sie sich nun sorgte. War es schlecht, dass sie den Sonnentropfen mitgenommen hatte, dass die Reimwelt nun offener stand als zuvor?
Was konnte Fantasie schon anrichten?
Doch der Splitter in ihrem Herzen, die Muscheln auf ihrem Schreibtisch, das Fell des Sonnentropfen pulsierten, als könnten sie bersten. Sie fühlte es deutlich und da hob sie den Kopf und merkte, dass auch im Salon etwas bebte. Eve stand auf und ging neugierig zum Arbeitsplatz des Arztes, auf dem lauter Blätter und Bücher wild herumlagen. Sie trat an ein grünes Buch, das offen lag und las die Überschrift.
Albinismus - Raben
Daneben lag eine schneeweiße Feder, leicht benetzt mit Silberstaub. Sie bebte wie ein Herzschlag, gleich mit dem des Mädchens am Tisch. Wie in Trance hob Eve die Hand, ihre Finger schwebten über den perlfarbenen Ästen.
Da stoben plötzlich hunderte Federn aus der einen hervor, so schnell, dass Eve zurückstolperte und beinahe hinfiel. In rasender Schnelle war der Salon erfüllt von Weiß und vom lauten Schlag hunderter Flügel. Evangeline stand nur da und beobachtete fasziniert den Wirbelwind, der durch den Raum fegte.
Nach wenigen Sekunden beruhigte sich der Aufstand und die Feder segelten ruhig durch die Luft, als hätte nur jemand sehr viel Spaß mit hunderten Kissen gehabt.
Genau in diesem Moment kam Sebastian herein. „Eve, ich frage mich wirklich wo du einen Schakal her-" Er brach sofort ab, als er den Salon sah. Sehr langsam wanderte sein Blick zu dem Mädchen, das ziemlich ertappt an seinem Schreibtisch stand.
„Ich glaube es nicht." Sebastian eilte auf Eve zu, die seinen begeisterten Gesichtsausdruck nicht einordnen konnte. Zudem schaute er gar nicht sie an, sondern die Feder in ihrer Hand. Sie tat es ihm gleich, weil sie sich nicht erinnerte, eine von ihnen aufgehoben zu haben.
„Du... Du kannst sie berühren", sagte der Tierarzt und fixierte die weiße Feder wie eine Schlange ihre Opfer. Evangeline zog die Augenbrauen zusammen „Sie nicht, Sebastian?"
Er seufzte und griff sich eine Segelnde aus der Luft. Es verging nur eine Sekunde, da verwandelte sich die Feder in Schnee und zerfiel wie ein zerdrückter Schneeball.
Evangeline blinzelte ganz langsam, wechselte mit den Augen zwischen ihrer Feder und dem weißen Häufchen, das im Begriff war zu Schmelzen.
„Sie spüren das nicht, oder?", fragte sie leicht abwesend, die Konzentration immer noch auf das stetige Beben, das in ihren Fingern nachhalte.
Sebastian schaute verdutzt. „Was sollte ich spüren?"
„Na den Herzschlag..." Unbewusst griff Eve sich an die Brust. Da irgendwo war ihr Herz und in ihrem Herz war die Reimwelt und gleichzeitig war sie es nicht.
Für einen Moment schwiegen beide.
„Weißt du, ich musste das Exemplar mit einer Pinzette herbringen." Sebastian schüttelte den Kopf, weil sein Verstand wohl die Koffer packte, um Urlaub zu machen. „Es ist so seltsam, Eve. Ich hätte doch durchdrehen müssen, als ich plötzlich Schnee zwischen meinen Fingern hatte, doch mein Geist hat dem gegenüber sofort kapituliert."
Eve lächelte leicht. „Liegt daran, dass einst ein grüner Maler seine Sachen im Wald liegen ließ."
„Diese Stadt ist ein Wunder", erwiderte Sebastian und klang dabei weich und liebevoll.
Evangeline schloss das grüne Buch. „Die Raben sind aus einer Welt, die weder anders noch gleich ist. Durch Cordelias Tod, der sie nicht umgebracht hat, ist etwas eigenartiges mit ihr passiert und... ich bin mir nicht sicher. Aber sind die Wölfe ja auch nicht." Sie hob die Feder vor ihr Gesicht. „Kann ich mir davon ein paar mitnehmen?"
Sebastian zuckte die Schultern. „Bei mir schmelzen sie sowieso."
„Vielen Dank. Der Sonnentropfen?"
„Ist er wie die Raben?"
„Das weiß ich nicht. Konnten sie ihm helfen?"
„Das wird sich zeigen. Ich melde mich bei dir, wenn ich mehr weiß."
„Ganz nett. Er ist übrigens aus meinem Traum."
Der Arzt nickte und so verabschiedete sich Evangeline von ihm. Ihre nackten Füße wurden rot auf der Veranda.
Sie eilte möglichst schnell aus dem Parkviertel, beziehungsweise fühlte sie sich eher davon gejagt von den gleichgroßen Grashalmen und rund geschorenen Zierbäumchen.
Sebastian Max hatte weder das eine noch das andere, ganz zu Madame Perez Bedauern. Doch unter seinem Garten schliefen nun mal Smaragde.
Eve brach auf den Marktplatz heraus und lief dabei beinahe in Oliver hinein. Beide konnten gerade noch so vor der Kollision miteinander stoppen.
„Oliver", hauchte die Träumerin verdutzt, weil er offensichtlich ins Parkviertel wollte. Ihr Freund schaute sich panisch um und interessierte sich erst nach genauster Überprüfung der Umgebung für sein Gegenüber. „Ich bin so froh, dich zu treffen."
Eve musterte ihn skeptisch. Sein braunes Haar war ein einziges Chaos, seine Haut hätte einem Toten alle Ehre gemacht und in den braunen Augen tobte die reine Panik.
„Möchtest du mir sagen, was mit dir los ist?"
Oliver blickte wieder hinter sich. „Sie drehen durch. Wenn nur einer von ihnen aus irgendeiner Gasse tritt, brech ich zusammen."
„Wieso sollten sie?", fragte Evangeline mit schief gelegtem Kopf, während ihre Hände mit den weißen Federn leicht feucht wurden.
„Weil es auf dem Hof so war." Oliver packte ihre Schultern. „Beweise mir, dass ich wach bin. Schlag mich, heftig. Ich muss es richtig wissen. Halte dich nicht zurück, auch wenn es-"
Eve schlug ihm ins Gesicht.
Oliver krümmte sich. „Mein Gott, Eve..." Sie zuckte empört die Schultern. „Na hör mal, du wolltest es so."
Er zog eine Schnute, bog seine Nase zurecht und richtete sich auf. „Nun, dafür, dass ich wach zu sein scheine, passieren ziemlich eigenartige Dinge."
„Wir sind in Emeraldmoor."
„Schon... aber vorher konnte ich diese Dinge nicht spüren." Oliver verzog das Gesicht, als wäre er nicht sicher, inwiefern seine Worte verständlich waren.
In Evangelines Augen ging die Sonne auf. „Du kannst ihn auch spüren?"
Olivers Blick wurde schattig. „Das letzte Mal ist lange her..."
Die Träumerin wies hinter sich in das Parkviertel. „Du wolltest zur Quelle, richtig?"
„Nicht wirklich. Eigentlich habe ich mir geschworen, wenn ich das je wieder spüre, laufe ich weit weit weg. Aber deine Seele war so ohrenbetäubend laut, dass ich wissen musste, ob etwas passiert ist."
Eve zog die Augenbrauen zusammen. „Du hast nach meiner Seele getastet?"
Oliver seufzte. „Nein, dafür war ich viel zu weit weg. Sie hat sich einfach nur bemerkbar gemacht und das sehr heftig." Er wiegte den Kopf hin und her als Zeichen, dass er selbst keine Ahnung hatte, was überhaupt passierte. Evangeline konnte mit seinen Ausführungen auch nicht viel anfangen.
„Wie klingt sie denn?", fragte sie.
„Wie Flügelschlagen. Es waren viele Flügel."
Dann muss es im Salon passiert sein, dachte Eve. Im nächsten Moment griff sie nach Olivers Arm. „Wir müssen zu Cordelia."
„Besser ist, bevor uns jemand einen Exorzisten auf den Hals hetzt."
Oliver sagte das, weil er wie ein Gespenst aussah und Eve blutige Füße hatte und nur ihr Nachthemd trug. Mal abgesehen davon hatte sie ihn ohne ersichtlichen Grund geschlagen. Die Emeralder hätte das nicht gestört, aber wenn jemand aus dem Parkviertel sie gesehen hätte, der nicht Sebastian war, wären bestimmt Gerüchte umgegangen.
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