5
Es dauerte eine ganze Woche, bis Ann ihren Tisch einrichten konnte. Die Lieferung ging recht schnell, der Aufbau der Möbel, durch Jos Hilfe ebenfalls, doch die Suche nach dem perfekten Ort für ihre Nagelecke war schier endlos. Immer wieder mussten Marten und Adam den Tisch quer durch den Raum tragen, Ann setzte sich immer wieder hin, beugte sich ein wenig vor, so, als würde sie arbeiten. Doch es gab immer etwas, was die störte.
"Und du bist dir sicher?", will Adam lachend wissen. Gerade haben sie den Tisch zum gefühlt trillionsten Mal durch den recht kleinen Eingangsbereich des Tattoostudios getragen.
"Ja, ich ... warte." Ann beugt sich erneut vor, schaltet die Tischleuchte an und bewegt die Hand. Sie hält die Finger, als würde in ihnen ein Stift liegen. Marten hat die Geste bereits bei dem ersten Testlauf seiner neuen Geschäftspartnerin nicht verstanden. Die beiden Männer beobachten Ann, wie sie nur das Handgelenk immer und immer wieder in schnellen Abläufen bewegt. Sie bemerken nicht einmal, wie die Tür sich öffnet.
"Was macht sie da?" Johns Stimme lässt Marten und Adam zusammenzucken, doch Ann scheint es nicht wahrzunehmen.
"Wenn wir das wüssten", antwortet Adam. "Das macht sie seit Stunden. Immer und immer wieder. Es hilft ihr bei der Entscheidung, ob der Tisch dort stehen bleiben kann."
"Yo, Ann", versucht John sie auf sich aufmerksam zu machen. Beim dritten, wesentlich lautesten Ruf schaut sie auf. "Süße, was soll das? Für einen Handjob muss die Hand anders liegen." Sein dreckiges Grinsen ist anstecken.
"Ich habe simuliert", erklärt Ann, kommt aber nicht weit damit.
"Scheiße, Girly, das darfst du niemals zu einem Mann sagen" , mischt sich nun auch Marten ein. Mit Unverständnis schaut Ann ihn an. "Simulieren heißt doch vortäuschen, oder?", fragt er mit einer Unschuldsmiene.
"Wenn Männer wissen würden, was sie zu tun haben, müsste keine Frau simulieren", kontert Ann.
"Vielleicht hat es dir einfach noch keiner richtig besorgt", murmelt John, woraufhin Marten laut auflacht.
"Halt die Klappe, Marten", sagt Ann. Ohne einen der drei Männer weiter zu beachten, geht sie in die kleine Küche, in der Marten den Rest ihrer Bestellung abgestellt hat.
"John hat das doch gesagt", ruft er Ann hinterher. "Hat er etwa recht? Scheiße, Girly, ich kenne ein paar Typen, die schulden mir noch was. Vielleicht schafft es einer von denen." Ann kommt mit einem Karton voller Gele wieder, bleibt wie festgenagelt stehen, als Martens dunkles Lachen erneut erklingt.
"Du bist widerlich", presst sie aus zusammengebissenen Zähnen heraus, kümmert sich dann, sichtlich angespannt, wieder um ihren Tisch.
Sie hat früher solche Proleten gehasst. Sie dachte bisher, sie hätte hier Bekanntschaft mit einer anderen Sorte Mann gemacht. In der letzten Woche hat sich keiner von ihnen so ekelhaft verhalten. Gut, die Sprüche, als Marten morgens vor ihrer Tür stand, gingen in eine ähnliche Richtung. Doch das gerade war mehr als niveaulos. Vielleicht war es nicht die beste Idee, sich die Läden mit Marten zu teilen. Gestern erst haben sie die Bestätigung des Vermieters bekommen und mit den Handwerkern alles klar gemacht. Zu spät, um einen Rückzieher zu machen.
Je mehr Kartons Ann auspackt, desto mehr kann sie Marten, der mittlerweile auf ihrem Kundenstuhl sitzt, ausblenden. John und Adam sind in Adams Bereich verschwunden, um mit seinem neuen Tattoo anzufangen.
"Es war ein Spaß", erklärt Marten mit unterkühlter Stimme nach einigen Minuten. Ann ignoriert ihn, straft ihn mit Schweigen. Vielleicht müsste sie ihm erklären, warum sie auf einen derartigen Spruch so reagiert, doch dazu ist sie nicht bereit. Sie kennt Marten kaum und das ist keine Geschichte, die man jedem auf die Nase bindet. "Hey." Marten steht in dem Moment auf, als Ann wieder in die Küche gehen will, um den letzten Karton zu holen. "Es war ein Scherz", betont er nachdrücklich, legt eine Hand auf ihren Arm.
"Fein", antwortet Ann, kann seinem Blick aber nicht standhalten.
"Schön. Erklär mir aber bitte, was die Bewegung bedeutet." Er lässt sich wieder auf den Kundenstuhl sinken und deutet auf den Tisch.
Ann bedeutet ihm kurz zu warten, holt einen Karton und setzt sich an ihren neuen Arbeitsplatz. Sie sitzt mit dem Rücken zur Hauswand, der Tisch ragt in die Sicht des Schaufensters, sodass die Kundin während ihres Termins nach draußen schauen kann. Auch Ann kann durch das große Fenster nach draußen blicken, hat gleichzeitig die Tür und somit jede eintretenden Person im Blick.
"Ich habe so getan, als würde ich gerade eine alte Modellage fräsen", erklärt Ann. "Das Licht spielt dabei eine entscheidende Rolle. Wenn ich mir selbst einen Schatten werfe und die Tischleuchte dadurch minimal anderes Licht auf die Hand der Kundinnen wirft, könnte die Modellage uneben werden. Und das bedeutet, man hat nicht sauber gearbeitet. Und das bedeutet, die Kundin kommt womöglich nicht wieder."
In aller Ruhe holt Ann einen Nagelfräser aus einem der Kartons, stellt ihn zu ihrer Rechten ab, schließt ihn an den Strom, öffnet eine Schublade und holt einen Aufsatz heraus. Auf diesem ist eine Art braunes Schmirgelpapier geschoben worden.
Ann entriegelt das Handstück des Fräsers, steck den Aufsatz darauf und hält erwartungsvoll die Hand zu Marten. Verwirrt schaut er von ihren Augen zu ihrer Hand.
"Guck nichts doof, gib dir deiner Hand", fordert sie ihn auf, beugt sich vor und zieht seine Hand zu sich herüber. Weil er sich dabei etwas aufrichten muss, wirkt er gleich viel größer auf Ann.
Ohne eine Erklärung abzugeben startet Ann die Maschine, stellt die Geschwindigkeit ganz niedrig ein, als würde sie eine Modellage noch einmal anbuffern. Behutsam fährt sie über den Nagel von Martens Mittelfinger. Er beobachtet mit Argusaugen, wie Ann immer wieder über sein Nagelbett fährt, der Nagel dadurch matter wirkt. Nach wenigen Sekunden ist der Moment vorbei, Ann schaltet den Fräser aus und sieht ein kleines Fläschchen heraus. Sie gibt einen Tropfen aus der Pipette auf den Nagel und verreibt ihn anschließend.
Marten kann die Hand, so gern er würde, nicht wegziehen. Die sanften, massierenden Bewegungen von Ann fesseln ihn. Keine Frau hat je seine Hand massiert, stellt er fest. Und er bemerkt, dass ihm diese Art der Berührung von Ann durchaus gefällt. Er beobachtet sie, verliert für einen Augenblick jedes Ueirgefühl.
"Ach du Scheiße!" Ann und Marten zucken gleichermaßen zusammen, als Jos laute Stimme erklingt. "Der Sack lässt sich tatsächlich eine Maniküre verpassen." Mit einem Finger deutet Jo auf Marten, kann sich kaum halten vor Lachen und grinst eine Frau an, die er im Arm hält. "Ann, das ist mein Frau Lisa."
Die Blondine, die gerade noch ihren Arm um Jos Hüfte gelegt hatte, macht sich los und kommt auf Ann zu.
"Hi, schön dich kennenzulernen", grüßt sie Ann, neigt sich zu ihr runter und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. "Bitte, bitte mach mir die Nägel." Grinsend steht sie vor dem Tisch, faltet die Hände wie zum Gebet. "Meine Nageltante hat aufgehört, hat was erzählt, sie würde jetzt endlich an sich denken. Und jetzt schau dir das Schlamassel an." Lisa hält Ann ihre Hände hin, ganz automatisch ergreift diese sie und zieht sie leicht unter die Lampe.
"Steh auf, Marten", wendet Ann sich an ihren Geschäftspartner. Als der sie nur anstarrt, verdreht sie die Augen. "Marten, schau dir diese Nägeln an", fordert sie. "Was siehst du?"
"Ähm."
"Scheiße Ann, du hast ihn zu einem sabbernen Idioten gemacht, fürchte ich", lacht Lisa und drückt Marten beiseite, als der endlich aufsteht. "Babe, du kannst mich später abholen." Sie wirft Jo mehrere Luftküsse zu und konzentriert sich wieder auf Ann. "Was kannst du dagegen tun?"
Ann beugt sich ein wenig vor, begutachtet die etwa drei Wochen alte Modellage. Natürlich könnte sie älter sein, doch anhand des nachgewachsenen Naturnagels ist das Anns Schätzung. Schlimm sieht die Modellage nicht aus, die Kollegin weiß, wie es geht. Doch an einigen Stellen sind die Strasssteine abgefallen und hier und da erkennt Ann ein Lifting.
"Zwei Stunden", ruft sie Jo zu, der mit Marten im Schlepptau nach draußen geht.
"Was ist los mit dir?", will Jo wissen, als die beiden Blondinen sie nicht mehr hören können.
"Was soll sein? Ich hatte mich unterhalten, als ihr reingekommen seid." Marten setzt sich auf die Treppe, zündet sich eine Zigarette an. Ein kurzer Blick in den Himmel zeigt, dass es heute wohl noch Regen geben wird. Die dicken grauen Wolken wandern nur sehr langsam weiter.
"Du hast sie angestarrt, du hast fast gesabbert und du warst sehr still für jemanden, der immer einen dummen Spruch auf Lager hat", fasst Jo zusammen, was er gesehen hat. Marten würde gern widersprechen, nur leider war es so. Er hing an jeder von Anns Bewegungen, hat fast alles um sich herum vergessen. Das darf nicht mehr vorkommen. Nie wieder. Sie ist seine Geschäftspartnerin.
"Fahren wir nachher nach Hamburg?", versucht er vom Thema abzulenken. "Wir waren ewig nicht aufm Kiez." Jo überlegt kurz, nickt dann aber. Alle wissen, was Marten nach der letzten Frau durchgemacht hat, die ihn auch nur ansatzweise interessiert hat. Der Kiez war seine zweite Heimat, obwohl Marten den Laden dort schon längst verkauft hat.
"Wir nehmen die anderen mit und losen, wer fahren muss", entscheidet Jo. Er wirft einen Blick durch das Fenster, beobachtet, wie seine Frau, die Liebe seines Lebens, mit Ann lacht, als würden sie sich schon länger kennen. Lisa hat nicht viele Freundinnen, was durch sein Umfeld und seinen Job so von Uhr gewollt ist. Die wenigen, die sie hat hält sie in Ehren. Doch sie bringt selten eine mit in die Runde. Weil sie Fangirls hasst, selbst nie eins war. Die Musik, die Fans, das alles kann sie nicht leiden. Zumindest nicht dauerhaft. Doch sie lässt ihm alle Freiheiten, so lange er treu ist und ihr andersherum auch keine Vorschriften macht. Jo kann für alle seine Freunde hoffen, dass sie eines Tages eine solche Frau finden werden.
Nach einer Weile beginnt es zu tröpfeln, Marten und sein Kumpel gehen wieder ins Innere des Studios, setzen sich abseits der Frauen auf zwei schwarze Sofas. Fast schon zwanghaft versucht Marten Anns Lachen zu ignorieren, versucht nicht jedes Mal rüber zu gucken, wenn sie Lisa antwortet.
"Gucken ist erlaubt", flüstert Jo grinsend.
"Wer guckt?" Lautstark kommen John und Adam wieder nach vorne. Sie setzen sich ebenfalls auf die Sofas, beobachten ungeniert die Frauen. "Die beiden sehen aus wie Schwestern", stellt Adam fest.
Marten schaut überrascht auf, hat nicht bemerkt, wie die Tür aufgegangen und eine Frau herein gekommen ist, die Ann tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten ist.
"Was machst du hier?", fragt Ann die neue.
"Judy sagte mir, wo ich dich finde", erklärt diese, rümpft die Nase, als sie sich in dem Laden umsieht. Sie umklammert den tropfenden Regenschirm, als würde sie ihn jeden Moment zur Verteidigung brauchen. "Können wir reden?"
"Ich arbeite, Estelle." Die Stimmung im Raum ist zum Schneiden dick. Keiner sagt etwas, keiner bewegt sich. Bis auf Ann, wie Marten anerkennend feststellt. Obwohl ihr die andere unangenehm zu sein scheint, lässt sie sich nicht von ihrer Arbeit ablenken.
"Annelie, auf ein Wort, bitte", sagt Estelle streng.
"In etwa zehn Minuten bin ich fertig, dann habe ich Zeit." Unbeirrt greift Ann nach einem Pinsel, arbeitet weiter.
Marten steht von der Couch auf, stellt sich neben den Tisch.
"Kaffee?", fragt er Estelle, doch die schüttelt den Kopf.
"Ich warte im Wagen, Annelie", sagt sie und verlässt wieder den Raum. Sie muss sich sicher sein, dass Ann in zehn Minuten hinterher gerannt kommt.
Im Studio ist es still geworden, keiner wagt es, Ann auf Estelle und die offensichtliche Ähnlichkeit zwischen ihnen anzusprechen.
"So, meine Liebe, du bist fertig", erklärt Ann, deutet auf Lisas Nägel. Marten steht noch immer neben ihr, doch sie ignoriert ihn nach wie vor.
"Jo, gib ihr Geld", ruft Lisa ihrem Freund zu, wendet sich dann wieder an Ann. "Sie sehen perfekt aus. Besonders die beiden im Mormorlook. Süße, du hast soeben deine erste Stammkundin gewonnen. Und meine Mädels werden sicher gern zu dir wechseln. So können sie wenigstens hin und wieder mal einen Blick auf einen der 187 werfen."
Ann, die erst durch Lisa erfahren hat, wer Jo und John überhaupt sind, ist sprachlos. Nach nur einer Modellage will Lisa wieder kommen und ihren Freundinnen von ihr erzählen. Manchmal muss man eben Glück haben.
Sie nimmt Jo das Geld ab, verweigert aber das viel zu hohe Trinkgeld. Nun kann sie es nicht länger hinauszögern, muss zu Estelle nach draußen. Zumindest hat es jetzt aufgehört zu regnen.
Sie geht an Marten und Lisa vorbei nach draußen, wundert sich nicht, dass der Wagen ihrer Schwester in zweiter Reihe steht. Ann klopft ans Fenster, will nicht ins Auto einsteigen.
"Was willst du?", fragt sie, als Estelle die Scheibe herunter lässt.
"Könntest du einsteigen?"
"Estelle, steig aus, sag was du zu sagen hast und fahr wieder nach Hause. Ich werde nicht einsteigen." Ann verschränkt die Arme vor der Brust und wartet. Estelle gibt nach, steigt wieder aus und tritt auf den Gehweg, bleibt einige Schritte vor Ann stehen.
"Woher weißt du, wo du mich findest? Von Tante Judy sicher nicht. Diese Lüge habe ich erkannt, noch während du sie ausgesprochen hast."
"Man findet jeden, wenn man will", zuckt Estelle die Schultern. "Du solltest zurück kommen. Mama und Papa sind sehr in Sorge und auch Robert ist schon krank vor Angst."
Ann schnauft auf. Robert ist krank, keine Frage, doch sicher nicht, weil er sich um sie sorgt. Und auch bei ihren Eltern kann das so nicht stimmen.
"Ich baue mir hier gerade etwas auf", erklärt Ann ruhig. "Abgesehen davon bin ich nicht gegangen, um sofort wieder zurück zu kommen, nur weil du hier auftauchst." Die Schwestern mustern sich abschätzig, wobei Ann auffällt, dass Estelle einen dicken neuen Klunker an ihren unmanikürtem Finger trägt. "Offenbar darf man gratulieren" deutet sie auf den Ring. "Hat Ralf es also geschafft und du bist dem ganzen, idiotischem Schauspiel verfallen. Nun, nach allem, was passiert ist, verstehst du sicher, dass ich nicht zur Hochzeit erschienen werde."
"Du musst", echauffiert sich Estelle. "Immerhin heiratet eine von Siemens einen Nachkommen der von Baumbachs. Die Verbindung unserer Adelsfamilien ist das Highlight des nächsten Frühjahrs."
"Und doch wirst du auf mich verzichten müssen", sagt Ann und geht auf das Studio zu. "Und solltest du, Robert oder unsere Eltern hier auftauchen und mich belästigen, pack ich aus. Das verspreche ich."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro