Hunter ~ Plastiktüte
Ich hatte am Freitag absolut nicht mitbekommen, dass wir ein erneutes Treffen in der Villa für den heutigen Montag abgemacht hatten. Dass ich rechtzeitig in der Eingangshalle unseres Gebäudes erschienen war, war nur Akuji zu verdanken, die mich erst ausgelacht und dann freundlich erinnert hatte. Nach dem Chad-Fiasko war es zwischen uns wieder so normal geworden, wie es das eben sein konnte, wenn eine Mafiatochter und ein Watcher undercover aufeinandertreffen.
Ich musste mich genauso rigoros davon abhalten an Chad zu denken wie an Nia. Meine einzige Aufgabe hier war, Informationen zu sammeln – und die würde ich heute an Scar übergeben. Mir war nur zu klar, dass Morgan die Situation ausnutzen würde, um erste Auswertungen zu treffen, und obwohl ich noch nicht viel wusste, wären wir Nia zumindest einen Schritt näher...
Mit zusammengepresstem Kiefer wandte ich meine Gedanken wieder in die Gegenwart, denn wenn mein Fokus zu sehr auf meiner kleinen Cousine lag, lief ich Gefahr, zu emotional zu werden. Verzweifelt. Wütend. Hilflos...
Ich musste die Illusion um jeden Preis aufrechterhalten.
Tja, aber die Gegenwart selbst sah auch nicht viel rosiger aus...
Ich stand gemeinsam mit dem Fisch in der Eingangshalle seiner Villa, während Mort und Luca sich zur Besprechung zurückgezogen hatten. Wir fungierten vermutlich als Wächter, damit keine zufälligen Besucher wie Briefträger den Informationsaustausch unterbrachen, aber ansonsten fühlte ich mich nicht sehr hilfreich.
Dafür aber umso nervöser...
Adrian stand völlig entspannt auf der rechten Seite der Halle vor einem riesigen Gemälde, das in einen viel zu prunkvollen Goldrahmen gefasst war. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und stolzierte ab und zu einige Schritte hin und her, aber sein Fokus lag so deutlich auf dem Bild, dass eindeutig war, dass er nach meiner Aufmerksamkeit lechzte. Die kleinen Zeichnungen darauf schrien aber förmlich nach Stammbaum, weshalb ich ihm sehr schadenfroh den Gefallen nicht tat, nachzufragen. Dafür hatte sich mein Blick in die linke untere Ecke des Whiteboards vorne links gebrannt, das nur nachlässig abgewischt wurde. An einigen Stellen zeigten sich noch schwarze Striche, und die Feanorischen Buchstaben direkt über dem Logo waren vollständig geblieben.
Ich trug zwar keine Uhr bei mir, aber es war schon einige Zeit her, dass die Kirchturmglocken unten im Dorf dumpf hörbar zweimal geschlagen hatten. Und so langsam kam mir der beunruhigende Gedanke, dass Scarlett hier gar nicht mehr auftauchen würde – vor allem, da Luca bereits anwesend war.
Es gab kaum etwas, das einen Zwilling in Notsituationen davon abhalten könnte, zu seiner anderen Hälfte zu stoßen. Ich musste mir immer wieder klarmachen, dass ich es mitbekommen hätte, wenn die Schule eingestürzt wäre... Denn ein Kampf zwischen meinen Familienmitgliedern schien unausweichlich, wenn Scar von Chads Auftauchen erfahren würde
Denn obwohl Sierra gezwungen wurde, bei den Geweihten zu bleiben, war Chad wieder an die Schule zurückgekehrt, als sei nichts geschehen. Als sei mein Weltbild nicht komplett umgekrempelt worden...
Ich hatte beinahe einen Tobsuchtanfall erlitten, als Sierra auf der Suche nach Ashe zitternd in unser Zimmer gekommen war. Zwar war die gerade von Luke irgendwohin geschleppt worden und Sierra hatte sich hastig eine Träne weggewischt, aber ich hatte sie trotzdem kurzerhand umarmt. Die kleine Brünette hatte ihre neue, selbstbewusstere Seite einmal mehr gezeigt, in dem sie sich schnell wieder im Griff hatte – etwas, das ich von mir nicht gerade behaupten konnte. Noch während ich meine Arme um Sierra gelegt hatte, war mir über deren Schultern ein grünes Leuchten an meinen Fingerspitzen aufgefallen – ich war drauf und dran gewesen, die Illusion zu verlieren.
Und auch jetzt musste ich mich bewusst auf ganz triviale Dinge konzentrieren, um meine Muskeln vom Zittern abzuhalten. Das hässliche Muster der Fliesen, zum Beispiel. Sie waren generell cremeweiß gehalten, aber vor der Treppe bildeten sie einen Halbkreis aus altrosa und grau. Diese furchtbare Farbkombination fand sich auch in der Mitte des Raumes unter dem Kronleuchter wieder, diesmal aber in Form eines grauen Quadrats, in dem sich rosafarbene Fische tummelten. Ganz toll, wie ironisch.
Die Schritte des Fischs hallten deutlich wider, als er jetzt endlich von seinem Stammbaum abließ und sich stattdessen ans Treppengeländer lehnte, mal wieder. Auf einem niedrigen dreibeinigen Hocker stand eine Vase mit chinesisch anmutenden Zeichnungen, auf die er seinen Blick nun stattdessen richtete – dieser arrogante Angeber.
Scar war er hundertpro genauso wenig sympathisch gewesen wie mir.
Verdammt, ich hätte es doch erfahren, wenn sie sich einen Kampf mit Chad geliefert hätte, oder?
Ich atmete tief aus, verzweifelt versuchend, mich innerlich zu beruhigen. Solche innere Unruhe kannte ich von mir nicht, immerhin hatte ich mich sonst völlig unter Kontrolle, wenn wir auf Missionen gingen. Nur einmal, als Mom in Deutschland die Beerdigung ihres Großvaters besucht hatte und in einen Anschlag verwickelt gewesen war, hatte ich ähnliche Sorge verspürt – wir hatten vierundzwanzig Stunden lang nichts von Überlebenden gewusst. Aber damals war ich kaum eingeschult gewesen, ich erinnerte mich nur dumpf an die Panik in Dads Augen, und Gramps' überstürzten Aufbruch in seinem Anzug. Damals war alles gutgegangen, und ich hoffte inständig, dass sich das nun wiederholen würde.
Irgendwann zahlte sich mein inneres Flehen dann aus. Beim plötzlichen Klingeln war ich zusammengezuckt, die Villa war gut schallisoliert, sodass wir das Auto nicht hatten kommen hören – aber Adrian eilte mit großen Schritten zur Tür, durch die nur Sekunden später Jonah trat.
Scarlett im Schlepptau.
Mein Zwilling.
Sie war jetzt genau da, wo sie hingehörte – bei mir.
Unsere Blicke trafen sich nur für einen winzigen Moment, und ihrer war genauso hungrig wie meiner, dann wanderten meinen Augen verkrampft weiter. Sie hefteten sich auf Jonah, der Adrian mit einem knappen Handschlag begrüßte und sofort die Treppe hochjoggte, um sich seinem besten Freund anzuschließen.
Mein Herz klopfte genauso schnell wie die Turnschuhe des Blonden, die immer wieder dumpf auf die Stufen trafen, bevor er schließlich im oberen Flur verschwand.
Damit ruckte auch mein Kopf wieder herum, zu Scarlett, die mit einem Grinsen vor dem Whiteboard stand und zu einem übriggebliebenen Smiley herübernickte: „Ich glaube, wir können alle froh sein, dass Jonah Kunst abgewählt hat." Sie warf über ihre Schulter Adrian einen amüsierten Blick zu, der kurz sein iPhone kontrolliert hatte und ihr ein halbherziges Lächeln zuwarf. Mein Kiefer spannte sich wieder an, als Scar zu ihm herüberging, aber ich sah deutlich die kleine Plastiktüte, die jetzt auf der Stiftablage des Whiteboards lagerte.
Ich warf noch einen letzten Blick zu meiner Schwester, die meinen Augen sofort begegnete – ähnlich angespannt wie ich selbst. Unauffällig nickte ich zum Stammbaum des Fischs herüber, und ihre Schritte in seine Richtung wurden sofort fester.
Wir hatten einen Plan, zogen am selben Strang – und unsere Kommunikation funktionierte hervorragend.
Auf leisen Sohlen bewegte ich mich in Richtung Tafel, achtete zwar nicht auf das einsetzende Gemurmel in meinem Rücken, blendete es aber auch nicht aus. Ich hatte mich wieder unter Kontrolle, gelangte ohne Probleme zum Whiteboard und ließ das Tütchen mit den kleinen Werkzeugen ungesehen in meiner Hoodietasche verschwinden. Ich sah mich gar nicht erst nach dem Fisch um, sondern schlenderte weiter Richtung Tür, zur gegenüberliegenden Wand. Zwar mit klopfendem Herzen und flachem Atem, aber äußerlich ganz lässig lehnte ich mich an die nächstbeste Säule, von Adrian abgewandt – jetzt galt es nur noch, die Sticks auszutauschen.
***
Na, bisher hat ja alles reibungslos geklappt. Dass sich das noch ändert, wird wohl für niemanden überraschend kommen, aber ich hoffe doch, es ist zumindest nicht vorhersagbar, welche Überraschung sich anbahnt.😉
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