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Die Sonne kitzelt Ann an der Nase. Sie fühlt sich gut, ausgeschlafen und entspannt. Ihre Hand fasst neben sich. Der Platz ist leer, das Laken kalt. Ann setzt sich auf, überlegt, was passiert sein könnte. Ein Blick an ihr herunter lässt sie stutzen. Sie ist komplett begleitet. Ihr Top, dass sie immer zum Schlafen trägt, dazu einen Slip. Sie ist ganz sicher nackt in Martens Armen eingeschlafen.
Ann steht auf, schaut sich in ihrem Schlafzimmer um, sucht nach Hinweisen, dass die letzte Nacht geschehen ist. Doch auf dem Boden ist kein Rock, keine High-Heels zu sehen. Mit einem letzten Versuch, die Nacht doch noch wahr werden zu lassen, geht Ann in das Wohnzimmer. Es ist leer. Sie hat offenbar nicht ihre beste Freundin Jess vom Bahnhof abgeholt, Marten stand nicht vollgekotzt auf der Straße und sie hatte ganz offensichtlich keine absolut heiße Nacht mit ihm. Zu dumm, denkt Ann enttäuscht.
Sie lässt sich auf die Couch fallen, seufzt tief. Auf dem Tisch vor ihr liegt der Schlüssel zum Tattoostudio. Marten hat ihn ihr gestern gegeben, bevor er mit seinen Kumpels nach Hamburg gefahren ist. Ob er an sie gedacht hat, wie in ihrem Traum? Wieso träumt sie überhaupt von ihm? Er ist ein Prolet und absolut gar nicht der Typ Mann für den sie sich bisher interessiert hätte.
Ann macht sich für den Tag fertig, will spätestens um neun im Studio sein, um sich noch Visitenkarten und Bonuskarten im Netz zu gestalten. Sie will es richtig machen und in den guten Studios werden Kunden für ihre Treue belohnt.
Kurz überlegt Ann, ihre Freundin Jess anzurufen, verwirft den Gedanken aber wieder. Es ist erst acht Uhr in der Früh, eigentlich gar nicht ihre Zeit. Nicht ohne Grund will sie, wenn das Studio wirklich fertig ist, erst zwischen zehn und elf die ersten Kundinnen annehmen.
Auf dem Weg ins Studio, den Ann wieder zu Fuß zurück legt, kommt sie an einem Kiosk vorbei. Sie geht kurz hinein, kauft sich zwei Schachteln Zigaretten und hält einen kleinen Plausch mit dem älteren, etwas dicklichen Herren, der hinter dem Tresen sitzt und sich nur bewegt, wenn jemand etwas aus dem oberen Zigaretten Regal hinter ihm haben möchte. Anns Marke ist ungefähr auf gleicher Höhe mit seinen Schultern, er dreht sich nicht einmal um, um nach den zwei Schachteln zu greifen.
Den Kiosk hat sie am Vorabend entdeckt. Der Herr kam gerade raus, schnaufte ein wenig, als würde er nicht genügend Luft bekommen und war dabei abzusperren. Ann mag solche kleinen, alten Läden, die noch Persönlichkeiten haben.
Außer dem Kiosk gibt es auf dem Weg bis zum Studio keine anderen Geschäfte mehr. Eine große Supermarktkette hat, wenn man die Straße in die andere Richtung hinunterläuft, einen Megastore gebaut. Dort erledigt Ann ihren Wocheneinkauf. Doch ihre Zigaretten will sie bei Manfred kaufen. Es kann nicht schaden, jemanden in der Gegend zu kennen. So kommt man sich gleich weniger einsam vor.
Als sie am Studio ankommt, klingelt ihr Handy. Pedro Capó singt von der Ruhe in seinem Leben. Wie gern wäre Ann jetzt am karibischen Meer. Sie könnte es sich fraglos leisten, doch wäre es nicht ihr eigenes Geld, was sie dafür ausgeben würde. Der Klingelton beginnt erneut, was Ann aus ihren Gedanken an das Meer, strahlend blauen Himmel und Bikinis reiß.
"Hey Jess", begrüßt sie ihre Freundin. "Was gibt es Neues."
"Ich muss mit dir reden", erklärt Jess, ohne Ann zu begrüßen. Das ist kein gutes Zeichen, für gewöhnlich scherzen die beiden erst miteinander, bevor ernste Themen besprochen werden. "Ich kann nicht so bald zu dir kommen."
"Was? Warum?" Jess tiefer Seufzer lässt Ann erzittern. sie wollten das Projekt zusammen machen. Es ist ihr gemeinsamer Traum gewesen. Da Jess kein Kapital aufbringen konnte, hatten sie eine Regelung gefunden. Tante Judy wäre jeder Zeit bereit gewesen, Jess das Darlehen zu gewähren. Doch der stolz der Freundin war zu groß. Sie wollte ihren Anteil abarbeiten. Die Freundinnen hatten sogar vor, einen Vertrag aufzusetzen, damit sich keiner einfach aus der Affäre ziehen kann.
"Ich kann hier einfach nicht weg", versucht Jess sich zu erklären. "Mein Chef lässt mich nicht ohne weiteres aus dem Vertrag, meine Mutter will eigentlich auch nicht, dass ich soweit nach oben ziehe." Ann hatte fast vergessen, dass es Menschen gibt, die ihre Kinder lieben und gern um sich haben. Nicht nur, um das Prestige zu bedienen. Jess und ihre Mutter waren allein, es gab nur die beiden. Keine Großeltern, keinen Vater, keinen Mann, keinen Freund. "Sie macht sich Sorgen um mich. Und auch, wenn ich schon dreiundzwanzig Jahre alt bin, ich kann Mama doch nicht einfach allein lassen."
Ann schweigt. Es gab in all den Jahren der Freundschaft keinen Augenblick, in dem sie an ihrer Verbundenheit zweifeln musste. Doch jetzt weiß sie nicht, was sie sagen soll. Sie selbst hat kein inniges Verhältnis zu ihren Eltern. Es ist ihr regelrecht egal, ob sie sich wünschen, dass sie zurück kommt. Auch zur Hochzeit von Estelle wird sie nicht fahren. Alles in allem kann sie also nicht nachvollziehen, warum man seiner Familie zu Liebe auf etwas verzichtet.
"Und nun?", ergreift sie das Wort, versucht nicht gereizt zu klingen. Ist sie auch nicht, eher verletzt. "Ich meine, kommst du noch nicht, oder niemals?"
"Süße, ich weiß es ehrlich nicht", gesteht Jess. "Vielleicht lässt Mama sich dazu bringen, mit her zu kommen ..."
An diese Möglichkeit glaubt Ann nicht. Jess Mutter ist eine Berlinerin durch und durch. Sie liebt ihre Stadt, würde sie niemals hinter sich lassen.
"Jess, ich bin gerade am Studio angekommen, morgen fangen die Handwerker an. Ich muss hier jetzt ein bisschen Vorarbeit leisten. Wir ... wir hören uns." Ohne auf ein weiteres Wort ihrer besten Freundin zu warten, legt Ann auf. Um sich um beruhigen, lässt sie sich auf die kleine Treppe vor dem Tattoostudio nieder. Sie holt eine der gerade gekauften Zigarettenschachteln raus und zündet sich, den Tränen nah, eine an.
Sollte das alles sein? Eine riesige Bestellung an Equipment, Miete für einen Laden, den sie in der Größe gar nicht mehr gebrauchen kann, aufbringen müssen und dann die tolle Wohnung? Klingt doch ganz danach, dass ihr Projekt scheitern wird.
Eine einsame Träne bahnt sich einen Weg über die Wange. Seufzend wischt Ann sie weg, rafft sich auf und geht in ihr Studio. Die graue Jogginghose, die sie heute angezogen hat, liegt locker auf den Hüften, das schwarze Top und die schwarzen Sneakers hat sie schon bei diversen Renovierungen bei Freunden getragen.
Sie stellt Handy und JBL Box ein, dreht die Lautstärke hoch und beginnt damit, alten Schutt zusammenzufegen. Nachher wird ein Container geliefert. Der Handwerker, den Jo ihr organisiert hat, hat ihn bestellt und Ann darf schon anfangen, Müll hinein zuwerfen. Sie haben die Abmachung, dass Ann, so viel sie kann, mit anpackt. Dadurch spart sie ein bisschen Geld und kann schneller richtig eröffnen. Wobei das nun eigentlich völlig überflüssig ist.
"Hey Girly!" Marten steht in der Tür gelehnt, grinst sie an. "Man hört dich die ganze Straße runter."
"Scheiß drauf!", ruft Ann über die Musik, dreht sich um und geht weiter ihrer Arbeit nach. Marten hat ihr, nach dem Traum der vergangenen Nacht, gerade noch gefehlt. Die letzten beiden Wochen dachte sie nicht einmal auf sexuelle Art an ihn. Doch nach der letzten Nacht kann Ann ihm kaum in die Augen schauen.
"Okay, was hat dir die Laune heute verhagelt?" Marten stellt die Box aus, woraufhin Ann sich wütend umdreht.
"Würdest du bitte meine Sachen in Ruhe lassen?!" Sie versucht höflich zu bleiben, Marten kann nichts für ihre Laune. Doch es nervt sie, dass er scheinbar der Meinung ist, sie zum Erzählen drängen zu dürfen.
"Girly, was ist denn los? Du bist doch sonst so gut gelaunt." Marten will nicht aufgeben. Warum, weiß er selbst nicht. Doch es macht ihn merkwürdig nervös, dass die sonst so gut gelaunt Blondine, die ihr Auto Henriette nennt, dermaßen schlecht drauf ist.
"Weißt du was, Marten, Fick dich!", schreit Ann ihn an. Er hat es nicht anders gewollt. Wenn er sie nicht in Ruhe lassen will, bekommt er eben den Frust ab. "Ich will nicht reden, ich will mich dir nicht anvertrauen und ich will, verdammt noch mal, nicht ständig Girly genannt werden. Schön, vielleicht bin ich eines, aber du hast null Ahnung, warum, weshalb und wieso ich bin, wie ich bin! Du, mit deiner ewigen schlechten Laune, denkst wohl, ein alleiniges Recht eben darauf zu haben. Aber soll ich dir mal was sagen? Du bist nicht die Sonne und die scheiß Welt dreht sich nicht nur um dich!"
Ann schmeißt Handfeger und Müllschippe auf den Boden, der Aufprall hallt in dem leeren Studio wider. Wütend stapfte sie an Marten vorbei, geht hinaus und lässt sich auf der Fensterbank nieder. Hier hat sie vor ein paar Stunden ihre Zigaretten liegen und eine Flasche Cola stehen lassen. Zum Glück ist der Himmel heute ein wenig verhangen, sodass die Cola nicht in der Sonne kochen musste.
Tief inhaliert sie den Rauch ihrer Zigarette, lässt den Kopf in den Nacken fallen und schließt die Augen. Sie wird sich vermutlich bei Marten für den Ausbruch entschuldigen müssen. Er kann wirklich nichts dafür und meinte es sicher nur gut. Doch er war das perfekte Ventil, um den Frust über Jess loszuwerden.
"Girly?", grinsend tritt Marten neben sie, setzt sich so dicht an ihre Seite, dass die Schenkel der beiden sich berühren. "Hats gereicht oder brauchst du eine zweite Runde?" Verlegen schaut Ann ihn an. "Hey, keine Sorge, ich kann das ab. Besser du brüllst jemanden an, als dass du eine Wand einschlägt." Ann muss lachen, denn ihre Variante ist tatsächlich besser. "Na los, erzähl Onkel Marty was dir die Laune dermaßen verhageln konnte."
"Jess", seufzt Ann auf. Warum sollte sie ihm nicht davon erzählen? Vermutlich wird ihr Laden in kürzester Zeit pleite gehen und dann muss er darauf gefasst sein, dass sie das Studio wieder abgeben muss. "Sie wird nicht kommen. Und es war unser beider Traum. Nun hat sie, wegen ihrer Mutter, einen Rückzieher gemacht. Ich allein kann gar nicht so viel arbeiten, als dass ich die Miete allein aufbringen kann."
Sie braucht jetzt dringend einen Freund. Und da Marten ihr gerade das Gefühl gibt, einer zu sein, legt sie ihren Kopf auf seine Schulter. Gemeinsam schweigen sie, rauchen noch eine Zigarette.
"Da wird sich eine Lösung finden", sagt Marten nach einer Weile leise. "Wir können nicht zu lassen, dass du wieder gehst. Wir alle können dich gut leiden, Lisa liebt dich, wenn man Jo glauben kann. Also lass uns überlegen, wie wir, gemeinsam, die beiden Läden finanzieren können."
"Du bist ein guter Freund", stellt Ann fest, drückt Marten einen leichten Kuss auf die Wange.
Freund ... so hat ihn noch keine Frau genannt. Arsch oder Schlimmeres, ja, aber nie Freund. Die Stelle, auf der gerade noch für wenige Sekunden Anns Lippen lagen, kribbelt. Marten will gar nicht erst wissen, warum das so ist.
Eine Weile sitzen die beiden noch auf dem Fensterbrett, reden, schweigen, lachen miteinander. Als Sven, der Handwerker und ein alter Schulfreund von Jo, kommt, geht Marten ins Studio rüber und Ann bespricht mit ihm, was alles getan werden muss. Die Kosten bleiben, mehr oder weniger, überschaulich. Wenige Minuten später wird der Container geliefert und Ann leert die Eimer, die sie vorhin noch mit Schutt gefüllt hat.
Marten beobachtet sie, erst durch das Loch in der Wand, später durch das Fenster, als sie sich eine Raucherpause gönnt. Sie hat vorhin erzählt, dass sie noch Visitenkarten braucht, doch bisher kam sie noch nicht rein, um an ihren Laptop zu gehen. Er liegt auf dem kleinen Tisch, neben diversen Tattoo-Zeitschriften.
Marten geht hinter den Empfangstresen, hat schon vor einer Stunde den Studio-Laptop gestartet, um zu sehen, welcher der Jungs heute Kunden hat. Er ruft Google auf und lässt die Seite nach Anbietern für Visitenkarten und andere Werbung suchen. Als er eine recht preiswerte gefunden hat, geht er nach draußen und setzt sich auf die Treppe. Svens Pickup ist mittlerweile verschwunden, Ann läuft alle paar Minuten mit einem vollen Eimer zum Container und wieder zurück.
Marten muss anerkennen, dass das Berliner-Girly Biss zeigt. Erst vor wenigen Stunden kochte sie vor Wut, weil ihre Freundin sie hängen lässt. Doch sie scheint den Traum vom eigenen Studio nicht aufzugeben. Er kennt die Einstellung und wenn Ann sie beibehält, dann wird sie es auch schaffen.
"Hast du eigentlich nie was zu tun?" Mit einem amüsierten Lächeln setzt Ann sich neben Marten auf die Treppe. Es scheint der Lieblingsplatz der Jungs zu sein, wenn das Wetter mitspielt.
"Ich bin der Chef", zuckt der Angesprochene mit den Schultern.
"Wie schön das sein muss, immer Zeit zu haben." Ann greift nach der Zigarette, die Marten sich gerade angezündet hat und die noch in seinem Mund steckt. Perplex schaut er sie an, verwirrt über ihre Tat. "Sorry, aber meine liegen da drüben und ich glaube nicht, dass ich heute nochmal aufstehen kann. Vermutlich muss ich hier übernachten. Genau hier auf deiner Treppe."
"Ich lass es dir dieses eine Mal durch gehen", erklärt Marten gespielt großmütig. Wieder lehnt Ann sich an ihn, raucht seine Zigarette und seufzt schwer. Das Geräusch geht Marten durch Mark und Bein, es ist kein erschöpfter oder erleichterter Ton. Sie klingt unendlich traurig und enttäuscht. Dank dieser Jess.
"Wer war die Frau gestern?", will Marten irgendwann wissen. Es interessiert ihn eh und er hofft, Ann dadurch ein wenig von ihren Sorgen abzulenken.
Doch Ann antwortet nicht. Ihr Atem geht regelmäßig, die Zigarette ist ihr aus den Fingern gerutscht. Zum Glück auf die Treppe und nicht auf ihre Beine.
Vorsichtig legt Marten einen Arm um Ann, schiebt den anderen mit noch größerer Sorgfalt unter ihre Beine und trägt sie in den Laden. Sanft bettet Marten die junge Frau auf eines der Sofas, holt aus der im hinteren Bereich liegenden Küche eine Jacke, die er immer dort hat, falls sie gebraucht wird. Er legt Ann die Jacke über die Schultern, blickt sie einen Moment an. Ohne es wirklich böse zu meinen, überlegt er, ob die blonde Schönheit jemals zuvor so hart gearbeitet hat.
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