32.
Nach dieser Konfrontation lief heute gar nichts mehr so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Tim fehlte im Unterricht, ich konnte mich nicht konzentrieren, wurde ständig von den Lehrern aufgerufen und ermahnt, wenn nur stotternde Laute über meine Lippen kamen. Ich hatte versagt, auf voller Länge. Irgendwas war los mit Tim und wenn ich ein guter Freund gewesen wäre, hätte ich auch herausgefunden, was es war! Aber so... Es war einfach alles so scheiße und... und verbohrt und... ich wollte nur noch weg von hier! Ich wollte Timbo suchen gehen... Vielleicht war er einfach nach Hause gestapft und brauchte jetzt gerade meine Gesellschaft, wenn er sich bereits wieder beruhigt hatte und sich Vorwürfe machte, so wie er es mir im Krankenhaus erklärt hatte! Wenn doch nur...?
"Stegi! Letzte Chance, was habe ich gerade erklärt?" Verwirrt schaute ich die wütende Lehrerin an, die ihre Hände in die Seite gestemmt hatte und auf eine Antwort wartete. Tobi erhaschte meine Aufmerksamkeit. "Renaissance und Aufklärung! Voltaire, Kant, Lessing!", hauchte er mir Stichworte zu, die ich natürlich klar und deutlich verstand. Aber ich weigerte mich. Was sollte ich hier? Ich wurde woanders gebraucht! Also stand ich einfach wortlos auf, schnappte meine Tasche, die ich nicht einmal ausgepackt hatte und verließ schweigend den Klassenraum. Mein Kumpel atmete erschrocken auf, doch ich reagierte nicht auf ihn. Ich musste raus, die Luft im Raum drohte mich zu ersticken!
"Stegi! Bleib sofort-!", hörte ich die Frau noch rufen, dann schloss sich die Tür hinter mir und mit dem lauten Schlag in meinen Ohren änderte sich urplötzlich auch mein Ziel. Ich wollte nicht länger zu Tim nach Hause, jedenfalls vorerst nicht. Zuerst würde ich Rafael aufsuchen und ihn fragen, wieso das Gespräch so miserabel verlaufen war. Vielleicht hatte er ein Thema angeschnitten, das ihm nicht gefallen hatte und er konnte mir sagen, was ich besser machen sollte! Hoffentlich konnte er mir einen guten Tipp geben!
Der Mann sah bedrückt aus, als er mir öffnete. "Oh, Stegi... Es tut mir leid wegen Tim, ich hätte vorsichtiger mit ihm sein sollen!" Ich nickte, gleichzeitig murmelte ich aber: "Schon gut, ist okay..."
Beinahe wie bereits gewohnt ließ ich mich auf den leeren Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen, während er dahinter Platz nahm und noch immer ins Leere schaute. Nach ein paar Sekunden schüttelte er seinen Kopf, als wollte er einige unschöne Gedanken vertreiben, und schenkte mir dann mit einem winzigen, unglücklichen Lächeln seine Aufmerksamkeit. "Ich war mir sicher, dass ich den richtigen Weg gewählt hatte, um das Problem anzugehen, aber dein Freund hatte mich bereits nach dem zweiten Satz unterbrochen. Ich weiß nicht, was ihn so wütend gemacht hat, aber er hat mich bedroht und gesagt, dass er noch kriegen wird, was er möchte. Hast du eine Ahnung, was das bedeuten soll?"
Entgeistert schüttelte ich den Kopf. Tim sollte Rafael gedroht haben? Das machte keinen Sinn, so war er doch gar nicht! O-oder? Andererseits hatte er mich auch noch nie absichtlich verletzt, und ausgerechtet mit einem Schlag mitten ins Gesicht! Wenn diese Sache, also, Tims seltsame aggressive Seite, ihn gerade da wieder übermannt hatte, war es vielleicht wirklich nicht so abwegig, was Rafael da sagte...
Mehr Angst machte mir aber was anderes. 'Dass er noch kriegen wird, was er möchte'? Wovon hatte Tim da gesprochen? Das einzige, was mir jetzt spontan einfiel, waren Superkräfte. Zu oft hatte er in den letzten Tagen seinen Neid gegenüber denen gezeigt, die welche besaßen. Aber-, das war doch unmöglich! So leid es mir für meinen Freund auch tat, solange ihn nicht noch ein weiterer Blitz traf - und das beabsichtigte er hoffentlich nicht! - würde ihm dieser Wunsch verwehrt bleiben... Da half ihm auch keine Wut oder Verzweiflung, er musste es verstehen und wieder zu sich finden, zu dem, was er trotzdem noch hatte! Ich wollte ihm immer noch helfen... Aber er musste mich auch helfen lassen... Ich würde ihn besuchen, jetzt gleich nach dem Gespräch! Der Unterricht konnte mir egaler nicht sein, auch wenn Tobi das nicht gerne hören würde. Meine Beziehung und einzige Liebe stand auf dem Spiel und selbst wenn alle Stricke reißen würden, Rafael konnte mir im schlimmsten Fall bestimmt auch irgendwie einen Job sichern, wenn ich ihn nur darum bat! Das würde schon werden, aber Tim musste ich retten, und das schnell!
"Ich weiß einfach nicht mehr weiter", seufzte Rafael in diesem Moment und vergrub sein Gesicht in seinen aufgestützten Händen, "Erst Julians Eltern und dann noch Tim. Ich hab das Gefühl, als würde ich alles falsch machen seit-" Er beendete den Satz nicht und Stille breitete sich aus. Kurzerhand überwand ich mich, beugte mich vor und tätschelte ihm unbeholfen die Schulter. "Du machst nicht alles falsch. Manches kann man halt nicht verhindern. Ich werde schauen, was ich tun kann, um Tim zu helfen!"
Rafael nickte zustimmend brachte wieder so ein klitzekleines, aber diesmal dankbares Lächeln hervor. "Tu das. Du kennst ihn wahrscheinlich am besten!"
Ich war beinahe schon wieder an der Tür angelangt, als ich nochmal stoppte und mich umdrehte: "Was ist denn mit Julian? Warum sind seine Eltern hier?" Ab heute sollte doch eigentlich seine neue Arbeit beginnen und im Unterricht war er auch nicht gewesen. Rafael sah leicht gequält hin und her, wich betroffen meinem Blick aus. "Ich weiß es nicht. Sie haben gesagt, er wäre seit Sonntag Abend nicht mehr Zuhause gewesen und auch heute früh nicht an seiner neuen Stelle aufgetaucht. Keiner kann sagen, wo er ist! Noch hoffen wir, dass er von alleine wieder zu uns findet, aber ohne Spuren oder eine Ahnung, wohin er gewollt hatte..." Der Mann seufzte, blinzelte ein paar Mal rasch und begann dann, demonstrativ einen Stapel über seinem Tisch verteilter Blätter zusammen zu raffen und zu ordnen. Ihn nahm das alles so sehr mit, obwohl er ja nichts damit zu tun hatte. Nur weil er ihm den Job vermittelt hatte, zu dem er jetzt nicht angetreten war. Armer Rafael...
"Er wird schon wieder auftauchen!", meinte ich deswegen so optimistisch wie möglich und verließ dann das Büro. Nun auf zu Tim!
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