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Ich fragte meinen Cousin, ob er wirklich einen Bootsführerschein hatte und ob er Lust hätte, ein Stück aufs Meer hinauszufahren. Er bejahte beides und wir packten Badetücher, Snacks, Getränke und Schwimmsachen ein, ich holte die Bootsschlüssel von meinem Dad und wir schwangen uns zu viert auf die Räder. Davy und Pete würden nicht mitkommen, sie mussten ihrem Vater heute beim Fischen helfen, aber das bedeutete gleichzeitig, dass sie in dieselbe Richtung fuhren wie Lukas und ich: Den Pier.
Es war recht windig und Lukas fuhr wie immer voraus.
„Sind Sin und McKay zusammen?", fragte ich irgendwann niemand bestimmtes.
Lukas lachte und warf einen Blick über seine Schulter. „Das hätte McKay gerne. Wie kommst du darauf?" Er drosselte das Tempo, damit ich zu ihm aufholen konnte.
„Weil Sin uns zu seiner Party eingeladen hat."
„Sin ist Sin", rief Davy und holte ebenfalls ein wenig auf. Die Straße war breit genug, dass wir bald alle vier nebeneinanderfahren konnten, weil gerade kein Auto in Sicht war. „Sie kann alles, sie darf alles, sie macht alles."
„Und gibt es dafür auch einen Grund? Einen echten, meine ich. Mal abgesehen davon, dass... Sin eben Sin ist", zitierte ich Davy. Ich wollte einfach nicht glauben, dass sich die ganze Stadt darüber einig war, dass Sin tun und lassen konnte, was ihr gefiel. Obwohl ich zugeben musste, dass ich es auf eine seltsame, irrationale Weise verstand, und Davys Aussage, dass Sin nun einmal Sin war, war völlig logisch. Die Erde war rund, eins plus eins war gleich zwei und Sin war Sin.
Aber es musste trotzdem etwas dahinterstecken.
„Na, wegen dem Spiel!", rief Pete mir über den Fahrtwind hinweg zu.
„Welchem Spiel?"
„Das Spiel, bei dem es nur Verlierer gibt", entgegnete Davy.
Lukas nickte ihm grinsend zu. „Darüber dürftest du ja alles wissen."
„Halt die Klappe, ich komm auch noch auf die andere Seite!"
„Wer's glaubt."
Ich hatte keine Ahnung, wovon die drei sprachen.
„Lass ihn", sagte Pete. „Der Geist ist billig."
Davy verdrehte die Augen. „Willig, du Trottel."
Pete grinste ihn an. „Nein, deiner nicht." Er trat kräftig in die Pedale und Davy fuhr ihm fluchend nach.
„Das wirst du bereuen, du Zwerg!", brüllte er noch, aber Pete lachte nur.
Lukas sah den beiden amüsiert nach.
Am Pier bogen Davy und Pete nach rechts ab und winkten uns zum Abschied zu, während wir nach links an den anliegenden Booten weiterfuhren. Lukas schien sich hier bestens auszukennen und schwang sich vor einem kleinen, weißen Boot, das in den Wellen schwankte, vom Rad.
„Ich glaube, das ist es", meinte er. Wir stellten unsere Räder ab und kletterten an Deck. Ich hatte es mir kleiner vorgestellt. Lukas stellte sich sofort hinters Steuer und machte sich mit der Technik vertraut.
Dann half ich ihm das Tau loszubinden und stieß das Boot so kräftig ich konnte vom Pier weg. Lukas startete den Motor und lenkte es aufs Meer hinaus. Sobald wir weitgenug weg waren, um fast ganz Bar Harbour im Blick zu haben, zeigte er mir die kleine Kapelle oben am Hügel, wir fuhren am Leuchtturm vorbei (ich hatte noch nie einen echten Leuchtturm gesehen und fand es fast unheimlich, wie groß dieses Ding war) und irgendwann stellte Lukas den Motor aus, setzte sich die Sonnenbrille und seine Kappe auf, und wir packten die Snacks und Getränke aus und legten uns in die Sonne. Es war völlig windstill, aber das Boot schaukelte trotzdem in den Wellen. Mich störte das nicht, ich fand es sogar beruhigend. Der salzige Geruch des Wassers und das Schreien der Vögel ließen mich kurz denken, dass ich für immer am Meer leben wollte. Man konnte unendlich weit sehen und ich fühlte mich hier draußen, fernab von der Küste, so frei, wie noch nie in meinem Leben. Die Tage hier an der Küste fühlten sich anders an als in der Großstadt.
Vielleicht würde mein Dad mir auch einmal erlauben, das Boot zu steuern, obwohl ich keinen Bootsführerschein hatte. Vielleicht konnte ich Sin mitnehmen und hier draußen mit ihr allein sein.
Lukas öffnete sich eine Dose Cola und stieß nach seinem ersten Schluck einen wohligen Seufzer aus.
„Herrlich. Das ist das erste Mal seit Schulschluss, dass es sich auch wirklich anfühlt, als wären Ferien!"
Ich fischte mir auch eine Cola aus der Kühlbox. Mir fiel auf, dass ich meine Mom noch gar nicht angerufen hatte. Aber sie hatte mich auch nicht angerufen, also konnten ihre Sorgen nicht allzu groß sein.
„Gehst du morgen auf die Party von McKay?", fragte ich. Als jemand, der sich eigentlich vorgenommen hatte, den Kontakt zu Sin für den Rest des Sommers zu minimieren, war es mir unbegreiflich, wie jemand, der sich dieses Verbot nicht auferlegt hatte, auch nur im Entferntesten darüber nachdenken konnte, nicht mit Sin auf eine Party zu gehen. Aber Lukas hatte nicht sonderlich begeistert über Sins Einladung geklungen.
„McKay ist nicht gerade ein guter Kumpel von mir", sagte Lukas dann. „Er ist wie diese Schulhoftyrannen, über die man immer Geschichten hört, nur, dass er dieses Jahr seinen Abschluss gemacht hat, und ich ihn in der Schule nie wieder sehen muss, weshalb ich es vorziehe, das Ganze nicht auf mein Privatleben auszuweiten..."
Er richtete sich auf. „Ich bin mal zu einem Lehrer gegangen, weil McKay Davy immer in den Pausen durch den Schulhof gejagt hat."
„Und?"
„In derselben Woche war ich mit meiner Freundin unten am See schwimmen. Sie ist vor mir aus dem Wasser, weil ihr kalt war. Und plötzlich war McKay mit vier von seinen Freunden da. Zwei von ihnen haben meine Freundin gepackt und McKay hat gesagt, dass ich besser aus dem Wasser komme, bevor meine Freundin für das büßen muss, was ich ihm an Ärger eingebrockt habe", erzählte er kühl. „In dieser Stadt halten wir die Erwachsenen normalerweise aus unserem Scheiß raus. Wir klären das unter uns, verstehst du? Und ich hab gegen die Regeln verstoßen." Er sagte es, als wären McKays Taten damit gerechtfertigt. Als hätte Lukas an seiner Stelle dasselbe getan. Er legte sich wieder auf den Rücken, verschränkte die Arme hinterm Kopf und sah in den Himmel.
„Er hat meiner Freundin nichts getan, aber ich bin mit einer gebrochenen Rippe im Krankenhaus gelandet."
„Autsch", sagte ich nur.
„Du sagst es. Meine Freundin hat mit mir Schluss gemacht, bevor ich wieder zu Hause war. Sie kann nicht mit jemandem zusammen sein, der sich mit McKay anlegt, hat sie gesagt. Und ich kann es ihr nicht einmal verübeln. Jedenfalls sind McKay und ich seither sowas wie quitt. Er geht mir aus dem Weg, ich geh ihm aus dem Weg. Und er hat aufgehört, Davy fertig zu machen, seit Sin mit ihm und Pete befreundet ist."
Ich betrachtete meinen Cousin und dachte einen Augenblick über alles nach, was er gesagt hatte. „Aber McKay und Sin... sind sie befreundet?"
„Nein. Nicht wirklich. Sie sagt es zwar nicht, aber ich glaube, dass ihr der Kerl genauso auf die Nüsse geht, wie dem Rest von uns."
„Ich blick nicht durch. Warum geht sie dann auf seine Party?"
„Warum nicht?"
Frustriert seufzte ich. Die Leute hier hatten eine eigenartige Dynamik, die ich noch nicht ganz verstand. Vermutlich wollte ich sie auch nicht verstehen.
„Können wir jetzt aufhören, über Sin zu reden?", fragte er dann.
Nein, das konnten wir nicht. Ich konnte es nicht. Ich konnte nicht aufhören, über sie zu reden oder an sie zu denken und das machte mich wahnsinnig. Ich konnte nur daran denken, sie wieder zu sehen und wie sehr ich hoffte, dass sie mich bemerkte und mit mir redete und anlächelte oder meine Hand nahm oder ihre Arme um mich schlang. Ich konnte an nichts anderes denken. Und schließlich war es Lukas gewesen, der mir Sin am aller ersten Tag als Mittelpunkt der Stadt vorgestellt hatte. Er hatte damit angefangen.
„Sie sind zusammen in einem Auto gesessen", sagte ich und Lukas sah mich abwartend an, als würde er auf eine Frage hoffen, aber die kam nicht.
„Er fährt sie überall hin", sagte er trotzdem.
„Warum?"
„Weil er muss. Der Rev zwingt ihn."
„Warum?"
„Weil sie zusammenwohnen." Lukas Tonfall wurde genervt aber mich nervte, dass er mir keine ordentlichen Antworten gab, sondern mir nur kleine Brocken hinwarf, die mich noch viel neugieriger machten.
„Warum wohnen sie zusammen?"
„Weil der Rev Sin damals bei sich aufgenommen hat", sagte Lukas, als sei es offensichtlich. „Ich hab dir doch gesagt, dass er sie in der Kirche gefunden hat, als sie ein Baby war. Sie ist bei ihm aufgewachsen. Sie ist mit McKay aufgewachsen. Sie sind praktisch Stiefgeschwister."
Den Gedanken daran fand ich krank. Besonders, weil Lukas vorhin noch gelacht und gemeint hatte, dass McKay gerne mit Sin zusammen gewesen wäre.
Doch dann verbanden sich zwei lose Enden in meinem Kopf.
„Von welchem Spiel habt ihr vorhin geredet?", fragte ich Lukas, weil ich mir sicher war, dass McKay und Sin eine Rolle dabei spielten.
Lukas grinste verhalten. „Nichts für ungut, aber das ist irgendwie eine Sache, die nur diese Stadt etwas angeht. Und du verschwindest nach dem Sommer wieder, also..."
„Aber es geht um Sin, oder? Sie ist Teil dieses Spiels, hab ich recht?" Vielleicht war das Spiel das fehlende Puzzlestück. Vielleicht würde alles Sinn ergeben, wenn Lukas mir erklärte, was es damit auf sich hatte.
„Sie ist kein Teil des Spiels." Lukas drehte sich zu mir und schob sich die Sonnenbrille in die Haare. Etwas an seinem Blick war ernster geworden. „Sin ist das Spiel."
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