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1. Kapitel - Der Teufel und das Wechselbalg

„Wach auf, das ist Wahnsinn!"
„Nein, genau das ist die Wahrheit, Mary." __________________________________
„Aschenputtel, Aschenputtel! Lass dein Haar herunter!", brüllte Evangeline ausgesprochen enthusiastisch in Richtung des Fensters, das zum Waisenhaus gehörte. Um genau zu sein handelte es sich um einen kleinen Turm, der sich an das graue Gebäude schmiegte. Es waren die frühen Morgenstunden eines Sonntags, der schon in diesem Moment warme Sonnenstrahlen für die Bewohner Emeraldmoors bereithielt. Die Straßen waren noch nass vom Regen der vorangegangenen Nacht.

„Guten Morgen, Evangeline", grüßte ein vorbeigehender Mann und tippte sich an den Hut. So wie der Rest der Bewohner zweifelte er ihre Bemühungen vor dem Fenster in keiner Weise an. Nein, tatsächlich wäre es besorgniserregend, wenn sie an diesem Sonntagmorgen nicht genau dort stehen würde. „Ihnen auch, Mr Smith."
Cordelia hörte die Stimmen gedämpft, aber sie war es gewohnt, dass Eve nach ihr rief – weil sie das jeden Sonntag tat – und irgendein Bewohner sie im Vorbeigehen grüßte. Natürlich war es in so einer kleinen Stadt wie Emeraldmoor selbstverständlich, dass jeder jeden grüßte, aber Evangeline wurde allein wegen ihres Selbst gegrüßt. Cordelia hatte sie mal darauf angesprochen und herausgefunden, dass ihre Freundin das überhaupt nicht so wahrnahm, aber sie bewunderte Eve für diese Fähigkeit. Sie selbst wurde nämlich kaum gegrüßt, wenn sie allein unterwegs war. Vielmehr warf ihr ein jeder verstohlene Blicke zu und manche flüsterten den Namen ihrer Familie, während sie möglichst unauffällig auf sie zeigten. Im Grunde war Cordelia die einzige Sensation der letzten fünf Jahre gewesen und die Bürger labten sich tagtäglich an dieser Tatsache.

Manchmal hasste sie Emeraldmoor.

Gerade als Evangeline ihren Unsinn gerufen hatte, war Cordelia damit fertig geworden, einen Brief zu lesen, während sie in besagtem Türmchen auf ihrem Bett saß. Das gelbliche Papier, gefüllt mit der geschwungenen Handschrift ihrer Gönnerin, hatte es nicht vollbracht, ihr Unglück zu mildern. Sie erwachte immer mit dem Unglück, immer schon seit fünf Jahren. Es war das traurige Lächeln, das immer auf ihren Lippen zu liegen schien; eine unvergossene Träne in ihrem Augenwinkel und die vielen Worte, die auszusprechen sie sich nicht traute.
Das Unglück war am Morgen am schlimmsten, verzog sich im Laufe des Tages jedoch in Cordelias Innerem, um sich am Abend, wenn sie allein in ihrer Kammer saß, umso mehr bemerkbar zu machen. Sie liebte das Unglück, denn es füllte sie aus und zumindest das war gut, denn so wusste sie, dass sie keine leere Hülle war.

Evangeline wusste nicht von dem Unglück.

Sie blieb noch einen Moment in den Fängen dieses ständigen Begleiters, der sie gern an das Bett fesselte. Doch dann seufzte Cordelia, legte den Brief sorgfältig auf das Kopfkissen und eilte zum Fenster. Den Geruch von einem vergangenen Wolkenbruch, der bisher leicht in das Türmchen gezogen war, nahm sie hier stärker und realer wahr. Glücklicherweise wich ihm der Gestank von Rauch, der sie aus ihren Träumen begleitete. Cordelia war ihn gewohnt, akzeptiere ihn als notweniges Übel, solange er sich leicht durch eine frische Brise verjagen ließ. Früher hatte er sie in den Tränen ausbrechen lassen, doch nun war nicht mehr früher. Nun war es doch ohnehin nicht zu ändern.

Sie lehnte sich über den Sims, die Hände auf den kalten Stein liegend. „Das ist ja völlig falsch!", rief sie hinab zu ihrer engsten Freundin. Eve hatte den Kopf in den Nacken gelegt und lächelte sie herzlich an. Dieses Lächeln erschreckte das Unglück, sodass es sich schleunigst in Cordelia zurückzog. Doch sie spürte weiterhin, wie es an ihrer Seele hing, einer Fledermaus von der Höhlendecke gleich.
„Es passt aber zu deiner Situation. Du bist eine Prinzessin in den Kleidern einer Dienstmagd und du lebst in einem Turm!" Mit strahlend blauen Augen, die vom Sonnenlicht in Saphire verwandelt wurden, sah Eve zu Cordelia hinauf, die gutmütig den Kopf schüttelte. Seit sie sich kannten, wurde sie von ihrer Freundin immer mit den Märchenprinzessinnen verglichen. Am ehesten mit jenen, denen ein tragisches Schicksal zuteilwurde. Allein Cordelias Vergangenheit war dieser Status zu verdanken, denn an ihrem Aussehen konnte es nicht liegen. Mit dem Pferdeschwanz und dem unscheinbaren Kleid sah sie genauso aus wie alle anderen Mädchen im Heim. Vielleicht waren sie alle verlorene Prinzessinnen.
„Du bist zu früh." Sie war immer zu früh, jede Woche. Doch Cordelia hielt es für angebracht, Eve immer darauf hinzuweisen. Es war wie ein Ritual, eine vertraute Geste. Eines der kleinen Dinge, die Cordelia bewiesen, dass sie lebte und dass noch viele Sonntage kommen würden, an denen Evangeline an ihrem Fenster stehen und rufen würde. Sie hoffte, dass sich daran nie etwas ändern würde.

Sie belog sich selbst.

„Ich bin immer zu früh.", erwiderte die junge Dame gemäß nach Drehbuch und neigte den Kopf. „Lässt du mich hoch?"
An diesem Punkt stutzte Cordelia. Eve wollte nie am Morgen in ihr Zimmer, wenn dann abends, um ein Spiel zu spielen oder nur zu reden. Sie wusste nicht, ob sie diese Neuheit befürwortete, denn das würde den Sonntag schon sehr zeitig zu einem besonderen Sonntag machen. Cordelia wusste nicht, ob sie so einen heute gebrauchen konnte.
„Hast du etwa den Nebel gesehen?", fragte sie und wandte den Kopf, als könne sie Fogstone auf diese Weise über den Häuserdächern aufragen sehen. Schon früh hatte sie gelernt, wie Eve aus den mystischen Schwaden las, wie Frauen vom Kunstviertel aus Kaffeetassen.
„Selbst wenn", erwiderte Eve verschmitzt, „kann ich das Besondere nicht herbeiführen, indem ich in dein Zimmer klettere. Sei doch so lieb, Deli." Nur sie durfte Cordelia so nennen, weil es nur bei ihr nicht völlig absurd klang.
Eigentlich beantwortete das nicht wirklich, ob sie den Nebel gesehen hatte oder warum sie hinaufwollte, aber trotzdem akzeptierte Cordelia ihre Worte als schlüssiges Argument. Darum ging sie zu der Truhe am Ende ihres Bettes und hob die Strickleiter heraus. In ihrem zweiten gemeinsamen Sommer hatten Evangeline, Cordelia und Oliver sie selbst gebaut. Das Getreide war gelb gewesen, sie hatten Waldbeeren genascht und am Abend mit Eves Eltern ein Lagerfeuer im Garten entfacht. Cordelia erinnerte sich gern daran. Ein Grund, warum ihr Leben nicht ganz so tragisch war wie das von Aschenputtel oder Rapunzel. Auch wenn das Bild, das sie gerade bot, gut in ein Märchen gepasst hätte. Eine hübsche, junge Frau, auf einem kalten Steinboden sitzend, umgeben von grauen Wänden und den wenigen Möbel, die nur noch der liebe Gott zusammenhielt. Ein Schrank für ihre unscheinbaren Kleider, das Bett für ihre rauchdurchwirkten Träume, ein Tisch mit einem Büchlein auf der Platte und davor ein Stuhl, um in das Büchlein schreiben zu können, ohne Beinschmerzen zu bekommen. Alles schwach beleuchtet von dem Licht, das durch das Fensterchen in die Kammer gelangte. Vorher hatte Cordelia große, viele Fenster gehabt. Vorher hatte sie einen ganzen Raum voller Spiegel und Kleider und heimlichen Mädchenträumen gehabt. Vorher war sie in dieser Welt wirklich eine Prinzessin gewesen.

Sie wusste nicht, ob sie es vermisste.

Die Strickleiter wurde an einem Haken, der unter dem Fenster aus der Wand ragte, befestigt. Keine Minute später stand Evangeline schon in Cordelias Zimmer und sah sich um, als wäre es das erste Mal.
„Was hast du vor?" Argwöhnisch betrachtete Cordelia, wie Eve die Strickleiter einholte, zusammenrollte und wieder in der Truhe verstaute. Offenbar wollte sie das Heim über diesen Weg nicht wieder verlassen.
Evangeline zuckte mit den Schultern. Es war jedes Mal irritierend, wie sie inmitten des Unglücks stand. Die Schatten, die Cordelia tagtäglich umhüllten und auch ihr Zimmer einnahmen, wichen in die Ritzen des Mauerwerks zurück und drückten sich an die Wand. Eve stand dort wie eine Sonne. Das Unglück sprang unters Bett und knurrte. Seltsamerweise hatte Cordelia kurz das Verlangen, es zu beruhigen und so etwas zu sagen wie „Keine Bange, das Licht ist bald wieder weg."

Sie musste aus diesem Raum raus.

„Hör mal, es ist doch nichts dabei, wenn ich mich ein bisschen unters Volk mische." Beiläufig zog sie ein Band von ihrem Handgelenk und machte sich einen Zopf. Cordelia zog die Augenbrauen hoch. „Eve, du willst doch nicht-"
Das Grinsen ließ sie verstummen. Jetzt fehlte zwar das Sonnenlicht, um ihre Augen in blaue Spiegel zu verwandeln, doch allein zwischen diesen ausgebreiteten Lippen schien alles Glück zu liegen, das ein Mensch tragen konnte.
„In einem anderen Leben warst du ein vierblättriges Kleeblatt.", seufzte Cordelia und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Schrank, dessen Holz im Laufe der Zeit äußerlich genauso angelaufen war wie sein Inneres: Grau. Bestimmt war er ein unglücklicher Schrank.
„Wahrscheinlich.", murmelte Eve und schob sich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das rechte Ohr.
„Die Morgenschwester wird nicht begeistert sein, Eve."
Es war nicht so, dass Cordelia ein Ziel damit erreichen wollte, alle Argumente aufzuzählen, die gegen das Vorhaben ihrer Freundin sprachen, doch wenigstens beruhigte sie ihr Gewissen damit, dass sie am Ende immer „Ich hab's dir doch gesagt" sagen konnte.
„Sie wird mich nicht einmal erkennen. Niemals kann eine der Schwestern jeden von euch beim Namen nennen. Für die seid ihr nur eine große, graue Masse, die gefüttert werden will."
Cordelia senkte den Blick und rieb sich die Arme, als wäre ihr kalt. „Meinen Namen kennen sie immer." Genau in diesem Moment gab sich die Sonne noch einmal viel Mühe und schickte ihr ganzes Gold in die schattenhafte Kammer. Sie strahlte immer dort am liebsten, wo Evangeline sich aufhielt.
Die Wärme fühlte sich wunderbar an auf Cordelias Haut. Ihr Haar fing dunkles Feuer und ihr Kleid nahm den schönsten Grauton an, den es in petto hatte, um der Sonne zu schmeicheln.
„Ich habe mir extra etwas Unauffälliges angezogen." Eve zwinkerte wie ein Engel, um den Grad an Unschuld vorzutäuschen, den sie nicht erfüllte.
Es würde schief gehen. Das war Cordelia sehr klar, aber sie hatte in den letzten fünf Jahren mehrfach die Erfahrung gemacht, dass es sinnlos war, Eve von ihren Ideen abzubringen. Meistens wusste sie selbst, wie dumm diese waren, aber aus irgendwelchen Gründen sah sie darin einen gewissen Reiz.
„Ich kann dich ohnehin nicht davon abhalten." Sie seufzte und ging auf die Tür zu. „Aber wenn sie wissen wollen, wie du reingekommen bist, habe ich rein gar nichts damit zu tun." Streng hob sie den Finger, um ihre Bedingung zu unterstreichen, aber als sie sich zu Eve umdrehte lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
„Mich hat ein unsichtbarer Drache hereingetragen.", gurrte Evangeline, hob im nächsten Moment die Arme und schlängelte sich pirouettendrehend durch die Tür.

*****

„Du musst dir eine gute Tat überlegen.", erklärte Cordelia, während sie die Treppe hinabstiegen. Eve legte vor ihr den Kopf schief. „Eine gute Tat?"
„Na, du weißt schon.", erwiderte Cordelia, während sie in ihrer Ledertasche herumwühlte, die sie sich von dem Haken an ihrer Tür geschnappt hatte. Der Riemen sah schon ziemlich mitgenommen aus und die Schnallen glänzten nicht mehr, außerdem war sie ein wenig groß. Allerdings liebte Cordelia sie wie kaum etwas anderes, weil die Tasche ihrem Vater gehört hatte.
„Sonntags muss jedes Waisenkind der Morgenschwester mitteilen, welche gute Tat es sich zurechtgelegt hat. Diese wird dann schriftlich festgehalten und die zuständige Person muss sie bestätigen. In der folgenden Woche muss die Aufgabe geleistet werden, sonst gibt es Strafarbeiten oder kein Taschengeld."
Durch einen bogenförmigen Durchgang traten die Mädchen auf den Gang und konnten nun nebeneinander laufen. Die Wände waren natürlich grau. Zimmertür für Zimmertür zog an ihnen vorbei.
„Richtig, davon hattest du mal etwas erzählt.", murmelte Eve und Cordelia zog die Augenbrauen zusammen. Im Grunde sprach sie oft von ihrer guten Tat, weil sie nun mal ein wichtiger Bestandteil ihrer Woche war. Und der Grund, warum sie ihre Freunde manchmal eher verlassen musste. Allerdings war es wirklich nicht verwunderlich, dass Evangeline das vergessen hatte. Sie vergaß häufig Dinge.
„Was ist denn zum Beispiel eine gute Tat?", fragte Eve, während sich Türen öffneten und andere Jugendliche sich zu ihnen gesellten. Ein paar erkannten das Mädchen, das nicht zu ihnen gehörte und schauten verwirrt. Doch Eve legte den Finger auf die Lippen und lächelte verschwörerisch, was die Gesichter der anderen erhellte. Cordelia fiel erst jetzt auf, dass sie an den Morgen ohne Eve alle genauso wie die Wände wirkten. Sie selbst etwa auch?
„Man hilft in einem Laden aus, fegt die Straße, pflegt den Kirchgarten, liest den Kindern vor, striegelt Pferde...", zählte sie auf und zuckte die Schultern. „Solche Dinge nun mal und das für ein zwei Tage."
„Also könnte ich sagen, dass ich meiner Mutter beim Kochen helfe?"
„Eve, Kinder von hier haben keine Mutter."
„Oh, richtig. Entschuldige." Evangeline schüttelte über ihre eigene Dummheit den Kopf und grinste. Cordelia musste schmunzeln.

Der Ort, wo sie alle zusammenkamen, war die Eingangshalle. Es handelte sich um einen Raum, in den die breite Treppe hinter der großen Flügeltür mündete. Gegenüber von der Seite, wo die Zimmer lagen, befand sich der Schlafsaal, in dem die jüngeren Kinder schliefen. Erst mit dem Erreichen es dreizehnten Lebensjahres erhielt man ein Zimmer, das man sich mit drei anderen Waisen teilte. Cordelia bildete dabei die leidliche Ausnahme. Sie wusste nicht, warum sie auf diese Weise privilegiert wurde, ahnte aber, dass es etwas mit ihrer Gönnerin zutun hatte. Wahrscheinlich war es nur gut gemeint, aber oft wünschte Cordelia sich, genau wie die anderen in einer Gemeinschaft zu leben und zu schlafen. Das Unglück war nun mal ein wenig wünschenswerter Mitbewohner und mit der Einsamkeit ließ es sich schlecht Karten spielen. Auf diese Weise wurde Cordelia auch immer wie eine Außenseiterin behandelt. Die meisten waren zwar nett zu ihr, aber keiner riskierte, dass sich enge Bande knüpfen ließen.
Als wäre ich schon tot, dachte sie etwas verbittert, als sie sah wie strahlend Eve begrüßt wurde und die Kinder kicherten, als sie ihnen bedeutete, still zu sein. Tatsächlich sehnte sie sich überhaupt nicht nach der Aufmerksamkeit der anderen Waisen, sondern... Ja, wonach eigentlich?

Cordelia wusste es nicht.

Die Älteren scharrten die Jüngeren vor sich in eine Reihe. Die wenigsten trugen etwas anderes als die graue Hauskleidung, auch wenn sie Besseres besaßen. Vielleicht befürchteten sie alle, wenn in den dunklen Mauern etwas mehr Farbe zu sehen wäre, würden sie erblinden. Wenn Cordelia in die Augen derer schaute, die in ihrem Alter waren, wirkten selbst diese grau. Manchmal, in wirklich unglücklichen Momenten, eilte sie danach in den Waschraum und betrachtete minutenlang ihre Augen im Spiegel. Sie waren grün. Aber vielleicht nicht mehr so grün wie früher.

Evangeline trug zwar ein schlichtes, braunes Kleid, fiel damit dennoch irgendwie auf. Was aber eher daran liegen mochte, dass sie viel mehr leuchtete als die restlichen Anwesenden. Selbst die Kinder, die ihren verspielten Charme noch nicht eingebüßt hatten, erreichten ihr Leuchten nicht. Vielleicht verliert man es einfach, wenn man keine Eltern mehr hat, dachte Cordelia. Sie beobachtete wohlwollend, wie sich auf den Gesichtern der Waisen ein kleines Lächeln stahl und alle gaben sich Mühe, nicht zu Eve hinüber zu spähen, die in ihrer Mitte stand wie ein bunter Hund. Jetzt ging Cordelia auf, dass ihre Freundin gar nicht darauf abzielte, nicht erwischt zu werden.
Die Uhr im Kirchturm schlug acht – die Uhrzeit, in der alle Waisen am Sonntagmorgen in der Eingangshalle zu stehen hatten. Wer sich jetzt nicht dort befand, dem konnte wahrscheinlich nicht mal Gott helfen.
Kaum war der letzte Glockenschlag verklungen, stürzte auch schon die Morgenschwester aus dem Schlafsaal. Heute handelte es sich um die rundliche Schwester Judith, welche sich vor allem durch ihre Angewohnheit auszeichnete, ständig nach der Zeit zu schauen. Darum besaß sie auch eine silberne Taschenuhr, die sie an einer Kette am Rock trug. Sie erfreute sich trotz ihrer strengen Art an hoher Beliebtheit bei den Kindern, weil es offensichtlich war, dass sie mit Leib und Seele an ihnen hin. Umso mehr tat es weh, sie zu enttäuschen und von ihr angeschrien zu werden. An diesem Morgen wurden alle kreidebleich, als sie sie sahen – alle, außer Eve, obwohl sie am meisten bestürzt sein sollte. Denn Schwester Judith war ihre Tante.
„Guten Morgen, meine Lieben.", wetterte die Frau mittleren Alters. Sie klang mit ihrer tiefen, eindrucksvollen Stimme immer ein wenig, als wäre sie schlecht gelaunt. Cordelia verbrachte viel Zeit mit Schwester Judith, wenn sie im Kirchgarten half und dort hatte sie von ihr erfahren, dass sie insgeheim davon träumte, einmal Opernsängerin zu werden.

„Wovon träumst du Mädchen?", hatte sie gefragt, während sie an einem kühlen Frühlingsmorgen auf einer Bank saßen und Tee tranken, den Schwester Judith gekocht hatte. Cordelia schaute den heißen Kamilleschwaden dabei zu, wie sie aus ihrer Tasse entflohen und seufzte lang. Ihre Träume waren schrecklich.
„Meistens vom Tod."
Die Nonne klopfte sich auf den Schenkel und lachte. „Davon dürfen Menschen träumen, die älter sind als ich, Kind, aber kein hübsches, junges Ding wie du." Sie stieß Cordelia auf dem engen Banklein mit der Schulter an. Diese umklammerte ihren mit behandschuhten Händen und entlockte ihren Lippen tatsächlich ein kleines Lächeln.
„Nun sag schon, bevor wir uns wieder in den Dreck knien müssen.", forderte Schwester Judith.
Cordelia wusste gar nicht wovon sie wirklich träumte, schon gar nicht etwas, das ihre Gesprächspartnerin zufrieden stimmen könnte. Doch dann glomm in ihrem Kopf eine schwache, goldene Erinnerung auf. Eigentlich müsste sie sie schmerzen, weil sie darin die Stimme ihrer Mutter erkannte, doch als sie zuließ, den Inhalt der Erinnerung zu erkennen, flatterte ihr Herz für einen Moment auf. Wie eine Taube, die in einem Käfig saß und doch ihre Flügel hob, um zu testen, ob funktionieren würden, sobald sie sie brauchte.
Cordelia lächelte noch ein wenig offensichtlicher. „Ich träume von London."

So hatte ihr Gespräch geendet und für eine Weile hatte das Mädchen diesen Traum auch mit sich getragen, in der Hand die goldene Erinnerung. Nun war das ein Jahr her und sie stand wie jeden Tag früh um acht in der Eingangshalle des Waisenhauses. Der Rauch hatte London verschluckt.

„Meredith." Schwester Judith stand vor einem elfjährigen Mädchen mit Engelslocken und Sommersprossen. „Welche gute Tat hast du dir an Land gezogen?"
Bei der Fragestellung gluckste die Kleine, woraufhin Schwester Judith mit ihrem Stift auf das hölzerne Klemmbrett pochte.
„Ich helfe Mrs Bumble beim Tragen ihrer Einkäufe, dienstags und mittwochs." Meredith grinste breit, als wäre sie unfassbar stolz auf ihre gute Tat. Schwester Judith stierte sie noch eine Sekunde an, was sie immer tat, um das Kind zu verunsichern. Natürlich wussten alle, dass dieser Vorschlag für eine Elfjährige absolut genügte, doch Meredith fröhliche Miene kam etwas ins Wanken. Es war ihre erste eigens herausgesuchte gute Tat, weshalb sie wohl befürchtete, eine Ablehnung zu hören zu bekommen. Doch natürlich trat das nicht ein.
„Richte ihr einen schönen Gruß von mir aus, wenn du sie besuchst.", murrte Schwester Judith und zog ihre silberne Uhr hervor. Vermutlich, um zu prüfen, ob die Zeit noch vorhanden war.
In diesem Moment war ein Tuscheln zu hören.
„Als ob der Streichholz irgendetwas schleppen könnte." Ein Junge, ungefähr in Meredith Alter und mit Schirmmütze gluckste. „Wahrscheinlich bricht sie zusammen.
„Und was darf ich von dir erwarten, John?", donnerte Schwester Judith, woraufhin nicht nur John den Kopf einzog. Cordelia hörte Evangeline neben sich leise lachen. Offenbar fand sie es amüsant, wie sich ihre Tante vor den Waisen gab.
Der freche John erholte sich schnell von dem Schock und reckte sich nun mit dem Gesichtsausdruck eines Vorzeigeschülers. „Haushaltshilfe bei den Bluemans. Montag bis Mittwoch."
Cordelia und Eve warfen sich einen erstaunten Blick zu. Die Bluemans besaßen einen Hof etwas abseits der Stadt, wo ihr Freund Oliver lebte. Ob er sich über die kurzweilige Gesellschaft freuen würde?
Schwester Judith legte den Kopf schief. „In Ordnung, John. Aber lass dir von der Oberschwester eine Erlaubnis schreiben, dass du für drei Tage auf dem Hof lebst."
So ging es weiter durch die Reihe der Jüngeren. Ausnahmsweise hatte diesmal keiner versäumt, sich eine gute Tat zurechtzulegen und Schwester Judith Stimmung hob sich ein wenig. Bei den Älteren verlief es ähnlich. Gordon half beim Streichen eines Zauns, Lisa flickte Strümpfe, Octavia verkaufte Brot, die erste Marie fegte die Straße im Kunstviertel, die zweite Marie kümmerte sich um die Kinder der Familie Berkshire und Eve...
„Evangeline Margaret Fawn." Schwester Judith flüsterte beinahe, was noch ein wenig unheimlicher war als ihr Geschrei. Die Kinder drehten sich um legten besorgt die Köpfe schief, Eves Nachbarinnen rückten ein wenig ab. Doch sie lächelte unbeirrt. „Ich wünsche dir auch einen sonnigen Sonntagmorgen, Tante Ju."
„Was in Gottes Namen hast du hier zu suchen?"
Evangeline schob die Jüngeren sanft auseinander und trat vor. „Soll ich ganz ehrlich sein?" Schwester Judith Gesicht hatte inzwischen ein wenig Ähnlichkeit mit einer verschrumpelten Tomate. „Ich bitte darum, klär uns auf."
„Ein unsichtbarer Drache, er war weiß wie die Raben und lang wie eine Schlange, hat mich auf einem Windhauch hereingetragen und genau hier abgesetzt." Eve lächelte ehrfürchtig und deutete mit den Händen schlangenförmige Bewegungen an, was den Waisenkindern ein Kichern entlockte.
Schwester Judith schüttelte den Kopf. „Dein Vater sollte dich auf ein Internat schicken, irgendwo auf dem Festland. Du hast zu viele Flausen im Kopf."
„Falls du neidisch bist, ich kann dir gerne welche abgeben." Eve begann, in ihren Haaren nach Flausen zu suchen. Die beiden Maries lachten und Cordelia – sie war selbst ganz überrascht – musste mitlachen. Plötzlich leuchtete die Eingangshalle.
Schwester Judith seufzte sehr laut. „Wirklich, ich muss ein ernstes Wort mit deinen Eltern reden."
„Hätte ich Eltern, wäre ich nicht hier.", erwiderte ihre Nichte und wandte sie an die Waisenkinder. „Sie sind auf einem tragischen Abenteuer gestorben und ich konnte nur durch den Drachen gerettet werden. Sie fasste sich inbrünstig ans Herz und schluchzte auf. Im nächsten Moment schaute sie Schwester Judith lächelnd an, als erwarte sie ein hohes Lob für ihre Geschichte. Doch ihre Tante verschränkte die Arme vor der Brust. „Seltsam, ich sah meine Schwester heute Morgen quicklebendig beim Bäcker Brot kaufen."
„Ein Wunder, sie sind auferstanden!" Eve hob jubelnd die Arme in die Luft und sorgte für noch mehr Gelächter. Schwester Judith warf ihren Schützlingen einen so giftigen Blick zu, dass jedoch augenblicklich alle verstummten.
„Nur Jesus, sei er gepriesen, vermochte es, vom Tode aufzuerstehen.", erklärte sie und schlug beiläufig ein Kreuz. Vermutlich, um sicherzugehen, dass Eves Irrsinn bei ihr blieb. „Für so eine Respektlosigkeit verlange ich augenblicklich das Vater unser mein Fräulein. Vielleicht kann das deine Sünden etwas tilgen."
„Beim heiligen Geist, ich hoffe nicht.", gurrte Eve, stellte sich aber ganz ordentlich hin und nahm eine nonexistente Bibel zur Hand. Sie feuchtete sich den Finger an, blätterte ein Weilchen und räusperte sich theatralisch. Alle schienen gespannt die Luft anzuhalten. Schwester Judith nickte zufrieden und schien davon auszugehen, dass sie den Wildfang ein Stück weit gezähmt hatte.

Eve begann.

„Finster wars, der Mond schien helle,
Schnee bedeckt die grüne Flur.
Als ein Wagen blitze schnelle
Langsam um die Ecke fuhr.

Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend ins Gespräch vertieft.
Als ein totgeschossner Hase
Auf der Sandbank Schlittschuh lief.

Und ein goldgelockter Jüngling
mit kohlrabenschwarzem Haar,
saß auf einer grünen Kiste,
die rot angestrichen war.

Neben ihm ne alte Schrulle,
zählte grade sechzehn Jahr.
In der Hand ne Butterstulle,
die mit Schmalz bestrichen war."

In der Eingangshalle herrschte Schweigen. Die Blicke der Waisen lagen auf Schwester Judith, die allerdings selbst mit ihrem Latein am Ende zu sein schien. Evangeline legte grübelnd den Kopf schief und murmelte vor sich hin. „Nun, vielleicht war es auch eine rote Kiste, die grün angestrichen war, ich vertausche das manchmal... und war die Schrulle sechzehn oder achtzehn?"
„Eve!" Schwester Judith brachte die Säulen zum Beben. Oder zumindest kam es Cordelia bei der Lautstärke so vor. Ihre Freundin hob beschwichtigend die Arme, um zu signalisieren, dass ihr durchaus bewusst war, dass sie über die Stränge geschlagen hatte. „Kein Grund, sich aufzuregen, Tantchen. Du weißt, meine Katze ist der Teufel und ich bin ein Wechselbalg."
Schwester Judith Gesicht war puterrot und sie ein wenig aus wie ein sehr wütender Luftballon. Evangeline warf den Zuschauern Luftküsse zu, ehe sie schleunigst die Flucht ergriff und die Treppe hinabsprang. Das Leuchten nahm sie mit.
„Nur ein Wort", die arme Schwester wies mit dem Zeigefinger auf sie, „und ihr schlaft alle auf dem Friedhof!"
Es war der Fantasie überlassen, in welchem Sinne ihre Drohung gemeint war. Doch die Waisen wollten es sich ersparen, dass näher herauszufinden und schlichen schweigend in den Speisesaal.

Nach dem Frühstück stürzte Cordelia aus dem Waisenhaus, wo Eve an die Mauer gelehnt wartete. Sie kaute auf einem Grashalm herum und lächelte sie an. „Howdy."
„Eve", brachte Cordelia kopfschüttelnd hervor, „was du dir da geleistet hast."
„Jaja, davon wird meine Mutter hören, das verspreche ich dir.", erwiderte Evangeline und verdrehte die Augen. Immer noch war ihre Freundin sprachlos. Dieser Sonntagmorgen platzte jetzt schon beinahe vor Besonderheiten. Doch dann fiel ihr wieder ein, was ihr seit Eves Diskussion mit ihrer Tante, nicht mehr aus dem Kopf ging.
„Aber Eve...", setze sie an und rückte ihre Tasche zurecht, „Raben sind nicht weiß."
„Nicht in dieser Welt.", antwortete das Mädchen mit dem Grashalm und schaute dabei einen Tick zu lange in den strahlend blauen Himmel. „Wollen wir zu Oliver?"

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