11
Am nächsten Tag holte ich Lukas nach dem Frühstück wieder ab. Seine Mom saß vorne auf der Terrasse in dem hölzernen Schaukelstuhl. Ich fragte mich, ob sie sich überhaupt jemals von da wegbewegte. Das musste sie, denn sie trug jeden Tag ein anderes Kleid, ihre Locken waren heute sorgfältig hochgesteckt. Aber auf mich wirkte es, als wäre kein Leben in ihren Augen, das machte mir Angst. Warum waren alle Leute in dieser Stadt so abgedreht?
Ihre rotgeschminkten Lippen umschlossen die Zigarette, die sie zwischen Zeigefinger und Mittelfinger hielt. Ich musste an Sin denken.
Langsam ging ich die Treppenstufen zur Terrasse hoch. Sie hob den Blick nicht, sondern starrte gedankenverloren in die Ferne. Irgendetwas in mir war sich sicher, dass sie meinen Unterarm fassen, mich zu sich ziehen und mir etwas Unheimliches zumurmeln, wenn ich an ihr vorbei ins Haus gehen würde und jeder Muskel meines Körpers spannte sich an. Nichts geschah und ich atmete erleichtert aus, als ich im Wohnzimmer stand und die Fliegengittertüre hinter mir wieder zufiel.
„Lukas? Ich bin's!", rief ich unsicher. Kurz darauf polterte mein Cousin die Treppen hinunter. Seine Mundwinkel waren nach unten gezogen.
„Planänderung", meinte er grimmig, als er sich an mir vorbeidrängte.
„Was meinst du?", rief ich ihm hinterher, weil ich gar nicht gewusst hatte, dass wir überhaupt einen Plan gehabt hatten. Lukas war längst im Garten bei seinem Rad angekommen und ich folgte ihm, obwohl mir jegliche Erklärung fehlte.
Stumm fuhr ich neben ihm her. Er sah furchtbar schlecht gelaunt aus und sprach kein Wort.
„Wo fahren wir hin?", fragte ich irgendwann.
„Sag ich dir, wenn wir dort sind."
Dort war ein Bauernhof am Rand der Stadt.
Ein älterer Mann mit weißem Bart, Latzhose und Strohhut stand am Holzzaun, als wir von unseren Rädern stiegen. Er hielt einen großen, braunen Hund an der Leine, der uns sofort schwanzwedelnd begrüßen wollte. Der Mann sah mindestens so grimmig aus, wie Lukas an dem Tag.
„Da bist du ja endlich!", blaffte er Lukas mit gurgelnder Stimme an, während der Hund an seiner Leine zerrte und uns anbellte. „Und wer ist das?" Er streckte seine dicken Finger nach mir aus.
„Mein Cousin. Er hilft mir."
Tat ich das? Der Mann grummelte verärgert darüber, dass ich keine Hilfe sein würde und dass kein Verlass mehr auf die Jugend von heute war und wir alle glücklich sein konnten, dass er den Job machte, den er machte. Dann winkte er kopfschüttelnd ab, während er weiter unverständliches Zeug vor sich hinmurmelte, sich umdrehte und vorausging, während der Hund weiter in unsere Richtung wollte und sich nur widerwillig mitziehen ließ. Lukas folgte dem Mann und ich folgte Lukas. Mein Cousin streckte beide Hände nach dem hechelnden Hund aus und kraulte ihm den Kopf. „Schon gut, ich hab dich auch vermisst. Komm mit, mein Mädchen."
„Wer ist das?", wollte ich wissen. „Was machen wir hier?"
Lukas richtete sich wieder auf, während der Hund neben ihm hertrabte. „Das ist Skully."
„Skully?" Ich war mir nicht sicher, ob er den Hund oder den Mann meinte.
„Er heißt nicht wirklich so. Er heißt Driskull. Aber du hast ihn ja gesehen. Der Kerl ist unheimlich. Er hat meinen Dad heute Morgen angerufen und mein Dad hat mich angerufen. Skullys Söhne sind nicht da und heute müssen die ersten Tomaten geerntet werden. Dieses Jahr hat es noch länger gedauert als sonst, bis sie reif waren. Es war nicht allzu warm."
„Und was haben wir damit zu tun?"
„Na, mein Dad kauft ihm die Dinger immer ab, um sie in seinem Laden zu verkaufen. Skully gibt ihm einen Preisnachlass, wenn ich helfe."
Schön, aber was hatte ich damit zu tun? Ich bekam keinen Preisnachlass und ich mochte keine Tomaten.
Skully und der Hund blieben stehen. Wir waren an einem Streifen Feld angekommen, an dem in fünf Reihen eine ganze Feldlänge Tomatenstauden standen. Dahinter waren, wie ich vermutete, kleine Getreidefelder, Maisfelder oder was sonst noch grün war und aus dem Boden wuchs.
„Die müsst ihr alle abklappern", brummte Skully und warf uns einen bitteren Blick zu. „Viele sind noch nicht reif, das wird wohl erst im September passieren, wenn es mit dem Wetter so weiter geht, aber wenn wir mit der ersten Ernte nicht beginnen, werden sie alle verfaulen." Irgendwie zog es mir bei der Art, wie er das Wort verfaulen betonte, den Magen zusammen. „Ich habe euch genügend Körbe hier an den Zaun gestellt. Lukas, ich verlasse mich darauf, dass ihr auf meinem Feld keinen Mist baut, hast du mich verstanden?" Wie auch immer man auf einem Feld Mist bauen konnte...
Lukas nickte knapp.
„Dann an die Arbeit!", blaffte Skully. „Ich will die erste Fuhre heute Mittag zu deinem Vater in den Laden bringen." Er kehrte uns den Rücken zu und sein Hemd war an einigen Stellen durchgeschwitzt. „Komm mit, Nessie." Der Hund bellte laut auf und er zog an der Leine. „Wird's bald!"
Lukas sah ihm finster nach, bevor er sich einen der Holzkörbe vom Zaun nahm, und sich in der ersten Reihe an der ersten Pflanze zu schaffen machte. Ein paar Sekunden sah ich ihm einfach nur zu. Ich hatte noch nie Tomaten geerntet. Wenn ich ehrlich war, war ich immer noch überrascht darüber, dass sie nicht auf Bäumen wuchsen, so wie Äpfel es taten. Manche von ihnen waren groß und fleischig, auf anderen Pflanzen hingen kleinere Früchte.
„Und jetzt pflücken wir sie einfach?", hakte ich nach.
„Du hast Skully doch gehört. Bis Mittag müssen wir vorangekommen sein."
Nun, dann war es wohl so. Widerstandslos nahm ich mir ebenfalls einen Korb und machte es Lukas nach. Es war schließlich nicht so, als hätte ich Besseres zu tun gehabt. Ich zupfte die roten Tomaten vorsichtig von den Stauden und legte sie in den Korb. Manchmal bliebt der Stängel an dem Gemüse hängen, manchmal an der Pflanze.
Eine Weile standen wir stumm nebeneinander und pflückten einfach nur Tomaten, während uns die Sonne auf die Köpfe schien. Zum Glück war es noch nicht Mittag und die Hitze war noch erträglich, aber ich begann trotzdem bald zu schwitzen. Nach zehn Minuten zog sich mein Cousin das Flanellhemd aus und nochmal fünf Minuten darauf auch das T-Shirt, das er darunter getragen hatte.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass das hier leichte Arbeit war, aber bald taten mir der Rücken und die Füße weh und die Mücken flogen mir permanent in die Ohren oder Augen. Einmal mehr wurde mir deutlich, dass ich ein Großstadtknirps war. Lukas sah aus, als würde er hier auf die Farm hingehören. Er trug das richtige Schuhwerk, es kümmerte ihn nicht, dass seine Jeans abgewetzt war und Erdflecken bekam und je mehr ich versuchte, seine muskulösen Arme zu ignorieren, desto mehr fielen sie mir auf. Ich musste wieder an Sin denken.
Mädchen wollten keine Bohnenstangen, wie mich, die schon bei einem vollen Müllsack schnauften, wenn sie ihn die Treppen runtertragen und in einen hohen Container werfen mussten. Mädchen wollten Jungen wie Lukas, die einhändig einen ganzen Tisch stemmen konnten.
Warum also hätte Sin an mir interessiert sein sollen? Da musste mehr dahinterstecken. Ob es mit dem Spiel zu tun hatte, über das niemand mit mir reden wollte?
„Ich muss dich was fragen", sagte ich schließlich, unterbrach meine Tomatenpflückarbeit aber nicht.
„Was denn?"
„Sin hat gestern zu mir gesagt, ich soll dich nach dem Spiel fragen."
Er kniff die Augen zusammen, als er mich ansah, weil ihn die Sonne blendete und versuchte, sie mit einer Hand abzuschirmen.
„Wann hat sie das zu dir gesagt?"
Ich war mir nicht sicher, ob Lukas wusste, dass sie Drogen nahm, aber die beiden waren eng befreundet, warum hätte er es nicht wissen sollen? „Als wir zusammen im Badezimmer waren und sie gekokst hat."
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, in etwas noch ernsteres als zuvor. Hatte er doch nichts von den Drogen gewusst? Er wandte sich ab und zog eine Tomate vom Strauch. „Was habt ihr denn im Bad gemacht?"
Ich antwortete nicht, lief aber bestimmt trotzdem genauso rot an, wie die Tomaten, die wir pflückten. Außerdem regte sich bei dem Gedanken an gestern Nacht wieder etwas in meiner Hose. Ich hätte meine Seele verkauft, um ihre weichen Lippen noch einmal so federleicht an meinem Hals zu spüren.
„Erzählst du mir von dem Spiel?", fragte ich dann noch einmal.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen."
Ich ließ die Tomaten Tomaten sein. „Das glaube ich aber nicht."
Er wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn, bevor er mich ansah. „Es geht um Sex, Nullpeiler."
„Das ist keine Antwort. Warum wird um alles so ein Geheimnis gemacht, in dieser gottverdammten Stadt?", fragte ich und wurde sauer.
Es war das erste Mal an diesem Tag, dass Lukas ein Lächeln übers Gesicht huschte. „Gottverdammt? Nein, mit Sin nicht."
„Doch, eben wegen ihr", murmelte ich. Wir wandten uns beide wieder den Tomatenstauden zu, während ich versuchte, an möglichst asexuelle Dinge zu denken, um den Ständer in meiner Hose loszuwerden.
„Am Anfang war es noch kein Spiel", sagte er dann. „Am Anfang... haben alle gesagt, dass Sin es mit jedem treibt und es nichts Besonderes ist. Sie ist wirklich mit jedem ins Bett gestiegen." Das hätte mich nicht einmal halb so eifersüchtig machen sollen, wie es das tat.
Nichts Besonderes...
„Auch mit dir?", fragte ich, obwohl ich es eigentlich gar nicht wissen wollte.
„Ich bin ihr bester Freund. Sie hat meine Matratze als eine der ersten mit ihrem Hinternabdruck signiert." Das brachte die Fahne zum Fallen. „Mit der Tochter des Revs zu schlafen war praktisch, wie... die höhere Weihe erhalten. Naja, und irgendwann hatte sie schon mit so vielen Typen geschlafen, dass es einen echt fertig machen konnte, wenn man selbst noch nicht dran war, verstehst du? Ich meine, wenn jemand wie Sin nicht wählerisch ist, dich aber nicht ranlässt, dann-" Er zog scharf die Luft ein. „Mann, das ist ein Eiswürfel im Schlafsack. Plötzlich gab es diese zwei Gruppen. Die, die mit Sin im Bett waren und die Loser. Und so ist dieses Spiel entstanden, dieser... unbenannte Wettkampf. Es ist einfach so passiert. Man ist nichts Besonderes, wenn man mit ihr schläft. Man ist kein Gewinner." Er lachte auf. „Aber, zum Teufel, wenn sie nicht mit dir schläft, dann bist du schon ein verdammt großer Loser!"
Das Spiel, bei dem es nur Verlierer gibt. Das hatte Davy gesagt.
„Also... Es geht nur um Sex?", fragte ich abschließend.
„Hab ich doch gesagt."
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Von einem Haufen Kids, die von Klippen runtersprangen, hatte ich eigentlich keinen geistreichen Einfall erwartet, aber das grenzte an Idiotie. Außerdem wusste ich nicht, was ich davon halten sollte, dass gerade Sin, das Herzstück dieser Stadt, mit fast allen Jungen ihres Alters geschlafen haben sollte. Ich hatte gedacht, dass alle so sehr hinter ihr her waren, weil sie sie eben nicht haben konnten. Aber so musste ich meine Theorie wieder über den Haufen werfen und von Neuem durchdenken. Es konnte doch nicht sein, dass alle Jugendlichen aus Bar Harbor von diesem Spiel wussten und da mitmachten.
„Aber jetzt Mal im Ernst", sagte Lukas. „Das darfst du keinem der Erwachsenen sagen, verstanden? Geht niemanden was an." Ich wusste nicht, wem ich sowas hätte sagen sollen. Meinem Dad? Eher nicht. Und alle anderen Erwachsenen fand ich viel zu schräg.
Wir sprachen nicht weiter über das Spiel oder Sin. Eigentlich sprachen wir gar nicht mehr, bis Skully gegen Mittag mit seinem Hund wieder aufs Feld kam und unseren Fortschritt begutachtete. Er schien zufrieden und obwohl sein Tonfall immer noch unfreundlich war, klang er dennoch etwas milder.
„Helft mir, die Körbe auf den Traktor zu laden, dann fahre ich die erste Fuhre zu deinem Vater in den Laden."
Lukas drehte sich zu mir. „Schon mal auf einem Traktor mitgefahren?" Ich schüttelte den Kopf. „Willst du?"
Nachdem wir gute dreißig volle Körbe aufgeladen hatten, schwang Lukas sich auf den Anhänger und reichte mir die Hand, um mich hochzuziehen. Der Traktor war klein und rot und sah sehr alt und klapprig aus. Wir setzten uns und Skully lenkte den Traktor samt Anhänger durch die Straßen. Mit den Rädern wären wir schneller gewesen und wir wären weniger durchgeschüttelt worden, aber es machte trotzdem Spaß.
Wir kamen an einer Gruppe Mädchen vorbei, die mitten auf dem Gehweg anhielten und den oberkörperfreien Lukas anstarrten, ihm zuwinkten und grinsend miteinander tuschelten.
Wir halfen noch, zwei Klapptische vor dem kleinen Geschäft von Lukas Dad aufzubauen, breiteten weiße Tischtücher darauf aus und stellten die ersten Körbe mit den Tomaten darauf, bevor wir die restlichen in den Keller trugen, in dem es fast so kalt war, wie in einem Kühlschrank.
Skully fuhr auf seinem Traktor zurück und Lukas Dad drückte meinem Cousin und mir jeweils einen zehn Dollarschein in die Hand, klopfte uns auf die Schulter und verzog sich wieder hinter den Tresen.
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