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Lukas holte mich ab, bevor mein Dad wach war. Oder vielleicht war er wach, wollte aber nur nicht aus seinem Zimmer kommen, was ich ihm auch nicht verübeln konnte.
Ich überlegte, ihm einen Klebezettel auf dem Küchentisch zu hinterlassen. Nachdem ich auf eine pinke Haftnotiz geschrieben hatte, dass ich mit Lukas frühstücken ging, setzte ich mir meine zerfranste, rote Lieblingskappe auf und wir schwangen uns auf die Räder und fuhren los. Es war noch kühl und bewölkt. Tau bedeckte die Rasenstücke der Vorgärten. Der Wind wehte von der Küste her und die Luft roch salzig.
Lukas fuhr ein Stück vor mir, sein blaukariertes Hemd flatterte im Wind und er trat kräftiger in die Pedale als ich.
Wir hielten vor einem kleinen Café und stellten die Räder auf dem Gehsteig ab.
„Werden die nicht geklaut?", fragte ich, aber Lukas lachte mich nur an und drückte die Glastüre auf. Ein Glöckchen klingelte. Das Café war wirklich winzig. Es hatte nur vier Tische mit jeweils zwei Stühlen, aber es roch nach Pancakes und Sirup und ich hatte Hunger, also quetschte ich mich bereitwillig mit Lukas auf einen der Holztische.
Die blonde Tochter der Besitzerin, wie mir Lukas verriet, nahm unsere Bestellung auf, während sie mich mit einem misstrauischen Blick musterte und dann in die Küche verschwand, als sich zwei Jungen durch die Türe hindurchdrückten, sich lautstark unterhielten und zwei Stühle von einem anderen Tisch an unseren zogen.
Jetzt war es offiziell enger als in der Schulcafeteria.
„Auf keinen Fall!", sagte der eine Junge mit der weißen Baseballkappe. Er konnte höchstens elf oder zwölf Jahre alt sein. „Godzilla würde gegen Cthulu gewinnen!"
„Du hast doch nicht mehr alle Latten am Zaun!", schoss der andere zurück. Er war vielleicht so alt wie ich. Sie sahen einander sehr ähnlich, sie mussten Brüder sein, dachte ich.
„Cthulu ist ein kosmisches Wesen, mehrere Meilen groß. Und er hat magische Fähigkeiten, wie um alles in der Welt, sollte Godzilla da mithalten?!" Der Kleine schien wirklich aufgebracht.
Lukas warf mir einen vielsagenden Blick zu. Bisher hatten uns die beiden vollkommen ignoriert, von der Tatsache abgesehen, dass sie sich an unseren Tisch gezwängt hatten.
„Godzilla ist eben Godzilla. Ende der Beweisführung."
„Was?! Das ist deine Erklärung?"
„Darf ich vorstellen?", grinste Lukas. „Die Loser der Stadt: Pete und Davy."
Beide sahen mich an, als hätten sie nicht bemerkt, dass ich überhaupt dasaß.
„Wer ist die Bohnenstange?", fragte der Ältere, der von Lukas als Davy bezeichnet worden war.
„Mein Cousin."
Ich hob kurz die Hand und fragte mich, warum Lukas seine Freunde als Loser bezeichnete. Und warum seine Freunde mich als Bohnenstange- gut, nein, das wusste ich. Ich war eine Bohnenstange.
Das Mädchen brachte uns unsere Pancakes, Davy riss mir die Gabel aus der Hand und begann, sich meine Pancakes reinzustopfen. Ich fand das unhöflich, sagte aber nichts dazu.
Lukas schob mir kommentarlos seinen Teller und seine Gabel hin und richtete sich an seine Freunde, während ich einen Bissen probierte.
„Wenn die Damen ihre Diskussion dann beendet hätten: Was steht heute an? Hattet ihr was Bestimmtes vor?"
Davy verdrehte die Augen und Pete schüttelte genervt den Kopf.
„Der Depp hat sich die Wettervorhersage nicht angesehen", sagte Pete und fuhr mit dem Zeigefinger durch eine Pfütze Ahornsirup auf dem Teller und steckte ihn sich in den Mund.
Lukas Augen weiteten sich. „Was, heute?! Wirklich?"
Davy nickte mit vollgestopftem Mund. „Es hat zum ersten Mal dieses Jahr über zwanzig Grad."
Ich sah stumm zwischen den Jungen hin und her. „Und?"
Lukas beugte sich aufgeregt zu mir. „Willst du was Cooles machen? Was absolut, mega Hammer-Geniales?!"
Ich schluckte meinen Bissen hinunter. Die Pancakes waren gut, an dem Gespräch ließe sich arbeiten. „Gib mir ein Beispiel."
Davy boxte mir in den Oberarm, fest genug, dass es wehtat. „Wie lange bist du hier?"
„Den Sommer über."
„Lange genug, dass du nur dann in dieser Stadt überlebst, wenn du nicht weiter hier rumzitterst, wie ein nasser Hund."
„Was soll das denn heißen?" Ich wurde mit jeder Sekunde genervter.
„Davy meint, dass du mitkommen solltest, um die Mutprobe zu bestehen", erklärte Lukas.
„Welche Mutprobe denn?"
„Na, die Mutprobe", sagte Pete.
Lukas sah mich verschwörerisch an. „Komm einfach heute Nachmittag mit, dann wirst du schon sehen." Er warf seinen Freunden einen flüchtigen Blick zu. „Sonst ziehen sie dich den restlichen Sommer damit auf, dass du ein Großstadtweichei bist."
Ich war ein Großstadtweichei. Meinen besten Freund kannte ich seit der Grundschule und sein einziges Hobby war es, Vögel zu beobachten. Ich hatte gar kein richtiges Hobby. Wir waren zusammen im Naturwissenschaftsclub der Schule. Ich wurde von Mädchen höchstens angesehen, wenn ich einen Pickel auf der Stirn hatte oder irgendwo dagegen lief und im Sportunterricht wurde ich immer als letzter ins Team gewählt.
In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich vielleicht der tatsächliche Loser an dem Tisch war und nicht Pete und Davy.
Der Sommer hier war vielleicht die perfekte Gelegenheit, nicht Ich sein zu müssen. Nicht der ängstliche, langweilige Junge, der immer auf der sicheren Seite spielte. Vielleicht sollte ich bei dieser ominösen Mutprobe mitmachen. Nur so zum Spaß... was sollte schon passieren? Und wenn ich Barry nach den Ferien von meinem Sommer erzählte, würde er vor Neid platzen.
Davy und Pete verabschiedeten sich, nachdem sie sich mit Lukas und meinen Pancakes die Bäuche vollgeschlagen hatten und ich fragte meinen Cousin, ob es eine Art Mutprobe war, bei der man draufgehen konnte.
Lukas lachte. „Wenn du dich blöd anstellst, vielleicht. Aber die meisten von uns haben das schon als Kinder gemacht."
„Wer sind die meisten?"
„Na, die ganze Stadt eben. Du wirst schon sehen. Stell nicht so viele Fragen, das nimmt ja den ganzen Spaß vorweg!"
Wir fuhren wieder nach Hause, weil Lukas noch den Rasen mähen sollte. Gegen Mittag, als mein Dad mich bat, Schinken, Käse und ein Sixpack Bier aus dem Supermarkt zu holen, wurde mir klar, dass Bar Harbour wirklich nichts mit Boston gemein hatte.
Der Supermarkt sah aus, wie eine kleine, schmierige Tankstelle in Bosten, mit engen Gängen und wenig Auswahl. Es war stickig im Inneren und ich begann sofort zu schwitzen. Ich war der einzige Kunde in dem Laden und hinter dem Tresen stand ein unheimlicher Mann, der ein Shirt mit schmalen Trägern trug, das vielleicht einmal weiß gewesen war. Genau wie seine Zähne. Als ich die Einkäufe über die Ablage schob und dem Verkäufer den Ausweis meines Dads zeigte, betrachtete mich der Typ von oben bis unten, kaute an seinem Zahnstocher und kniff die Augen zusammen. Ich hatte das Gefühl, dass ich in dieser Stadt noch eine Zeit lang wie ein Aussätziger angesehen werden würde.
„Wusste nicht, dass die alte Sau einen Sohn hat." Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, also nickte ich nur. „Siehst ihm verdammt ähnlich. Wie alt bist du, Junge?"
„Fünfzehn." Meine Stimme war dünn. Mein Dad hatte gesagt, dass ich das Bier kaufen konnte. Ich sollte nur den Ausweis herzeigen. Ich hoffte, dass der Verkäufer nicht annahm, dass ich meinem Vater den Führerschein geklaut hatte.
„Und wo kommst du her?"
„Ich lebe in Boston. Mit meiner Mom."
Der Mann nickte und murmelte nur: „Hat nie was von dir erzählt."
Ich hielt ihm das Geld hin, das Dad mir gegeben hatte. Der Mann nahm den Blick nicht von mir, während er meinen Einkauf in eine Plastiktüte packte. Je länger ich vor ihm stand, desto bewusster nahm ich den Geruch nach Schweiß, Bier und Zigaretten wahr.
Mir wurde mulmig zumute. Ich wollte diesen Laden verlassen.
Ich wollte nach den Einkäufen greifen, aber er hielt sie fest und beugte sich ein Stück weit über den Tresen.
„Hau lieber wieder ab, bevor du-" Er hielt inne und ich lehnte mich automatisch zurück. Seine Worte klangen nach einer Drohung. „Niemand, der hierherkommt, geht wieder", sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Ich schluckte und hielt seinem Blick stand. Dann ließ er die Tüte los und ich stürzte aus dem Laden.
Total abgedreht!
Draußen schüttelte ich mich und atmete tief durch.
Der Mann war verrückt. Und Pete und Davy waren auch verrückt! Und eines stand fest: Nach diesem Sommer würde Bar Harbour mich nie wieder sehen.
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