Scarlett ~ Asche
Ich zitterte, aber sicher nicht vor Kälte, obwohl es mittlerweile recht kühl hier im Computerraum war. Vielmehr stand ich in Flammen, brannte darauf, endlich gemeinsam mit meinem Bruder die aus dem Weg zu räumen, die sich zwischen mich und meine Familie gestellt hatten.
Bei seinem Intermezzo mit der Geweihten hatte ich mich noch gezwungen zurückgehalten, aber jetzt war es damit vorbei. „Lass uns loslegen, Bruderherz", funkelte ich ihn mit leicht erhobenen Mundwinkel an, und nach einem Moment der Abwesenheit klärte sich auch sein Blick wieder. „Auf deinen Fersen, Schwesterchen."
Ich verbarg meine Euphorie nicht länger, sondern zog mit einem kräftigen Rucken die schwere Tür auf. Wenn man jahrelang kämpfen musste für das, was man liebte, stumpfte man entweder ab oder wurde süchtig danach – und ich war nicht traurig, dass Letzteres auf mich zutraf. Es war nicht so, dass ich absichtlich Schlachten suchen würde, die ich schlagen könnte, aber das Kommende löste keine negativen Gefühle in mir aus. Trotzdem stieß ich ein schweres Seufzen aus, als ich auf den Gang trat, denn hier war die Luft wärmer und stickiger, als mir guttat. Es war anstrengend, selbst Frost zu produzieren, da bräuchte ich jetzt eigentlich einen Kälteboost, aber die Eiswürfel waren für die Laptops draufgegangen.
„Wohin?", fragte ich meinen Bruder knapp, da ich nicht wirklich erwartete, einfach wieder denselben Weg zurückzugehen. Vor allem, da es in der anderen Richtung Unruhen zu geben schien...
„Immer den Schüssen nach", bestätigte Hunter meine Vermutung und übernahm die Führung, den Flur hinaufsprintend. Ohne zu zögern folgte ich ihm, das Adrenalin in meinen Venen trieb mich vorwärts. Mein beschleunigter Herzschlag ließ mich trotz kurzer Beine mit meinem sportlichen Bruder mithalten, der an der nächsten Kreuzung nach rechts abbog, um eine Treppe hoch zu hetzen. Die Seitenwände verschwammen in meinen Augenwinkeln zu grauen Schatten, mein gesamter Fokus lag auf Hoodwink, als er – zwei Stufen auf einmal nehmend – um die Biegung der Treppe verschwand. Dicht hinter ihm, kollidierte ich beinahe mit seinem Rücken, als er direkt auf der obersten Stufe erstarrte.
Keuchend fing ich mich an seiner Schulter ab, nervös dem Kampflärm direkt vor uns lauschend. Erkennen konnte ich nichts außer sich bewegenden Schemen, weshalb ich Hunter eilig zur Seite schob und mich an ihm vorbeidrängte.
Ich brauchte einen Moment, um das Chaos vor meinen Augen auseinanderzunehmen, wo fast ein halbes Dutzend Menschen miteinander rangelte. Die drei Teenager, die vorhin mit in der Turnhalle gewesen waren, wurden gegen eine Wand gedrängt, weil Nate sie mit Dolchen in jeder Hand in Schach hielt. Queenie verteidigte sich mehr schlecht als recht gegen einen zwar unbewaffneten, aber schwarz uniformierten Geweihten, der mit seinen mächtigen Armen immer wieder zu Schwingern ausholte. Wie ein Schmetterling im Sturm wich unsere Cousine immer wieder in andere Richtungen aus, die Arme schützend über ihren Kopf gelegt. Noch bevor mein Zwilling oder ich den Kampf zu unseren Gunsten wenden konnten, gelang es dem Blonden, sich von Nate wegzuducken und eilig seine Pistole zu ziehen.
Ich sprintete los, Hunter an meiner Seite, aber es fühlte sich an, als würden wir uns durch Treibsand bewegen. Wir waren zu langsam, verdammt – der Blonde zielte auf Nate, und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Mein Cousin bedrohte seine Zwillingsschwester. Ich an seiner Stelle hätte Black Sparrow längst erwürgt. Der Geweihte aber verließ sich auf seine Schusswaffe, der Finger am Trigger zuckte, und mehrere Schüsse zerfetzten die Luft.
Wir erreichten ihn, noch bevor sein durchlöcherter Körper auf dem Boden aufgeschlagen war.
Meine Augen waren fest auf den Blonden gerichtet, ungläubig, als könnte mein Geist nicht realisieren, was gerade geschehen war. Aber die Blutflecken, die jetzt durch sein schwarzes Oberteil sickerten, waren eindeutig. Wie mechanisch drehte sich mein Kopf, nahm die Person am anderen Ende des Flurs in den Fokus, die ihre Pistole gerade absenkte, das Gesicht ausdruckslos. Morgan strich sich eine lange, braune Strähne zurück und warf uns einen scharfen Blick zu, durch die Gläser der viereckigen Brille, die sie zum Kampf trug. Sogar von hier aus konnte ich das leichte Leuchten darauf wahrnehmen, das ein klares Zeichen von Hologrammen war – die vermutlich das Ziel ihrer Kugeln genau berechnet hatten.
Meine Gedanken schnappten erst in die normale Zeit zurück, als ein weiterer Körper dumpf auf dem Boden aufschlug, und ich zuckte zusammen. Mit einem Blick realisierte ich die neue Situation – Nate war der Einzige, der sich von Morgans Auftauchen nicht hatte überraschen lassen. Er hatte Queenies Gegner mit wenigen Handgriffen überwältig, aber im Gegensatz zum Blonden war der Fremde nur bewusstlos. Mort versuchte gerade, Hals über Kopf zu fliehen, und sein behäbiger Körper bewegte sich erstaunlich flink. Eine Pistole schien er nicht bei sich zu haben, aber nach einem knappen Sichtkontakt hetzten Nate und Morgan ihm hinterher.
Und in dem Moment, in dem Hunter nach meiner Hand griff und Queenie deutlich hörbar wimmerte, legte sich meine Aufmerksamkeit auf unsere letzte Gegnerin. Aber wir brauchten uns nicht mehr um sie zu kümmern – sie war bereits zerstört.
Das Mädchen war mit dem Rücken an der schmutzig weißen Wand herabgerutscht, hatte sich kraftlos auf Knien zu ihrem Bruder gezogen. Nein, nicht ihr Bruder. Ihr Zwilling. Die Essenz ihres Lebens.
Sie saß vor ihm, berührte ihn nicht, hatte ihren Blick nur ungläubig auf seine Leiche gerichtet.
Hunters Finger schlossen sich fast schmerzhaft um meine, aber ich begrüßte seinen festen Griff – er war bei mir, wir waren am Leben. Die beiden am Boden vor uns nicht. „Ashe", brachte er tonlos heraus, und die Blonde warf ihren Kopf in den Nacken, um uns anzusehen. Uns anzuschreien. Sie blieb stumm, aber es gab kein Geräusch, das das ausdrücken konnte, was sie jetzt fühlen musste. In mir kochten Tränen hoch, als ich den Ausdruck auf ihrem Gesicht erkannte, diese abgrundtiefe Verzweiflung, die aus jeder ihrer Poren schrie.
„Sie ist stumm", wisperte Hunter, seine Stimme genauso schwach, wie ich mich fühlte.
Ich musste meine Augen von den zu Asche gewordenen Zwillingen losreißen, konnte die Szenerie nicht ertragen. Es schmerzte physisch, diese Vorstellung...
Mein Blick irrte hilflos umher, und als er sich wieder fokussierte, war der Gedanke noch nicht ganz in meinem Hirn angekommen. Da lag eine Pistole auf dem Boden, im Gefecht zurückgelassen, und ihr Lauf deutete wie zufällig in Richtung des bereits toten Körpers. Ich kannte sie nicht, Ashe. Aber irgendwie waren wir verbunden, durch die endlose Liebe zu unseren Brüdern. Wenn ich ihr diesen Gefallen tun konnte, würde ich nicht zögern.
Ich trat einen Schritt in die Richtung der Waffe, im selben Wimpernschlag, in dem Hunter sich der Geweihten näherte. „Ashe", flehte er, „Bitte, sieh mich an. Bleib."
Das konnte er nicht von ihr verlangen. Sie gehörte nur zu einem einzigen Bruder, und das war nicht meiner. Ich war kurz davor, meine Knie zu beugen und nach der Pistole zu greifen, da ließ mich eine neue Stimme wieder herumfahren. Sie war zittrig, fast nicht hörbar, aber wie die Magnetnadel eines Kompasses drehte Ashe jetzt ihren Kopf. „Ich verstehe dich", sagte Queenie, die ebenfalls auf ihren Knien zusammengebrochen, aber die Einzige war, die von Ashe gehört wurde.
Die Blonde verzog ihre Miene zu einem stummen Schrei der Qual, aber wie Magnete blieben ihr und Agnes' Gesicht aufeinander auszurichten. „Ich verstehe deinen Schmerz nicht", machte meine Cousine unermüdlich weiter, mit genauso viel Trauer wie Sanftmut in der Stimme. „Das tun nur die beiden." Ich, die direkt vor einer Mordwaffe stand, und mein Bruder, der eine Hand verzweifelt nach Ashe ausgestreckt hatte. Doch sie sah nach wie vor nur Queenie an – deren nächste Worte den Damm brachen: „Aber ich verstehe dich."
Die Worte, die die Stumme und die Gedankenlesende wechselten, konnte keiner von uns verstehen, aber mit einem Mal war der Abstand zwischen ihnen überbrückt, und sie schlangen die Arme umeinander wie Ertrinkende. Ihre Gesichter pressten sie gegeneinander, und ich konnte nicht mehr erkennen, wo ein Blondton aufhörte und der nächste anfing. Die Tränen, die lautlos über ihre Wangen strömten, vermischten sich miteinander.
***
Tief durchatmen. Ja, ich habe das Unverzeihliche getan - Zwillinge getrennt. Und es tut mir aufrichtig leid. Aber es wird nicht der letzte Tod gewesen sein...
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