11
"Und dann?"
"Nichts und dann", erklärt Ann genervt. "Wir sind nach oben gegangen, er hat mir ein Shirt zum Schlafen gegeben und dann habe ich geschlafen."
"Mit ihm? Neben ihm?"
"Jess, hör auf!", rügt Ann ihre beste Freundin. Als sie am späten Vormittag nach Hause gekommen ist, hat sie sich einen Kaffee gemacht, mit ihrer neuen hypermodernen Maschine, sich auf den Balkon gesetzt und ihre Freundin angerufen. Seit Jess ihr gesagt hat, dass sie nicht nach Itzehoe kommen wird, haben sie nicht mehr miteinander gesprochen. Zwar waren es jetzt nur einige Stunde, maximal ein paar Tage, dennoch kommt es Ann wie eine Ewigkeit vor. "Er hat sich neben mich auf das Bett gelegt, ja, aber zwischen uns war Abstand und das wird auch so bleiben." Ann ist sich nicht sicher, ob sie sich das selbst wirklich glauben kann, doch sie will es zumindest versuchen. Deshalb verschweigt sie Jess auch, dass Marten auch am nächsten Morgen, wie selbstverständlich, immer wieder ihre Hand genommen hat.
Selbst im Auto. Sie sind allein zurück gefahren, da Jo und die anderen Jungs erst in den frühen Morgenstunden zurück waren und keiner schon mit Heim wollte. Als sie dann auf dem Beifahrersitz saß, die Bäume neben der Autobahn nur so an ihnen vorbei flogen, hat Marten wieder nach ihrer Hand gegriffen. Ann weiß nicht, was es bedeutet, was es bedeuten könnte, und sie will es auch gar nicht. Immer, wenn man einer Sache einen Namen gibt, verändert sich alles und meist geht dann alles schief.
"Du fehlst mir hier so", wechselt Ann das Thema. Es brennt ihr auf den Lippen, seit Jess den Anruf entgegen genommen hat.
"Du mir auch. Und ich versichere dir, ich werde dich ganz bald besuchen." Ann wünscht sich, dass Jess mit dem Willen hierher zu ziehen kommen würde. Leider sieht es jedoch so aus, als müsse Ann sich daran gewöhnen, allein zu sein. Das Geschäft läuft gut an, dank Lisa und ihren Freundinnen, und vielleicht ist es ja was gutes, wenn sie einen Hauch Exklusivität ausstrahlt, indem eben nicht jeder x-beliebige Kunde einen Termin bekommt. Oder sie scheitert kläglich und muss in einigen Monaten wieder zurück nach Berlin, weil sie ihre Miete nicht mehr zahlen kann. "Erinnerst du dich übrigens an Ela?"
"Aus unserer Schule?"
"Genau. Ich habe sie neulich getroffen und stell dir nur vor, sie ist auch in die Kosmetik gegangen. Allerdings in die kosmetische Fußpflege. Vielleicht könntest du sie anlernen? Dann kannst du auch Pediküre anbieten", erzählt Jess.
"Gib ihr meine Nummer, ich werde darüber nachdenken." Die Freundinnen bringen sich noch eine Weile auf den neusten Stand, ehe sich Jess verabschieden muss.
Ann bleibt auf dem Balkon sitzen, legt den Kopf in den Nacken und versucht die aufkommenden Tränen der Einsamkeit nieder zu kämpfen. Eigentlich wollte sie noch in den Laden, immerhin ist Samstag und sie hätte gut noch ein wenig Ordnung in ihren Tisch bringen können. Am Montag kommen zwei von Lisas Freundinnen. Vielleicht ist der Gedanke, Ela in den Laden zu holen, wirklich eine Überlegung wert.
Ann trinkt den letzten Schluck ihres Kaffees, bringt ihre Sachen hinein und beschließt, doch noch in den Laden zu gehen. Adam hat heute keinen Kunden, daher wird sie allein sein und in aller Ruhe Ordnung in ihren Sachen bringen können. Es ist selten, dass an einem Samstag kein Kunde bei den Tätowierern ist.
Während Ann die Straße entlang spaziert wandern ihre Gedanken zurück zu ihrer besten Freundin. Trotz der Nähe zu ihrer Mutter hat Jess immer versichert, dass sie mit Ann den Laden aufmachen würde. Was ist bloß geschehen? Die Geschichte, dass ihre Mutter nicht möchte, dass ihre erwachsene Tochter weg zieht, kann und will Ann nicht wirklich glauben. Je mehr sie darüber nachdenkt, desto mehr glaubt sie daran, dass an der Geschichte etwas faul ist.
Doch alles Grübeln hilft nichts, wenn Jess nicht mit der Sprache rausrücken will.
Als Ann vor dem Laden ankommt, stellt sie überrascht fest, dass die Tür weit offen steht. Aus dem Inneren dröhnt laute Hiphop-Musik. Langsam geht sie hinein, bleibt völlig verdattert in der Tür stehen.
Marten steht an der hinteren Wand, wo gestern noch die zwei Ledersofas gestanden haben, mit einer Farbrolle bewaffnet und starrt auf die mit Klebeband verzierte Wand.
"Was tust du da?", entfährt es Ann. Doch Marten nimmt sie gar nicht wahr. Kurzerhand geht sie hinter den Tresen und schaltet die Anlage aus. "Marten, was tust du da?", wiederholt sie ihre Frage.
"Ich streiche", erklärt er das Offensichtliche. "Was willst du hier? Hätte gedacht, du musst Schlaf nachholen." Er dreht sich nicht zu Ann um, starrt immer noch die Wand an.
Auf dem dunklen Grau hat er ein Feld in verschiedenen lila Tönen gestrichen. Er entfernt sich einen Schritt weiter von der Wand, legt den Kopf schief und seufzt.
"Ich habe keine Ahnung von weiblichen Farben", sagt er und dreht sich zu Ann um. Ihr stockt der Atem. Sein linkes Auge ist geschwollen, rot leuchtet die Haut drum herum. Seine Knöchel der rechten Hand sind aufgerissen. Definitiv sah er vorhin, als er sie zu Hause abgesetzt hat, noch nicht so aus.
"Was ist passiert?" Ann tritt hinter dem Empfangstresen vor, geht auf den Hünen zu. Sie hebt die Hand, will seine Wange berühren, doch Marten zuckt zurück.
"Welches Lila soll es werden?" Er ignoriert ihre Frage, dreht sich wieder der Wand zu. Warum sollte er ihr auch erzählen, dass er sich mit seinem Kumpel geprügelt hat, um seine Emotionen wieder in den Griff zu bekommen. Hauptsache, Ron taucht hier nicht in den nächsten Tagen auf, denn er sieht wesentlich schlimmer aus als Marten. Und er ist der einzige, der versteht, warum Marten sich derart abregen muss. Wäre die Geschichte vor fünf Jahren anders gelaufen, wäre er vielleicht ein völlig anderer Mensch. Doch es ist wie es ist und Marten wird sich nicht ändern, für niemanden.
Ann geht an ihm vorbei, schaut sich die Farbtöne genau an, ehe sie auf einen, recht dunklen Ton zeigt.
"Den finde ich gut, aber ich habe Angst, dass es zu düster wird", erklärt sie. Wieder einmal besteht sie nicht auf eine Antwort. Ob sie immer so unkompliziert ist?
Marten nickt, schreibt sich den Farbcode auf und geht nach hinten in die kleine Küche. Die Abrissarbeiten an der Wand haben bereits begonnen, überall ist es dreckig. Selbst die Räume seiner Artists müssen alle halbe Stunde sauber gemacht werden, weil sich der feine Staub durch jede Ritze schleicht. Marten lässt sich auf einen der wild zusammen gewürfelten Stühle nieder, legt den Kopf in den Nacken und massiert leicht seine verletzte Hand. Vielleicht war er ein wenig zu hart gegenüber seinem Freund. Aber Ron hat seine Lage schamlos ausgenutzt, hat ihn provoziert, bis er einfach alles raus gelassen hat.
"Kaffee?" Ann tritt ebenfalls in die Küche, macht sich an der alten Filtermaschine zu schaffen. Sie will sich ihm nicht aufdrängen, aber ohne einen weiteren Kaffee wird sie vermutlich nicht mit ihrem Tisch anfangen. Das meiste hat sie schon einsortiert, aber Ann will sichergehen, dass sie es auch logisch eingeräumt hat, ohne dass ihre Arbeitsabläufe groß gestört werden. Marten antwortet auf ihre Frage mit einem Brummen. Er ist absolut nicht in der Stimmung, sich mit jemanden unterhalten zu müssen. Und auf keinen Fall will er an Ann seine schlechte Laune auslassen. Wenngleich sie einer der Gründe ist. Viel mehr der Wunsch, sie sich zu nehmen. Doch das wird er sich nicht gestatten. Sie ist eine VON, Herr Gott nochmal, denkt Marten, während er seine Geschäftspartnerin durch zusammengekniffene Augen beobachtet.
Ann stellt zwei Tassen auf den Tisch und holt für Marten noch Milch aus dem Kühlschrank. Er macht nie viel davon in seinen Kaffee, aber ganz schwarz trinkt er ihn selten.
Ann weiß nicht so recht, wohin mit sich. So schweigsam hat sie Marten noch nicht erlebt. Für gewöhnlich hat er immer einen Spruch auf den Lippen oder fragt sie aus. Doch heute - nichts.
"Und, wie war dein Tag bisher?", versucht sie ein Gespräch zu beginnen.
"Geht so", brummt er wieder.
"Ich habe mit Jess telefoniert. Sie will bald mal zu Besuch kommen und sie hat vielleicht eine ehemalige Freundin, die hier anfangen könnte. Ich wollte ja nie den Laden allein führen und kann es auch gar nicht. Die Miete für Laden und Wohnung bekomme ich allein niemals zusammen." Ann plappert und plappert vor sich hin, steht zwischenzeitlich auf und holt die Kaffeekanne. Marten bleibt schweigsam. "Na schön", flüstert Ann resigniert, nimmt ihre Tasse und geht nach vorne an ihren Tisch. Sie will sich nicht aufdrängen und Marten will ganz offensichtlich keine Gesellschaft.
Sie braucht nicht lange, um auch das letzte Glitzerdöschen zu verstauen. Jetzt, da ihr Tisch so schnell fertig gestellt ist, kommt sie sich blöd vor, noch her gekommen zu sein. Das alles hätte sie auch am Montag vor ihrer ersten Kundin geschafft.
Ann räumt ihre Kaffeetasse in die Küche, wo Marten noch immer am Tisch sitzt. Mittlerweile hat er seine eigene Tasse gegen eine Flasche Bier getauscht. Vielleicht ist er sauer, weil er mehr oder weniger wegen Ann am Vorabend nicht richtig abschalten konnte, überlegt sie.
"Ich bin wieder weg", informiert sie den verbittert wirkenden Mann. Marten schaut auf, scheint sie jetzt erst wieder richtig wahrzunehmen.
"Wo gehst du hin?", fragt er. Ann hört deutlich heraus, dass die Flasche vor ihm nicht die erste ist. Wie viel kann man in einer Stunde trinken?
"Nach Hause", erklärt sie. "Ich werde mir was zu Essen bestellen und dann einen Serienmarathon starten."
"Welche Serie?" Seine Stimme ist monoton, keinerlei Emotionen sind herauszuhören.
"Weiß ich noch nicht", gesteht Ann. "Ich bin eigentlich nicht so ein Serienjunkie, ich guck immer das Gleiche. Kannst du mir was empfehlen?"
"Ja, lass uns fahren." Marten reicht Ann die Schlüssel zu seinem Mercedes. "Mach mir ja keine Kratzer in die Felgen."
"Ich fahre doch nicht dieses Schiff", entfährt es Ann. "Wir können zu mir laufen, es sind doch nur 10 Minuten." Marten schiebt Ann vor sich aus dem Studio, schließt die Tür ab und lässt das Gitter hinunterfahren, ehe er sie weiter zu seinem Auto schiebt. "Marten, ernsthaft, ich kann so ein Schiff nicht fahren."
"Du kannst und du wirst. Mein Fernseher ist größer." Erst jetzt wird Ann bewusst, dass er scheinbar mit ihr zusammen gucken will. Nur eben nicht in ihrer Wohnung. Sie gibt sich geschlagen, nimmt sich vor, nicht schneller als 30 zu fahren, was in der näheren Umgebung sowieso nicht anders möglich ist. Immerhin war sie neulich noch so scharf darauf, seinen Wagen zu fahren. Vermutlich, weil sie genau gewusst hat, dass er es nie und nimmer zulassen würde.
Marten führt sie durch die Stadt, bis sie fünfzehn Minuten später vor einer kleinen Wohnsiedlung in eine Parklücke fahren. Ann blickt sich um. Die Gegend wirkt gepflegt, in einigen Wohnungen ist Licht an, die Autos in der Straße wirken auch eher neu auf Ann.
Als sie aussteigen, wartet Marten, bis Ann sich neben ihn stellt, nimmt ihre Hand und geht los. Er war nie der Typ, der gern die Hand einer Frau gehalten hat, doch bei Ann kann er nicht anders. Es gibt ihm das Gefühl, genau zu wissen, was in ihr vorgeht, wenngleich er das nie laut aussprechen würde.
"Hast du Angst vor Hunden?", will er wissen, als sie in einen Hausflur treten.
"Nein, eigentlich nicht." Ann wartet gespannt, was wohl für ein Hund aus der Wohnung, die Marten gerade aufschließt, kommen wird. Doch nichts passiert.
"Chopper ist bei meinen Eltern, weil wir ja gestern unterwegs waren", erklärt Marten, als er Ann in die Wohnung zieht.
Der Flur ist groß und lichtdurchflutet. So alt das Haus von außen auch wirken mag, die Wohnung im Dachgeschoss ist modern. Im Flur gibt es zwei Oberlichter, welche das unglaubliche Farbenspiel erschaffen, was durch das Sonnenlicht und den großen Spiegel an der Wand gegenüber der Wohnungstür entsteht. Von dem Flur gehen zu Anns Linken drei Türen ab, rechts weitet sich der Flur in ein riesiges Wohnzimmer.
"Geh schon durch, ich hol uns was zu trinken und die Karten vom Lieferdienst." Marten deutet auf das Wohnzimmer und verschwindet durch die erste der drei Türen. Unbeholfen bleibt sie noch einen Moment im Flur stehen, zieht ihre Sneaker aus und stellt sie neben die anderen, fein säuberlich aufgereihten Schuhe. Nie hätte sie gedacht, dass Marten auf so viel Ordnung stehen würde. Sie wirft noch einen Blick in den Spiegel, richtet ihren Pferdeschwanz.
"Ja, wir wissen, dass du gut aussiehst, komm endlich!", erklingt Martens Stimme.
Ann folgt seinem Ruf ins Wohnzimmer, bleibt wie angewurzelt stehen.
"Okay, also dein Wohnzimmer ist größer als meine Wohnung, noch dazu dieser unglaublich stylische Übergang vom Wohnbereich zur Küche", sagt Ann beeindruckt. "Es ist offiziell, ich hasse dich."
Lachend dreht sie sich im Kreis, nimmt alles in sich auf. Überall sieht man naturbelassene Holzbalken in einem dunklen Ton, die Wände sind, ganz anders als der Shop, alle reinweiß gestrichen. Die hellgraue Küche weckt größten Neid in der Hobbybäckerin.
"Wie ist der Herd?", will sie wissen, als Marten sie an der Hand nimmt und zu seinem grauen Ecksofa zieht. Ann schnappt sich eines der weißen Dekokissen, legt es sich vor den Bauch, kann den Blick nicht von der Küche wenden.
"Noch nie benutzt", gibt Marten zu und zuckt die Schultern. "Aber tu dir keinen Zwang an, koche und backe mir etwas, wenn dich meine Küche so anmacht."
Grinsend lehnt er sich zurück und öffnet die zwei Bierflaschen, die er aus der Küche geholt hat. "Vorzugsweise leicht bekleidet."
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