23. Kapitel
„Los, raus hier! Beeilt euch!"
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, schnappe mir Millie und rüttle an Ty, um ihn zu wecken. „Steh endlich auf, Ty!", knurre ich, als er nicht reagiert. „Wir müssen hier weg!"
„Weg? Wie denn? Wir sind doch eingesperrt", murmelt er verschlafen und will sich gleich wieder umdrehen. Nicht mit mir!
Also beginne ich, den Jungen durchzukitzeln. Seine Schwachstellen kenne ich nur zu gut.
„Was ... hihi ... soll das?! Ich ... hihi ..."
Nun kringelt er sich vor Lachen, steht aber immer noch nicht auf. So'n Mist!
Sonst freue ich mich immer, wenn ich Ty mit meiner Kitzelei aus der Reserve locken kann – für sein Alter ist er verdammt ernst. Jetzt könnte ich mir dafür in den Hintern beißen. Wir sind viel zu laut!
Hektisch sehe ich mich um, kann aber nach wie vor nicht viel erkennen. Es ist total finster hier. Hoffentlich finden wir bei der Dunkelheit den Ausgang – und das auch noch so schnell und leise wie möglich.
„Jetzt komm endlich! Der Käfig ist offen. Wir müssen los!", raune ich Ty zu, nachdem ich meine Hand weggezogen habe.
Sofort verstummt sein Gelächter. „Wir sind frei?"
„Ja, verdammt! Los jetzt!"
Während sich Ty an meinem Shirt festklammert, greife ich nach Alex' Hand und umklammere Millie mit meinem anderen Arm noch fester. Wir dürfen uns nicht verlieren! Dann geht's los. Raus aus dem Käfig, nach rechts und ab zu den rettenden Glastüren. Zum Glück führt uns Alex. Obwohl ich mir vorhin alles gut angeschaut habe, würde ich den Weg im Dunkeln wohl nicht finden, ohne irgendwo gegen zu laufen.
Als wir die automatischen Türen erreichen, will ich erleichtert aufatmen, aber das vergeht mir im letzten Moment. Denn genau da wartet das erste Problem auf uns. Breitbeinig und breit grinsend steht der Scheißkerl Andras vor uns – ja, den Namen hab ich mir gemerkt – und versperrt den Weg. Sein bulliger Körper ist im Mondlicht unverkennbar. Shit!
„Ah, wie erwartet. Mein Bruderherz hat eindeutig 'ne Schwäche für dich, Püppchen. Ich wusste doch, dass er was plant. Wie immer bin ich ihm drei Schritte voraus." Dann verschwindet sein überhebliches Grinsen und seine Augen leuchten rot auf. Aber ... wie? Kann er diesen Monsterblick etwa an- und ausschalten?! „Ihr geht sofort zurück in den Käfig! Vater verlässt sich auf mich, das wirst du mir nicht kaputtmachen!"
„Auf dich? Dass ich nicht lache! Wenn er sich auf jemanden verlässt, dann auf seinen Lieblingssohn Luzius oder notfalls noch auf Zekesch, wenn er die Moral der Menschen erschüttern will. Und sollten die mal beschäftigt sein, gibt es immer noch Dagon. Wo steckt der überhaupt? Alle drei sind Vater viel lieber als du und ich", kommt es provokant von Alex, der sich schützend vor uns geschoben hat. Ich bin mir nur nicht sicher, ob es klug ist, diesen Andras zu reizen ...
„Verschwindet, wenn er auf mich losgeht. Er kann sich nie lange beherrschen", flüstert Alex in mein Ohr, während sein Bruder vor Wut schnaubt und uns irgendwas über seine Erfolge und Leistungen vorbetet. „Rennt los, sobald ihr könnt! Sucht euch Rosen, viele Rosen. Hier. Das ist eine Karte mit jedem Ort, der dafür infrage kommt. Wechselt regelmäßig das Versteck, bis ihr im Safehouse seid. Und sprüht euch damit ein." Zusammen mit der Karte drückt er mir ein kleines Fläschchen in die Hand. „Reines Rosen-Hydrolat, selbst hergestellt. Ich hoffe, es verwirrt sie ebenfalls."
Lauter sagt er zu seinem Bruder: „Du bist ein Nichts gegen die anderen und das weißt du auch. Ich schätze, du bist nicht mal besser als ein Halbblut wie ich."
Warum tut er das? Warum stellt er sich für uns in die Schusslinie?
Und wieso diese Karte, dieses Rosen-Sprühding? „Hast du das für uns gemacht?" Ich muss es wissen.
„Nein. Ehrlich gesagt habe ich beides zu meinem Schutz angefertigt. Bei dieser Familie weiß man ja nie ..."
Oh, das macht Sinn. Und ... vielleicht hilft uns Alex ja genau deswegen. Weil er sich mit mir und den Kids identifizieren kann. Nachdenklich mustere ich ihn. Leider hab ich keine Zeit mehr, der Sache auf den Grund zu gehen. Denn Andras greift an.
Er fährt seine Krallen aus und bohrt sie tief in Alex' Fleisch. Verdammt! Wieso hat dieser Hunde-Dämon auf einmal Krallen wie 'ne Raubkatze?! Nun passt sein Spitzname ja gar nicht mehr!
Nein, stopp! Was soll der Schwachsinn? Alex wird von seinem eigenen Bruder zerfleischt und ich denke ernsthaft über Spitznamen nach?!
Verzweifelt sehe ich zu meinem Retter und kann nichts weiter tun, als zu hoffen. Ihm darf einfach nichts passieren. Wir brauchen ihn doch! Ich brauche ihn ...
„Los jetzt! Verschwindet endlich! Ich komme nach, sobald ich kann", brüllt er mir zu.
Nein, verdammt! Ich will nicht ohne ihn gehen!
„Tess? Was ist denn los?", fragt Millie schläfrig und da macht es Klick. Ich muss verschwinden. Auf der Stelle! Für die Kids.
Also schnappe ich mir Tys Hand – jetzt hab ich ja wieder eine frei – und drücke Millie so fest wie möglich an mich. Dann rennen wir los. Ab durch die Tür, die sich für meinen Geschmack viel zu langsam öffnet, und ziellos um die nächste Ecke. Zuerst müssen wir Abstand zwischen uns und die Dämonen bringen. Wo's danach hingeht, entscheiden wir später.
„Ty", rufe ich. „Nimm das Fläschchen und sprüh uns ein. Wir können jetzt jeden Schutz gebrauchen!"
Zum Glück stellt er keine Fragen und tut's einfach.
Millie hält sich mit ihrem Protest leider nicht zurück. Ihr hohes Kinderstimmchen brüllt mich aufgebracht an. „Aber Alex ist in Gefahr! Wir können doch nicht einfach weglaufen, Tess! Freunde lässt man nicht im Stich!"
Als ob ich das nicht wüsste! Aber was soll ich denn machen? Wir rennen schon 'ne ganze Weile und ich höre Andras immer noch wütend hinter uns herschreien und nach Papi rufen. Spätestens wenn der auf den Lärm reagiert, wimmelt's hier nur so von Dämonen. Und die wollen uns sowieso schon töten!
„Wir können gerade nichts für ihn tun, Liebling. Aber Alex ist stark, er ist Polizist. Er wird das überstehen und dann nachkommen. Das weiß ich!" Ich hoffe, ich klinge überzeugt genug, um ihr Mut zu machen.
Denn wenn ich ehrlich bin, weiß ich, dass Alex keine Chance hat – nicht gegen seine Familie und die Säbel-Dämonen. Dabei tut er das nur für uns! Für die Kids und mich hat er sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Und was hab ich getan, um ihn davon abzuhalten? Gar nichts!
Tränen laufen mir übers Gesicht und ich kann kaum noch sehen, wo ich hinrenne. Das ist doch total beschissen! Was haben diese Monster hier überhaupt zu suchen?! Und warum hat sie keiner aufgehalten? Die Engel hätten die Apokalypse doch stoppen müssen!
„Nicht weinen, Tess. Ich glaub dir ja. Er wird es schaffen und dann leben wir zusammen im Waldhaus. Als glückliche Familie." Millie klingt so zuversichtlich. Gut für sie. Ich hoffe, ich muss ihr die Hoffnung nicht allzu bald nehmen ...
Um mich abzulenken, drehe ich mich zu Ty. „Kannst du Karten lesen?" Ich will nicht anhalten, um nach dem nächsten Rosen-Versteck zu suchen. Aber ohne Pause schaffen wir's nie bis ins Safehouse, der Weg ist zu weit. Wenn wir Alex' Plan nicht hätten, wär'n wir jetzt echt aufgeschmissen!
„Na klar, Geo ist mein Lieblingsfach!" Er klingt so stolz, dass tatsächlich ein kleines Lächeln auf meinem Gesicht erscheint. Als wir uns kennengelernt haben, hätte er sowas nie gesagt! Nun liebt er die Schule und Lernen allgemein. Ich hoffe, das lässt er sich von niemandem nehmen – nicht mal von den Dämonen. „Gib her, dann sage ich dir, wo's langgeht."
Ich wünschte, das wär so einfach ... Ich seufze innerlich. Na ja, der Weg zum nächsten Rosen-Paradies ist wohl ein Anfang.
Zum Glück werden die Schreie hinter uns immer leiser, während ich Tys Anweisungen folge. Das heißt aber nicht, dass wir in Sicherheit sind! Aufmerksam mustere ich die Umgebung und hoffe inständig, dass nicht plötzlich ein Dämon vor uns auftaucht. Mit ihrer blöden Umweg-Teleportation ist das nur 'ne Frage der Zeit, fürchte ich.
Doch nichts passiert. Als wir laufen und laufen und zwischen den Häusern der Stadt verschwinden, versperrt uns kein Dämon den Weg. Wirkt Alex' Spray wirklich so gut? Ich hoffe es!
Nur ihn konnten wir damit nicht retten.
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