10
Drei Minuten später stand ich mit Sin im Badezimmer. Ich wusste nicht, warum sie das Licht nicht eingeschaltet hatte, aber ich wies sie nicht darauf hin. Immerhin drangen unter dem Türspalt und durch das Fenster genügend Licht in den kleinen Raum, damit Sin tun konnte, was auch immer sie tat. Sie räumte Flaschen und Kosmetika von der Waschmaschine und holte dann das kleine Tütchen heraus, das sie von McKay bekommen hatte.
„Also", sagte sie und hielt ihre Stimme leise. „Drogenjungfrau? Bist du auch eine andere Art von Jungfrau?"
Zum Glück konnte sie nicht sehen, dass ich knallrot anlief. Ich hätte lügen können, aber gleichzeitig redete ich mir immer noch ein, dass mir egal war, was sie von mir dachte. Es stimmte zwar nicht, aber immerhin belog ich sie nicht. Ich antwortete gar nichts darauf und auf ihrem Gesicht breitete sich ein neckendes Grinsen auf.
„Nimm mich nicht so ernst." Sie beugte sich über die Waschmaschine und ließ ein Häufchen von dem Pulver auf die Oberfläche fallen, bevor sie das kleine Plastiksäckchen wieder in ihre Hosentasche stopfte. Sie öffnete einen der Badezimmerschränke und zog eine Rasierklinge hervor. Schockiert fragte ich mich, was sie damit vorhatte, aber sie teilte das Schneehäufchen nur vorsichtig in der Mitte auf. Dann beugte sie sich vorne über, drückte sich ein Nasenloch zu und zog die Droge hoch.
Ich war verblüfft, wie routiniert sie das anstellte. Wie lässig es bei ihr aussah. An meiner Schule erkannte man die Drogenjunkies aus hundert Meter Entfernung, wobei man zwischen den entspannten und den unentspannten unterscheiden musste. Die entspannten waren die, die hinter der Schule oder auf den Toiletten Gras rauchten, im Unterricht komische Antworten gaben und meist recht zufrieden mit sich und der Welt aussahen. Barry hatte mir einmal erzählt, dass er einer der Marihuanagruppen nach dem Sport begegnet war, als sie hinter den Müllcontainern geraucht hatte. Er hatte mir berichtet, dass sie alle freundlich und lustig gewesen waren. Er hatte auch behauptet, selbst einen Zug von einem Joint genommen zu haben, aber das kaufte ich ihm nicht ab.
Die unentspannten Drogenjunkies waren die, aus den kaputten Haushalten, die, mit den schlechten Noten, die, die Schlägereien anfingen. Die, die koksten, Pillen einwarfen und von denen man leere Spritzen in Bankfächern oder auf dem Schulhof fand. Von denen waren Barry und ich mehr als einmal durch die Straßen gejagt worden, damit wir ihnen unser Taschengeld gaben.
Drogenabhängige konnten echt schnell rennen.
Aber Sin sah überhaupt nicht aus, wie jemand, der Drogen konsumierte. Sie war zu hübsch, zu witzig, zu entspannt, zu beliebt, zu schlau. Dieses Mädchen stellte mein komplettes Weltbild auf den Kopf.
„Willst du auch?", fragte sie mich und ich zögerte. Bier war okay, zu einer Zigarette hätte ich mich vielleicht von ihr überreden lassen, aber Koks? Lieber wäre ich noch einmal von dieser unsäglichen Klippe gesprungen und zwar ohne ihrer Hand in meiner.
„Wie du meinst." Sie zuckte mit den Schultern, rührte das zweite Häufchen Koks aber nicht an, bevor sie sich auf den Badezimmerfußboden setzte. Plötzlich fragte ich mich, warum ich ihr überhaupt gefolgt war, wenn ich nun doch gar keine Drogen nahm, aber das schien Sin gar nicht aufzufallen. Sie zündete sich noch eine Zigarette an und ich setzte mich ihr gegenüber in den Schneidersitz. Die Fließen waren kalt, aber die Luft war stickig und feucht, so wie im Wohnzimmer auch.
„Kann ich dich was fragen?" Ich sah sie an, konnte in der Dunkelheit aber nur schwer ihre Augen ausmachen. „Was ist das für ein Spiel von dem alle sprechen?"
Sie griff in ihre Hosentasche und zog wieder das Päckchen mit den Zigaretten heraus. Darin war auch ein Feuerzeug. „Beer Pong?"
„Ich meine das Spiel, über das keiner mit mir reden will."
Sie steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und entzündete sie. Dann blies sie den Qualm aus und schmunzelte mich an. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst", behauptete sie.
„Das glaub ich dir nicht."
„Nein, ehrlich, ich hab keine Ahnung." Mit der Zigarette zwischen den Fingern stützte sie sich an den Händen am Boden ab und lehnte sich zurück. „Ich meine, natürlich weiß ich, worum es geht, aber ich kenne die Regeln nicht. Und eigentlich interessiert es mich auch nicht."
„Lukas hat gesagt, dass... du das Spiel bist."
Sie zog noch einmal bedächtig an ihrer Zigarette und ich hasste es, dass sie sich so viel Zeit für ihre Antworten nahm. Dass sie mich zappeln ließ. Endlich sagte sie: „Ich habe dieses dämliche Spiel nicht begonnen. Das haben die." Ich wusste nicht, wer mit die gemeint war. „Aber hat Lukas dir echt nicht erzählt, worum es geht?" Ich schüttelte den Kopf. „Hm. Dann erzähl ihm, dass du heute mit mir hier oben warst. Dann sagt er es dir sicher."
Ich war immer noch verwirrt. „Diese Stadt ist seltsam."
Sie stieß einen amüsierten Laut aus. „Ja, das stimmt. Sie ist ziemlich weiß."
Ich legte die Stirn in Falten. „Meinst du... die Menschen?"
Jetzt lachte sie. „Ja, das auch, jetzt, wo du es sagst. Ich meine... hast du hier schon mal einen Farbigen gesehen? Es ist eine verdammt weiße Stadt. Ich hasse das."
„Warum?"
Sie schwieg einen Augenblick, war in ihren Gedanken versunken und zog an ihrer Zigarette, bevor sie den Blick hob und mit etwas mehr Ernsthaftigkeit sagte: „Weil Weiße mit Dingen durchkommen, mit denen andere nicht durchkommen."
„Ich verstehe nicht, was du meinst."
„Schwer zu erklären... Vielleicht rafft man das nur, wenn man sein Leben in dieser Stadt verbracht hat. Hier sind alle so nahtlos. Gehen sonntags in die Kirche, backen Kirschkuchen und gehen mit ihren Kindern auf den Spielplatz. Aber es ist alles Fassade. Und eine schlechte noch dazu." Ich schwieg. „Weißt du, das Ding ist nur", sie zog weiter an der Zigarette, als wäre sie die Luft, die sie zum Atmen brauchte, und der Qualm verließ ihren Mund, während sie weitersprach. Ihre Stimme klang dumpf. „Selbst in einer weißen Stadt gibt es schwarze Schafe. Und es gibt immer Leute, die weißer sind."
Ich hatte immer noch keine Ahnung, wovon sie redete, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie nicht mehr von Hautfarbe sprach. Falls sie das überhaupt getan hatte.
„Weißt du, ich habe keine Ahnung, wo ich herkomme. Wer meine Eltern sind. Ich war einfach eines Tages da. In der Kirche. Das hat doch etwas Mysteriöses, findest du nicht?"
„Kann schon sein...?" Ob es wohl an dem Koks lag, dass sie von einem Thema zum anderen sprang? Aber eigentlich war es mir egal. Sie sollte nur nicht aufhören, zu reden.
„Mein Dad, der Rev, denkt, ich bin Gottes Geschenk. Er glaubt fest daran, dass ich ein Engel bin. Oder sowas in die Richtung. Das glauben viele in dieser Stadt. Sie behandeln mich, als sei ich was Besonderes. Nicht mal in der Schule muss ich mich anstrengen. Klar, kein Lehrer will das Mädchen durchfallen lassen, von dem der Rev jeden Sonntag predigt, dass es gottgeschickt sei. Eine Heilige. Diejenige, die dieser Stadt Erlösung bringen soll."
Sie drückte die Zigarette auf einer der Fliesen aus und ich dachte über ihre Worte nach.
„Ich bin perfekt", murmelte sie und starrte auf einen Punkte auf dem Boden. „In Bar Harbour bin ich die Weiße unter allen Farbigen, verstehst du?"
„Dir könnte schlimmeres passieren, oder?", fragte ich vorsichtig, weil ich sie damit nicht beleidigen wollte.
Sie sah nachdenklich aus. „Ja, schon."
Ich hörte ein Aber, wollte sie jedoch nicht darauf ansprechen. Sin war nicht perfekt, weil sie hier mit mir auf dem Fliesenfußboden saß und eben Koks die Nase hochgezogen und heute Abend eine Zigarette nach der anderen geraucht hatte. Aber das änderte nichts daran, dass ich am liebsten die Zeit angehalten hätte und für immer mit ihr in diesem engen Raum geblieben wäre.
Ich stieß ein leises, wehmütiges Seufzen aus, das sie nicht bemerkte.
Die ganze Stadt glaubte, dass sie etwas Besonderes war. Und verdammt, das war sie, ich wusste nur nicht, warum. Wie hatte mein Cousin recht behalten können? Wie hatte ich so schnell eine so starke Zuneigung und Neugierde für Sin empfinden können? Wenn ich daran dachte, dass ich Ende des Sommers wieder nach Boston musste, und das Leben in dieser seltsamen Stadt nicht mein Leben war, wurde mir schlecht.
Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich schamlos auf ihre Brüste gestarrt, während ich über all das nachgedacht hatte. Als ich wieder aufsah, traf mich ihr amüsierter Blick und mir wurde heiß. Ich fühlte mich ertappt, aber ihre Gesichtszüge wirkten unbekümmert, trüb und benebelt, das erkannte ich sogar bei dem spärlichen Licht.
„Soll ich dir einen runterholen?", fragte sie und ich riss schockiert die Augen auf, während ich mich gleichzeitig fast an meiner Spucke verschluckt hätte.
„W-Was?"
Ihr Blick wurde intensiver. „Ich würde dir auch einen blasen, aber ich hab Angst, dass du tot umfällst, wenn ich das mache."
Vielleicht wäre ich tatsächlich tot umgefallen. Ich konnte ihr keine Antwort geben, ich konnte mich nicht rühren. Ich hatte Angst, dass sie mich nur auf den Arm nehmen wollte, und ich hätte die bodenlose Peinlichkeit nicht ertragen, wenn ich zugegeben hätte, wie sehr ich wollte, dass sie tat, was auch immer sie tun wollte, und sie mich dann ausgelacht und gesagt hätte, dass sie so eine Bohnenstange wie mich niemals anfassen würde.
Sie legte den Kopf schräg und musterte mich. „Hast du schon Mal ein Mädchen geküsst?"
„Natürlich", log ich, aber meine Stimme sagte das genaue Gegenteil. Mädchen sahen in mir den Hausaufgabenhelfer, nicht den Kerl zum Küssen.
„Und hast du schon Mal ein Mädchen nackt gesehen?"
„Klar."
„Im echten Leben oder nur auf Pornoseiten?", schmunzelte sie und ich verzog die Lippen. Ich hatte doch gewusst, dass sie sich über mich lustig machen wollte. Die Luft kam mir so dick wie Pudding vor, als Sin die Beine unterschlug, sich nach vorne beugte und meinem Gesicht auf allen Vieren so nah kam, dass ich ihr Parfum riechen konnte. Es roch süß und vermischte sich mit dem bitteren Zigarettenrauch und dem sauren Bier, und ich wollte mehr davon, aber ich konnte mich nicht bewegen.
Ihre Augen schielten auf meine Lippen. Ich wollte an ihren Haaren riechen, wollte ihre makellose Haut berühren. Das Atmen fiel mir so schwer, als läge ein Ziegelstein auf meiner Brust.
„Willst du mich nackt sehen?", flüsterte sie.
Ich schluckte wieder, während ein Schauer durch meinen gesamten Körper fuhr. Das war nicht real, es konnte nicht real sein. Sin war viel zu hübsch und sie war zwei Jahre älter als ich. Sie hätte mit jedem auf diesem Fußboden sitzen können, sie hätte Lukas haben können, warum sich mit jemandem wie mir abgeben?
Meine Gedanken stellten sich gegenseitig ein Bein, stolperten übereinander, bis ich Sins Atem auf meinen Lippen spüren konnte. Ich wartete darauf, dass ihr schallendes Gelächter den Raum erfüllte, sie sich zurückzog und mir sagte, dass sie mich nur auf den Arm nehmen wollte.
Sie brachte ihr Gesicht noch näher an meines heran, vorbei an meiner Wange, und dann legte sie ihre Lippen hauchzart an meinen Hals.
Eine unkontrollierte Mischung aus Seufzen, Stöhnen und Wimmern verließ meine Kehle und jeder Muskel in meinem Körper war zum Zerbersten angespannt. Gänsehaut breitete sich an der Stelle aus, an der sie mich eben geküsst hatte und kroch mir den Nacken entlang.
Ich wollte sie küssen. Ich wollte sie berühren. Ich wollte, dass sie mich berührte. Mir war so heiß und schwindelig, dass ich glaubte, mir die Grippe eingefangen zu haben. Sie legte ihre Lippen noch einmal an meinen Hals, nur wenige Zentimeter versetzt und diesmal etwas fester, während das Pochen in meiner Hose unerträglich wurde.
Im nächsten Moment knallte die Türe gegen die Wand und Licht durchflutete den Raum, bevor Sin erschrocken zurückzuckte und die Augen zusammenkniff. Im ersten Augenblick konnte ich nichts sehen. Mein Herz raste und mein Körper war ein einziger Ofen, als Sin auf die Beine gezogen wurde.
„Verdammt, was soll die Scheiße?", hörte ich McKay knurren und das Feuer in meinen Gliedern wurde durch kalten Angstschweiß ersetzt. Meine Augen gewöhnten sich an das Licht vom Flur und McKay erblickte mich, wie ich immer noch auf dem Fußboden saß.
„Ist das dein Ernst? Der Neue? Ich bring dich nach Hause, bevor Dad mitkriegt, was du treibst. Wie viel hast du genommen?" Er packte sie am Kinn und sah in ihre Augen, als stünden die Milligramm, die sie geschnupft hatte darin.
Sin starrte ihn nur ausdruckslos an, aber ich war mir nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt so richtig erkannte. Ihre Mimik gab es nicht preis. Ob sie sich morgen daran erinnern würde, mit mir hier gewesen zu sein?
Ich fühlte zu gleichen Teilen Erleichterung und Frustration. Erleichterung, weil sie nicht bei klarem Verstand war und alles, was zwischen uns hätte passieren können, falsch gewesen wäre, und Frustration, weil ich es dennoch genossen hätte und McKay mir eine solch einmalige Gelegenheit versaut hatte.
Ohne nachzudenken sprang ich auf die Füße und baute mich vor McKay auf, der natürlich immer noch einen Kopf größer war als ich und mich sogleich zornig anfunkelte, bevor er Sin aus dem Bad schubste, aber weiterhin am Arm festhielt, bevor er sich zu mir beugte und seinen Zeigefinger so fest in meine Brust bohrte, dass es wehtat, aber ich gab mich selbstsicher und wich nicht zurück.
„Lass mich dir einen Rat geben, Bohnenstange", murmelte er bedrohlich. Er roch nach Alkohol, Zigaretten und Schweiß. Ihm fiel eine Locke in die Stirn, während er sprach. „Ich bin sicher, Lukas hat dir von seinem kleinen Krankenhausaufenthalt erzählt. Also bleib weg von meiner Schwester, bevor du deine Sommerferien auch dort verbringst."
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