Scarlett ~ Eisdiele
Genüsslich ließ ich mir das Joghurt-Eis auf der Zunge zergehen und angelte mit dem langen, silbernen Löffeln schon wieder nach Morgans Schüssel. Meine eigene Portion war natürlich längst restlos verspeist, aber meine Cousine ließ immer etwas übrig, egal, was sie sich bestellte. Darüber konnte ich mich absolut nicht beschweren...
Die Brünette rechts neben mir im weißen Plastikstuhl des Cafés war auch viel zu sehr in Nates Augen gegenüber von ihr versunken, als dass sie meine Aktion bemerken würde. Ich rümpfte meine Nase, musste aber sofort die Sonnenbrille wieder hochschieben, die ich vorhin aufgesetzt hatte. Sie war eigentlich Hunters und mir viel zu groß, aber ich würde sie selbstverständlich niemals gegen eine andere tauschen wollen. Und sie rettete mich hier förmlich vor Erblindung, da Nate darauf bestanden hatte, im Außenbereich Platz zu nehmen und die Sonne unangenehm von unserer runden, metallenen Tischplatte reflektiert wurde.
Aber ansonsten konnte ich mich eigentlich nicht beschweren. Eine leichte Brise pustete mir immer wieder Strähnen aus dem Gesicht und zu meinen Füßen zankten sich zwei Spatzen um einen heruntergefallenen Waffelkrümel.
Die einzige Gefahr war, dass Morgan drohte, in Nates Blick zu ertrinken, aber sie war eine passable Schwimmerin.
„Wir hätten Queenie einladen sollen", griff ich hastig nach dem ersten Thema, das mir einfiel, „Sie hätte sich sicher über einen gemeinsamen Nachmittag gefreut." Und meine Cousine hätte ihre Gedanken gezwungenermaßen bei sich behalten müssen. Da arbeitete sie schon größtenteils von Zuhause aus und schien trotzdem nicht genug von ihrem Verlobten zu bekommen.
Nate, der die Balance zwischen seiner Liebe und dem Rest der Familie schon immer am besten von uns gefunden hatte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schüttelte sachte den Kopf. „Hast du mal einen Blick auf die Speisekarte geworfen? Die haben hier nur Eis."
Ich zog eine Augenbraue hoch: „Deswegen heißt es ja auch Eisdiele."
Morgan stützte ihren Kopf in die rechte Handfläche und zwirbelte sich eine ihrer langen dunkelbrauen Strähnen um den Zeigefinger, während sie etwas abwesend murmelte: „Du weißt doch, Agnes isst kein Eis. Wegen des Gehirnfrostes."
Dazu zuckte ich nur eine Schulter, mein Blick misstrauisch auf Morgans nacktem Ellenbogen auf der Tischplatte – sie trug nur ein Bandshirt von ACDC und musste sich gerade furchtbar die Haut verbrennen, ohne es zu bemerken.
„Sie war erst sechs, als dieser Unfall in Russland war", kam es von meinem Cousin, und ich musste kurz meine Gedanken zusammenraufen, um den Satz einzuordnen. Natürlich hatte ich die Geschichte gehört wie alle anderen Avengersabenteuer – Wanda hatte ihre Tochter dorthin mitgenommen, wo sie geboren wurde, oder zumindest dem Ort, der davon übriggeblieben war. Sie waren in einen Schneesturm geraten und angegriffen worden, und durch die Eiseskälte waren Wandas Fähigkeiten wohl wie eingefroren gewesen. Natürlich waren sie trotzdem heil herausgekommen, aber im Krankenhaus hatten sie dann festgestellt, dass Wanda eine Art Hirnfrost befallen hatte, der ihre Magie blockierte. Beide Maximoffs nahmen seitdem Abstand von Eiscreme.
Eigentlich war das eine unsinnige Angewohnheit, aber jede Nahtoderfahrung ließ deutliche Spuren. Sharon trug auch keine Kleidungsstücke mit Kunstpelz mehr, und echtem sowieso nicht, nachdem sie auf einer Mission in Südamerika fast vergiftet worden wäre von irgendwelchen Chemikalien, die die Attentäter in den Fellimitaten versteckt hatten. Die genauen Details dazu wusste ich auch nicht mehr, dafür hatte ich schon zu viele Geschichten über meine Verwandten gehört.
Plötzlich setzte eine Melodie ein, die mich aus meinen Gedanken riss – und die für meinen Geschmack viel zu fröhlich war. „Because I'm Happy...", sang mein Starkphone, das ich eilig auf eine der einfachen weißen Servietten legte, die im lauen Wind sowieso gefährlich flatterte. Nach einem Knopfdruck entstand ein altvertrautes Hologramm, kleiner als das Original und nur bis zum Oberkörper sichtbar, aber natürlich im charakteristischen Anzug. „Hey, Kleine", begrüßte mich Happys leicht raue Stimme, und unter den kurzen grauen Haaren funkelten seine Augen freundlich. „Juice Pops..." Er drehte sich langsam, scannte wohl aus alter Angewohnheit unsere Umgebung ab – und sein Blick verfinsterte sich sichtlich, als er auf Nate fiel. „Nathaniel. Du auch hier."
„Happy, dein Ernst?", stöhnte Morgan auf, und ihr Pate drehte uns wieder den Oberkörper zu, doch sein Fokus verließ meinen Cousin nicht. „Benimmt er sich auch?"
Morgan vergrub ihr Gesicht in den Händen und Nate musste sich sichtlich ein Schmunzeln vergleichen, deshalb sprang ich rasch ein: „Die sind vierundzwanzig und verlobt, also..."
Happys Blick sagte deutlich, was er davon hielt, dass eine „seiner Kleinen" einem Mann die Heirat versprochen hatte, und ich fügte grinsend hinzu: „Und ich bin ja auch noch da."
Ich wollte gar nicht wissen, wie er reagieren würde, wenn sich Nia irgendwann Mal verloben würde, über sie wachte er mit noch mehr Argusaugen. Aber vermutlich wären wir gerade alle endlos erleichtert, wenn Nia eine glückliche Zukunft hätte... Tief die viel zu warme Luft einatmend wandte ich meinen Fokus wieder zu Happy. „Egal, warum rufst du an?"
„Ah, ja, genau." Happy Hände erschienen im Hologramm, und er begann, deutlich zu gestikulieren – wie immer, wenn es um irgendwelche Superheldenangelegenheiten ging. „Also, ich bin mit May und Loki unterwegs zu Pepper. Wir haben unser Apartment sicherheitshalber evakuiert... Also, es war keine wirkliche Evakuierung, weil Gracie, Tony und Peter noch drin sind..." Er zog die Augenbrauen zusammen und musterte mich kritisch, als würde er prüfen wollen, ob Morgan und ich auch eine Notrettung nötig hatten. Hatten wir nicht, übrigens.
„Naja, ich wollte nur, dass ihr Bescheid wisst. Wo wir sind, falls was ist." Happys Blick intensivierte sich und seine Stimme wurde noch eine Spur dunkler. „Im Notfall, schickt mir einfach... ein Surfboard."
Jetzt war es nicht mehr nur Nate, der ein Grinsen krampfhaft zurückhalten musste – aber als mein Onkel dann immer noch keine Anstalten machte, aufzulegen, sondern uns mit verschränkten Armen weiterhin musterte, zog ich meine Augenbrauen hoch. „Was ist noch los? Ist Peter okay?", hakte Morgan nach, jetzt zum ersten Mal hier im Café aufmerksam. Auch wir beiden anderen setzten uns jetzt langsam auf, und Nate erhob sich, als eine Kellnerin auf uns zusteuerte.
„Gracie hat ihm eine Rede gehalten", rückte Happy jetzt endlich raus, als Nate außer Hörweite war, die Bedienung ablenkend. Auf dem schon leicht faltigen Gesicht meines Onkels breitete sich das erste ehrliche Lächeln für heute aus: „Sie hat ihn angesehen, mit dem Blick." Meine Augenbrauen wanderten noch ein Stückchen höher und ich sah Morgan unruhig auf die Tischplatte trommeln. Der Blick war eigentlich für verrückte Pläne und actionreiche Abenteuer reserviert, die ich größtenteils nur aus Erzählungen kannte. Aber Happy war noch nicht fertig: „Und Tony hat sich ins System gehackt und Led Zeppelin abgespielt. Ich glaube, es wird jetzt wirklich alles gut."
Seine dunkelbraunen Augen funkelten uns sanft an, und ich erwiderte den Blick dankbar. Obwohl es hier so unglaublich friedlich war, die Vögel zwitschernd bis auf wenige Meter heranhüpften und in der kleinen Eisdiele keine anderen Leute störten, war ich noch immer angespannt. Und das würde sich auch nicht ändern, bis meine Familie wieder in Sicherheit war. Mein Leben war aufregend, nicht einfach und teilweise gefährlich, das war schon immer so gewesen. Aber manchmal brauchte man einfach jemanden, der einem sagte, dass ein Happy End in Sicht war.
Happy hob zum Abschied seine kräftige Hand: „Haltet die Ohren steif, Mädels."
***
Die Zwillinge befinden sich gerade in den unterschiedlichsten Situationen, die es geben kann. Aber so ein lockeres Kapitel zwischendurch schadet doch auch nicht, oder?😉
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