Scarlett ~ Warnschuss
Ich befand mich in einer Turnhalle, die ich vor dem heutigen Tag noch nie betreten hatte, links und rechts vor mir hatten sich jugendliche Dealer aufgebaut und das Gebäude war von Mafiosi umstellt. Der Drogenhändler und seine Bodyguards trafen sich gerade in der Mitte des Feldes mit zwei grimmigen Frauen in Kampfmontur, und bis auf meinen Dolch war ich unbewaffnet.
Ein Lächeln zuckte um meine Mundwinkel.
Ich spürte die Tasche in meinem Gürtel, die mit Zinkblech ausgekleidet war und die kaum acht Kubikzentimeter fasste, gegen meine Hüfte drücken. Sie enthielt eine winzige Ersatzration, meinen Adrenalinstoß für den Notfall – einen Eiswürfel. Von meiner Position auf den Stufen konnte ich Hunter schemenhaft hinter den Seilen auf der Empore erkennen, und obwohl er noch die Illusion trug, war er da. Meine Familie.
Nun, und T'Chada gab es auch noch, neben der Tafel schräg vor mir, der mit verschränkten Armen seinen Blick nicht von den Geweihten ließ. Er durfte Interesse zeigen, ich nicht, oder zumindest nicht so viel.
„Die sehen jetzt nicht gerade vertrauenserweckend aus", wandte ich mich mit halbem Grinsen nach links, wo Jonah mittlerweile in Jeans und rotem Shirt saß. Vorhin, als Patrick und mein Cousin Plätze getauscht hatten, waren er und Luca sich umziehen gegangen, und es schien ihn nicht zu stören, dass sich das Oberteil mit seinen roten Haaren biss. „Bin ich etwa nicht angsteinflößender als diese Hampelmänner?", fragte Jonah mit einem Grinsen zurück, das seine Zähne zeigte. Luca drehte sich kurz zu uns um und warf ihm einen mahnenden Blick zu, er schien zu angespannt, um sich setzen zu können.
Jonah dagegen hatte sich entspannt zurückgelehnt und seinen rechten Arm auf der Stufe über uns gelehnt, den Oberkörper mir leicht zugewandt. An seinem kontrahierten Bizeps erkannte ich, dass er zwar ebenfalls innerlich zitterte, aber auf seinen Lippen lag das altbekannte Lachen: „Mach' dir keine Sorgen, Kleine, zumindest die Mafia macht keinen Stress, solang alles nach ihren Plänen läuft." Tja, um die Geweihten machte ich mir ja auch keine Sorgen, die hatten gerade meinen Bruder als Babysitter.
Derjenige, dem meine unruhigen Gedanken galten, erhob seine Stimme jetzt so weit, dass wir hier hinten deutlich die Worte verstehen konnten: „Ja, dann hättet ihr nicht einen meiner wichtigsten Käufer um die Ecke bringen sollen... Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, die großen eben anderweitig, Ladies!"
Ich wusste nicht, was mich mehr anwiderte – sein selbstgefälliger Ton oder der Fakt, dass er sich mit Gott gleichstellte. Es war vermutlich gut, dass nicht ich vor ihm stand, denn die Mafiosas antworteten mit Sätzen, nicht mit Schlägen: „Feinde der Geweihten sollte man sich nicht zu Freunden machen... und du willst nicht unser Feind sein, Shuriken. Der Preis bleibt bestehen wie ausgemacht, und ich lege dir nahe, den Handel ohne Zwischenfälle abzuschließen." Die Stimme der Grauhaarigen war leiser, aber auch viel kälter als die des Dealers, und sie durchschnitt die Luft so klar, dass sogar mir beinahe ein Schauer den Rücken heruntergelaufen wäre.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jonah sich plötzlich erhob und mit einem einzigen großen Schritt auf den Boden neben Luca trat. Die beiden Teenager mit den breiten Kreuzen hatten sich nun Schulter an Schulter vor mir aufgebaut, und ich konnte von den Händlern nur noch die beiden Geweihten erkennen. Der Einzige, der sich nicht bewegt hatte – sogar die Blonde, die vorhin nur für wenige Sekunden in meinem Sichtfeld gewesen war, hatte zwei Schritte nach hier unten getan –, war T'Chada, der seinen fläzenden Löwenkönig wieder raushängen ließ. Er saß halb gegen den Fuß der Kreidetafel gelehnt, zur anderen Hälfte auf seinen linken Arm gestützt. Seine Augen fixierten den Wächter im braunen Pullover, der an der Seite unter Hunter entlangstromerte, und mit der rechten Hand nestelte er am Saum seines Hoodies. Ich wusste, dass er darunter einen Vibraniumanzug trug, den Morgan ihm vorhin noch vorbeigebracht hatte.
Dieser Shuriken, wie ihn die Geweihte genannt hatte, war jetzt verstummt, und ich vermutete stark, dass vor mir gerade ein Blickduell ablief. So ganz war ich nicht mitgekommen bei dem Gespräch, aber es schien so, als hätte die Mafia einen Kunden des Dealers beseitigt, der deswegen seine Preise erhöht hatte. Abwesend zog ich meine Unterlippe zwischen die Zähne, mit dem bohrenden Gedanken, dass unsere Feinde hier nicht mitmachen würden...
Prompt biss ich mir die Lippe blutig, als ohne Vorwarnung ein Schuss die Luft zerfetzte. Die Härchen an meinen Armen waren aufgestellt und ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich auf meine Füße gesprungen war, aber nur Millisekunden später war ich neben Jonah und Luca – T'Chada rechts von mir, seine Hand an meiner Schulter.
Mein Herz pumpte heftig und meine Augen suchten hektisch nach der Ursache des Knalles, doch meine Sicht war verschwommen – ich war zu schnell hochgeschnellt, mein Kopf drehte sich. Beinahe war ich dankbar für die stützenden Finger meines Cousins, denn Jonah auf meiner anderen Seite stand da wie erstarrt.
Die Stimmen der Drogenhändler hatten sich wieder gehoben, aber es waren mindestens vier und sie alle waren fremd – die einzigen Worte, die ich klar raushörte, war das leise geraunte „Keep cool, Kit" an meinem Ohr.
Mein Kopf ruckte herum, nach rechts, wo auf der Empore mein Bruder stand, der seine Hand am Waffengürtel hatte. Sein Blick, der auf meinem lag, war nicht das vertraute, beruhigende Grün, aber... er war unversehrt.
Endlich fokussierte ich mich wieder auf das eigentliche Geschehen, wo die beiden Geweihten ihre Pistolen gezogen und auf Shuriken gerichtet hatten, selbst im Ziel von den Waffen dessen Bodyguards. Der Dealer selbst hielt eine Glock in der linken Pranke, aber er hatte sie auf die Decke gerichtet – ein Warnschuss nach oben...
Nein, keine Warnung. Ein Ruf.
Irgendwo auf der Empore hinter mir schlug eine Tür auf und ein merkwürdiges Geräusch ertönte, kein Aufschrei, aber trotzdem laut, etwas animalisch – ein Knurren. Ich fuhr in derselben Bewegung herum, wie T'Chada einen Sprung an mir vorbeitat, sodass wir Rücken an Rücken standen. Die Verteidigungsposition, die uns Watchers ausmachte, uns gegenseitig deckend, egal, ob wir uns leiden konnten oder nicht.
Durch das Glas des Geländers, an dem schon einige Finger ihre Abdrücke hinterlassen hatten, erkannte ich einen feindlichen Neuankömmling, alarmiert durch den Schuss. Er war gekleidet wie die Bodyguards des Dealers, im Zweikampf mit dem Geweihten, der mit Hunter gekommen war. Beide Kontrahenten waren blond, und ich hatte keine Ahnung, wer von ihnen die Oberhand hatte – einer hatte beide Arme um Kopf und Schulter seines Gegners geschlungen, der aber gerade ein Messer zwischen den Fingern drehte und an den feindlichen Oberschenkel presste. Beide trugen Pistolenholster, hatten sich aber so schnell aufeinander gestürzt, dass es gar nicht erst zu Schüssen gekommen war.
Zumindest nicht bei diesen beiden.
Als erneut ein Knall ertönte, fuhr ich wieder herum, denn es war völlig unwichtig, welcher der Blonden den Zweikampf gewann – beide waren unsere Feinde.
Die beiden Mafiosas, die sich in der Mitte des Raumes dicht gegeneinander drängten und vor deren Füßen ein Warnschuss das Parkett zerfetzt hatte, fielen zwar auch in diese Rubrik, aber sie waren unser Tor zu den Geweihten. Wir brauchten sie.
T'Chada hatte die Situation schneller überblickt als ich, er hatte seine Krallen bereits ausgefahren und raunzte Jonah und Luca hastig zu: „Verschwindet von hier!"
Luca nickte knapp und packte seinen besten Freund am Oberarm, der aber seine neongelben Turnschuhe fest in den Boden stemmte und seinen Blick nicht von mir abwandte. „Scarlett!" So berührend es auch war, dass der Klassenidiot eine weiche und gar nicht mal so unterentwickelte Seite hatte, jetzt war keine Zeit für einen Beschützerinstinkt gegenüber einer Tochter von Loki im gekühlten Anzug. „Passt schon, haut ab!", knurrte ich knapp, bevor ich meinem Cousin hinterherhetzte, der mir schon zwei Schritte voraus war.
Genau in die Richtung der größten Unruhe, wo jetzt auch die Geweihten das Feuer eröffnet hatten.
***
Ich würde mich vermutlich nicht fühlen wie ich selbst, wenn hier nicht noch ein Haken gekommen wäre. Aber immerhin ist noch niemand gestorben, das ist doch ein Lichtblick!😉
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