22.
"Ich weiß nicht, ob ich das richtige getan habe..." Dieser Satz hätte von mir kommen können, doch stattdessen war es Rafael, der sich am Boden zerstört zu uns setzte und einfach nicht mehr weiter wusste. Bis ein Fahrer eintraf und Dominik mitnahm, musste der Schüler sich vor dem Direktor verantworten und Tobi, Pauline und ich hatten mit bedrückten Gemütern in der leeren Cafeteria gewartet. Als Rafael nun wieder zu uns stieß und so von Zweifeln geplagt wurde, holte ich zitternd Luft: "Es war das richtige. Dominik hätte uns alle weiter gequält, sobald er sich wieder sicher genug fühlt. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen."
Meine Freunde nickten schweren Herzens, dann schwiegen wir eine Weile. Es war einfach alles so kompliziert und unsicher. "Wohin werden die Dominik bringen?", fragte Tobi schließlich schüchtern. Seine Schläfe zierte mittlerweile ein Pflaster, das wir zusammen aufgetrieben hatten, um die dumpfen Kopfschmerzen hatte sich seine Freundin bereits gekümmert. "Ich weiß es nicht sicher", antwortete Rafael. Wieder schwiegen wir, bis der Mann sein Gesicht in seinen Händen vergrub. "Ich habe Angst. Vielleicht hat sich mein Urteilsvermögen eingeschränkt und ich war ungerecht oder zu streng mit ihm! Es-es ist einfach so viel auf einmal bei mir und ich weiß nicht weiter...!"
Er kämpfte mit sich selbst. Das sah auch Tobi und hastig rutschte er zu seinem Schwarm, um ihm vorsichtig über den Rücken zu streichen. "Es war richtig. Das denke ich auch! ...Kannst du uns erzählen, was das für private Probleme sind, die dich bedrücken?"
Jetzt sah ich sogar Rafaels Schultern zucken und hörte ihn leise schniefen. Er wirkte plötzlich angreifbar und... verletzlich, wo er doch bis vorhin immer solide aufgetreten war, als könne ihn nichts jemals zu Tränen rühren. Nun war es soweit und es machte ihn noch so viel menschlicher als seine unendliche Anteilnahme und Freundlichkeit. Und es zeigte, wie jung er trotz seiner Arbeit noch war. "Es... es war meine Mutter. Gestern musste sie in die Notaufnahme gebracht werden und... und heute haben sie Brustkrebs festgestellt... Sie hat alle Chancen gegen sich stehen, es wurde zu spät e-entdeckt und..." Weiter schaffte er es nicht. Er brach in Tobis Armen zusammen und schluchzte. Und auch meinem Kumpel ging Rafaels Leiden sofort ans Herz und seine Augen wurden nass. "Oh nein...", flüsterte er fassungslos. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen, konnte es noch nicht ganz begreifen. Brustkrebs... und dann auch noch seine Mutter... hätte ich das eben am Telefon von einem Arzt erfahren, wüsste ich nicht, was ich an seiner Stelle getan hätte. Bestimmt nicht ein paar naseweisen Kindern stumm und beherrscht bei einem ihrer Berichte zugehört, während innerlich alles tobte und schrie! Ich wollte irgendetwas tröstendes zu Rafael sagen, als Pauline mir zuvor kam: "Herr Eisler? Uhm, ich könnte versuchen, Ihre Mutter zu heilen. Ich habe zwar noch keine Krebszellen behandelt, aber ich würde auf jeden Fall mein bestes geben, Ehrenwort!"
Sein Kopf ruckte augenblicklich nach oben und seine geröteten Augen fixierten das Mädchen ungläubig. "Wie...?", fragte er mit einem winzigen, glimmenden Hoffnungsschimmer in seiner dünnen Stimme, "Wie willst du das anstellen?"
"Ich kann nicht nur Gedanken anderer Leute beeinflussen, sondern eigentlich ihre Zellen und deren Reaktionen. Vielleicht kann ich den Krebs aufhalten oder das Immunsystem reaktivieren und steuern! Ich bräuchte davor allerdings jede Menge Informationen, damit ich keine Fehler mache... " Pauline wirkte plötzlich furchtbar nervös, jedenfalls so lange, bis Rafael aufgestanden war und sie heftig umarmte, überwältigt wieder losließ und ihre Hand nahm. "Bitte versuche es! Ich schreibe dir jede Entschuldigung die du brauchst, um auch während des Unterrichts zu helfen!" Etwas überrumpelt nickte sie einfach nur, bevor sie noch ein zweites Mal in seine Arme geschlossen wurde. Sie konnte das schaffen, ich glaubte fest an sie!
Die Schulglocke ging und mich durchzuckte der Schock. Dadurch, dass wir drei jetzt den Unterricht verpasst hatten, fehlte mir eine Mitschrift vom neuen Prüfungsstoff, sowohl für mich, als auch für Tim! Und er hatte mich sogar explizit darum gebeten, aufmerksam alles für ihn zu sammeln, damit ich es ihm am Wochenende vorbeibringen konnte! Ich Trottel, ich hätte Dominik den anderen beiden überlassen können, Pauline hätte ihn auch ohne mich locker im Schach halten können! Hmm, ob mir eine von den anderen Mädchen aus der Klasse weiterhelfen würde? Zu denen hatte ich zwar keinen allzu guten Kontakt, aber die waren wenigstens gründlich und ihre Hefter gut lesbar... Ich musste es versuchen, es nützte ja alles nichts.
Tobi schaute Rafael und Pauline noch lange nach, während wir zurück zum Unterricht gingen und sie zum Sekretariat, um für die restliche Woche eine Beurlaubung zu erwirken. Ermutigend klopfte ich ihm auf die Schulter: "Sie kriegt das hin, sie hat doch ein helles Köpfchen! Und dein Rafi wird danach wieder total glücklich sein."
"Ja, hoffentlich", murmelte er besänftigt und ließ sich dann endlich von mir Richtung Klassenräume mitziehen.
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Hat jemand von euch schon "Thalamus" gelesen? Das neue von Ursula Poznanski? ;) *hust das was sie mir höchstpersönlich auf der Leipziger Buchmesse versprochen hatte hust*
Jedenfalls, wenn ja, ich würde wahnsinnig gerne eure Meinung hören! Ich selbst fand es super geschrieben und mein Respekt für diese Frau steigt immer weiter! *schwärm*
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