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Marten lässt sie schlafen. Leise setzt er sich wieder hinter den Tresen und ruft erneut Google auf. Er hat bei dem Auftauchen ihrer Schwester gut zugehört und so ungern er es zugibt, sie war ihm so dermaßen unangenehm, dass die Neugier ihn wahnsinnig macht. Er hat sie schon einmal gesehen, konnte sich aber nicht erklären, wo und unter welchen Umständen. Zumindest war er sich sicher, nie mit ihr geschlafen zu haben. Dafür war der Stock in ihrem Arsch zu groß.
Da er Ann nie nach ihrem Nachnamen gefragt hat, kann er nur hoffen, dass man etwas findet, nur anhand der Vornamen
Estelle und Annelie ... Keine gewöhnlichen Namen. Aber Ann ist auch keine gewöhnliche Persönlichkeit.
Die erste Seite ist für werdende Eltern, die nach einem schönen Namen für ihr Kind suchen. Doch der zweite Vorschlag ist schon interessanter. Es ist ein Artikel über eine Benefiz-Veranstaltung des Berliner Adel Verbandes.
Alle erwarteten die von-Siemens Schwestern mit Spannung, denn es ist der erste Auftritt der jüngeren Annelie. Bisher kannte man sie nur von Fotos, nie durfte sie mit auf einen Ball. Aus gutem Grund, wie einst ihre Mutter Sophie erklärte: "Wir wollen unsere Töchter bis zur Volljährigkeit heraushalten aus dem Trubel."
Bisher ist es der Familie gut gelungen. Nun, da auch Annelie ihren 18. Geburtstag vorige Woche gefeiert hat, darf auch sie sich heraus putzen und mit der gehobenen Gesellschaft feiern.
Marten betrachtet das Bild, welches zu dem Text gehört. Er erkennt Ann sofort, auch ihre Schwester. Beide stehen neben zwei Männern, die sich ebenfalls ähneln. Die von-Siemens Schwestern mit den Brüdern Ralf und Robert von Baumbach.
Die jungen Männer sehen aus wie geleckt. Solche Kerle gingen in seinem Club ein und aus, als er ihn noch sein Eigen nennen konnte.
Ann sieht nicht sehr zufrieden aus. Das Ballkleid steht ihr gut, nur sieht man ihr an, dass sie lieber eine Hose getragen hätte.
Marten klickt sich wieder auf die Google Seite, lässt sich die Ergebnisse nun nach Aktualität anzeigen. Immerhin liegt das Foto sechs Jahre zurück.
Von Siemens kündigt die Verlobung seiner älteren Tochter mit Ralf von Baumbach an.
Annelie von Siemens verpasst erneut ein wichtiges, soziales Ereignis der Familie.
Wo versteckt sich Annelie Von Siemens?
Marten überfliegt die Überschriften. Er kann Ann mit diesem Artikeln nicht in Einklang bringen. Sie flucht wie ein Rohrspatz, sie trägt keine unifarbenen Kostüme, wie ihre Schwester neulich. Bis auf Adidas oder Nike hat er noch kein großes Label an ihr gesehen. Sie trägt, was ihr gefällt und was ihr steht. Da hat sie ein Händchen für.
Marten liest weiter die Artikel über Ann und ihre Familie. Nach außen scheinen sie glücklich zu sein, nur Ann sieht immer ein wenig missmutig aus. Besonders, wenn dieser Fatzke neben ihr steht. In einem aktuelleren Artikel wird genauer über die anstehende Hochzeit der älteren Schwester geschrieben. Es soll ein großes Fest werden, man spekuliert darüber, welches Kleid Estelle wohl tragen wird. Und immer wieder wird die rhetorische Frage gestellt, ob Ann wohl auftauchen wird.
Marten kann sich nicht vorstellen, dass sie sich die Hochzeit ihrer Schwester entgehen lassen würde. Sie sind doch Schwestern ...
"Hey!" John kommt laut in das Studio gestapft, wird durch Martens bösen Blick gebremst. Sein Cousin deutet auf die Couch, wo Ann schläft. Zumindest hat John sie nicht geweckt. Was auch immer mit ihr los ist, sie scheint diese Ruhepause gebrauchen zu können. Auf Zehenspitzen geht John zu Marten rüber, blickt auf den Laptop.
"Du hast sie gegoogelt?", fragt er verwirrt. "Findest du das nicht ein wenig ... keine Ahnung, grenzüberschreitend?"
"Natürlich ist das nicht okay von mir", gibt Marten zu. "Aber lies dir die Artikel durch. Sie entstammt einer Adelsfamilie, die, wenn du auf den Nachnamen achtest, noch immer sehr viel Einfluss in Deutschland hat. Sie ist, wie meine Vermutung war, davon gelaufen. Neulich, das war ihre Schwester, die heiratet im nächsten Jahr und alle fragen sich, ob Ann dabei sein wird. Ich hingegen will nur wissen, was so schlimmes passiert ist, dass sie sich von ihrer Familie losreißen wollte." Er zeigt von einem Artikel auf den nächsten, öffnet immer mehr und mehr davon.
"Wieso hast du so ein großes Interesse daran? Das letzte mal, als du dich so um jemanden gekümmert hast, war mit ..."
"Wehe, du sagst ihren Namen", unterbricht Marten seinen Cousin brummend. Er will nicht über die Vergangenheit reden, das war noch nie seine Art. Vorbei ist vorbei. John sollte endlich aufhören, ihm Details herauslocken zu wollen. "Mit ihr hat es nichts zu tun. Ich will nur wissen, womit ich rechnen muss. Ich steck doch nicht meine Ersparnisse in den Ausbau der beiden Läden, wenn sie vielleicht in ein paar Monaten wieder verschwindet."
"Ich werde nicht gehen." Marten und John sehen überrascht auf. Keiner der beiden hat bemerkt, dass Ann sich aufgesetzt hat. Wie lange ist sie schon wach? "Egal, was du meinst gefunden zu haben", fährt sie fort, steht auf und betrachtet den Bildschirm. Auf dem Foto steht sie neben ihrer Schwester, sie tragen Freizeitklamotten, Jeans und Tops, Flipflops, die bei ihren Eltern so verpöhnt sind. Seit Jahren hat Ann dieses Bild nicht mehr betrachtet. "Die Hochzeit von Estelle interessiert mich nicht, mein Erbe ist mir nichts wert. Ich trage einen Namen, mit dem ich mich noch nie identifizieren konnte. Mehr braucht es, glaube ich, nicht, um seiner Familie fern zu bleiben."
"Wird die Familie von den beiden Lackaffen Ärger machen?" Marten klickt sich durch die Bilder, bis er das von den vier Adelskindern gefunden hat. Ann betrachtet Robert, wie er neben ihr steht. Er strotzt vor Stolz, als hätte er gerade den größten Hirsch geschossen. Dabei war sie die Trophäe, der Hauptgewinn. Wie oft passiert es, dass zwei Schwestern zwei Brüdern versprochen werden?
"Er wird mich nicht finden", erklärt sie, erkennt die Lüge und die Unsicherheit in ihrer Stimme. Wenn Estelle sie ohne weiteres finden konnte, wird Robert es erst recht können. Was sollte sie sich da vormachen? Wenn Robert will, kann er jeden Moment durch die Tür kommen und ... Ann wird schummrig, die Welt dreht sich zu schnell dann viel zu langsam. Sie klammert sich am Tisch fest, muss die Augen für einen Moment schließen. Er kann sie finden und er wird sie finden. Sie hätte weiter weg gehen sollen, als bloß in den Norden. Den Kontinent verlassen, das wäre die richtige Lösung gewesen.
"Wir müssen mit ihm reden und die Tür sichern", sagt John zu Marten. Beide Männer sind angespannt angesichts der fehlenden Farbe in Anns Gesicht. Marten nickt nur, kann den Blick nicht von Ann abwenden. Sie fühlte sich hier sicher und hätte er nicht in ihrer Vergangenheit geschnüffelt, würde sie sich vielleicht noch immer so fühlen. "Ron, wir müssen uns treffen ... nein..." John entfernt sich von Ann und Marten, will seinem Freund in Ruhe erklären, was sein Anliegen ist.
Marten kann es sich denken. Die Wohnungstür muss besser gesichert werden. Man kann nur hoffen, dass das was hilft, denn Ann ist nun mal viel und lange unterwegs, wenn erst die Kundinnen kommen. Die Erwähnung von Robert von Baumbach hat sie aus dem Konzept gebracht. Warum? Was ist passiert, dass sie offensichtlich Angst vor dem Kerl hat?
"Wer ist Ron?" Ann hat sich gefangen, jedenfalls gibt sie es vor. Bevor er antwortet, steht Marten von dem Stuhl auf schiebt sie in Position, damit Ann sich setzen kann.
"Dein Vermieter", erklärt Marten schlicht, dreht sich um und holt ihr ein Glas Wasser aus der Küche. Ein Schnaps wäre ihr jetzt lieber gewesen, doch hier im Studiokühlschrank gibt es nur Softdrinks, Energys und Bier. Also muss das Wasser aus der Leitung erst mal reichen.
Ann bedankt sich für das Wasser, nippt daran, ehe sie Marten in die sagen blickt.
"Ihr kennt meinen Vermieter?", greift sie das unverfängliche Thema wieder auf.
"Ja, ist ein guter Freund von John und irgendwann von uns allen geworden. Die da sind von ihm." Marten deutet auf die Fotos, die hinter Ann an der Wand hängen. Sie alle zeigen Graffiti, einige auf Wänden, andere auf Ubahn-Waggons.
"John kennt ziemlich viele Leute", stellt Ann lächelnd fest.
"Am Anfang haben John und Ron zusammen Musik gemacht. Kurz danach tauchten Jo und Alex auf und blieben. Einige Jahre später folgte Maxwell ... tja und nun sind sie eine Familie." Marten zuckt die Schultern. Ann ist nicht entgangen, dass er sich selbst nicht genannt hat. Fühlt er sich der Familie, wie er es nennt, nicht verbunden genug? Den Eindruck hatte Ann bisher jedenfalls nicht. Jo und John sind so oft hier ... das macht man nicht nur aus Freundschaft.
"Muss schön sein", ist alles, was Ann dazu sagen kann. Sie hat auch eine kleine Familie gefunden, zumindest dachte sie das immer. Doch Jess hat ihre Mutter gewählt. Ann kann ihr daraus nicht einmal einen Vorwurf machen. Blut ist eben dicker als Wasser. Womit Ann wieder bei ihrem ursprünglichen Problem wäre. Nämlich, wie sie allein ein Nagelstudio führen soll, dass mit mindestens drei Nageldesignerinnen geplant war. "Darf ich?" Sie deutet auf den Laptop und schließt die Fenster, als Marten nickt.
"Übrigens musst du mich nicht googeln. Wenn du was über mich wissen willst, kannst du fragen." Mit einem schiefen Grinsen linst sie zu ihm herüber. Marten verschränkt die Arme vor seiner breiten Brust, die Muskeln in seinem Bizeps zucken leicht. Ann muss den Blick abwendet, erscheinen doch sofort die Bilder ihres mehr als nur feuchten Traumes vor ihrem geistigen Auge.
Sie hat es bisher erfolgreich geschafft, ihren Gegenüber nicht irgendwie sexy und heiß zu finden, doch durch diesen Traum bröckelt etwas. Sie muss professionell vorgehen, schließlich sind sie und Marten Geschäftspartner und keine Freunde.
"Schön", sagt er, zieht sich einen Stuhl heran und fixiert sie mit seinem Blick. Vergessen ist, was sie gerade eintippen wollte, zu nervös macht sie dieser Blick. "Der Typ, dieser Robert, ist immer an deiner Seite, seit es Bilder von dir auf Veranstaltungen gab. Wieso?"
"Nächste Frage", erwidert Ann, denn über Robert will sie eigentlich nicht sprechen. Als sie Marten anschaut wird ihr schnell klar, dass er jede Frage beantwortet haben möchte. Unglaublich, dass er dieses Vorhaben allein mit seinem Blick verbunden mit einer hochgezogenen Augenbraue schafft. "Wenn ich dir das erzähle, dann nur unter der Bedingung, dass ich es nur und ausschließlich dir anvertraue." Marten nickt, damit kann er leben. Ihm ist nur wichtig, dass sie wirklich nicht abhaut und der Laden wieder leerstehen würde. Zumindest redet er sich ein, dass das der Grund ist.
"Abgemacht", unterstreicht er sein Nicken, blickt zu Tür, durch die John vor einigen Minuten zum telefonieren verschwunden war.
"Wir wurden einander versprochen", beginnt Ann, sieht, wie Marten ungläubig die Augen aufreist. Eine normale Reaktion zur heutigen Zeit, wie sie findet. "Meinen Eltern ist Tradition sehr wichtig und da gehört es eben dazu, seine Kinder mehr oder weniger an den Höchstbietenden zu verschachern."
Sie weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, als ihre Eltern ihr mitteilten, dass sie einst Robert heiraten solle. Es war ihr achtzehnter Geburtstag, der Tag, an dem sie vom Gesetz her volljährig war. Doch der Adel steht auch heute noch über so manchen Dingen. Daher schien sich niemand dafür zu interessieren, dass sie nie und nimmer einen Sohn der Familie Baumbach ehelichen würde. Nichts lag ihr ferner.
Doch ihre Geburtstagsfeier und Einführung in die Gesellschaft galt zeitgleich wie eine Verlobung. Plötzlich sprachen alle über diesen besonderen Zufall, dass sich die älteren, als auch die jüngeren Kinder der Familien in einander verliebt hätten.
Dabei wollte Ann schon damals einfach raus aus diesem Leben. Doch sie machte eine gute Miene zu dem bösen Spiel. Denn nur so konnte sie sich die Erlaubnis holen, sich als Nageldesignerin ausbilden zu lassen. Einen Kurs nach dem anderen besuchte sie, bei jeder nennenswerten Firma der Branche.
"Und du glaubst, er nimmt es hin, dass du ihm davon gelaufen bist?" Marten lehnt sich ein Stück zu ihr vor, sie erkennt die Spitze eines Kreuzes zwischen den Schlüsselbeinen. Welche Bedeutung wohl für ihn dahinter stecken mag?
"Er glaubt, dass ich wiederkommen", erklärt Ann. "Meine Schwester hat im ähnlichen Alter eine Deutschlandreise gemacht. Hat in jeder Hauptstadt jedes Bundeslandes für einen Monat gelebt. Sich alles im Umkreis angesehen, was es zu sehen gab. Und dann kehrte sie wieder heim, kehrte zurück zu Ralf." Ann lehnt sich in dem Stuhl zurück, schaut auf ihre Füße. "Sie hat den guten Bruder abbekommen."
"Du wolltest ihn?"
"Nein, Marten, ich wollte auch ihn nicht", sagt Ann leise. "Ich wollte keinen von ihnen. Ich wollte mir meinen Partner und potenziellen Ehemann selbst suchen. Ihn kennenlernen, mich verlieben und hoffen, dass er mich ebenso lieben könnte. Die Möglichkeit wurde mir genommen. Sie haben schließlich alles arrangiert." Nur ungern denkt sie an den Streit mit ihrer Mutter zurück.
Es war kurz nach Anns zwanzigsten Geburtstag. Sie bat ihre Mutter auf ein Wort in ihr Zimmer. Dort erzählte sie, was geschehen war, warum sie unmöglich Roberts Frau werden könnte. Doch es zeigte sich keine Einsicht. Alles, was ihre Mutter tat, war, nach der Bürste zu greifen, sich hinter Ann auf das Bett zu setzen und ihrer Tochter die Haare zu kämmen.
"Ach Annelie", seufzte sie. "So schlimm es dir jetzt vorkommen mag, so normal ist das. Auch dein Vater und ich waren nicht verliebt. Doch man lernt jemanden zu lieben, wenn man lernt, sich selbst nicht immer an erste Stelle zu schieben." Damit war das Thema abgehakt. Es wurde totgeschwiegen, sodass Ann bald nur noch eine Verbündete hatte. Nämlich ihre Erbtante Judy.
Sie allein sah Anns Not.
Sie allein wollte Ann helfen.
Sie allein gibt dem Wort Familie eine Bedeutung.
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