12. Kapitel
Letztendlich tragen Ty und ich Millie abwechselnd. Der Weg ist weit und mit den Kids kommen wir viel langsamer voran. In meinem Kopf rattert's die ganze Zeit – liegt vermutlich daran, dass keiner von uns ein Wort sagt. Wir wollen nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen.
Als endlich der Wald vor uns auftaucht, bin ich zum ersten Mal in meinem Leben froh darüber. Wir haben's fast geschafft! Doch als mich kurze Zeit später die riesigen Stämme umzingeln, sieht's schon anders aus. Ich hasse es, mich so klein und bedrängt zu fühlen! Wieso macht das Alex und den Kids denn nichts aus?
Ähm, na ja. Vermutlich weil du völlig irrational bist und sie nicht?, antwortet mein Hirngespinst.
Irrational?! Was ist denn bitte irrational daran, sich neben Pflanzen-Riesen wie ein machtloser Zwerg zu fühlen?
Du hast echt Probleme, ist alles, was ich zu hören kriege. Denn jetzt bin ich wieder dran mit Tragen. Und das ist Grund genug für mein Hirngespinst, endlich die Klappe zu halten. Die Sicherheit der Kids geht immer vor, da kann ich kein unsinniges Geplapper gebrauchen.
„Tess?", fragt Millie nach ein paar Metern und kuschelt sich noch enger an mich.
„Ja, Liebes?"
„Warum sind plötzlich alle so böse und tun sich gegenseitig weh?"
Das ist 'ne verdammt gute Frage! Ich kapier ja selbst nicht, wie alles dermaßen schnell aus dem Ruder laufen konnte. Klar, die Dämonen kontrollieren die Nahrung und wer weiß, was sonst noch alles, aber ... ist das denn wirklich ein Grund für so viel Gewalt? Gibt's überhaupt keinen Widerstand? Keine Gruppierungen, die sich gegen die Grausamkeit wehren?
„Tess?"
Ups. Ich hab ja noch gar nicht geantwortet. Aber ... ich weiß auch nicht, was ich sagen soll. Wie soll ich dem Kind etwas erklären, das ich nicht verstehe.
Weil ich trotzdem reagieren muss, versuch ich's einfach mit der Wahrheit. „Das kann ich dir nicht sagen, Millie. Keine Ahnung, was mit den Leuten los ist. Aber wir halten zusammen, oder? Ty, du und ich – und Alex. Wir sind nicht böse. Und wir tun uns auch nicht gegenseitig weh. Das versprech ich dir."
Ich würde ihr gern zuversichtlich in die Augen schauen, doch sie hat ihr Köpfchen in meiner Halsbeuge vergraben und macht keine Anstalten, das zu ändern. Also streiche ich der Kleinen nur beruhigend über den Kopf und hoffe, dass es für den Moment reicht.
Dann spüre ich, wie sie langsam nickt. Bei ihren nächsten Worten klingt Millies Stimme schon viel weniger ängstlich. Ich könnte schwören, dass sie sogar ein kleines bisschen lächelt. „Ja, Ty hat die ganze Zeit auf mich aufgepasst. Er ist so lieb wie immer."
„Na siehst du. Und jetzt sind wir Erwachsenen auch noch da, um dich zu beschützen." Mein Blick wandert zu Alex, der ein paar Schritte vor mir neben Ty herläuft und ihn immer wieder verstohlen mustert. Er passt auf den Jungen auf. Gut, dann kann ich mich voll und ganz Millie widmen.
„Aber er macht mir Angst", sagt sie da und ich runzle die Stirn. Was? Warum denn das?
Alex ist auf Abstand geblieben, hat in ihrer Gegenwart mit ruhiger Stimme gesprochen und keine hektischen Bewegungen gemacht. Normalerweise reicht das, um Millies Ängste in Schach zu halten. Bei Männern ist sie zwar immer vorsichtig, doch was ihr an Alex Sorgen macht, versteh ich nicht. Aber statt mir weiter den Kopf zu zerbrechen, frage ich einfach nach.
„Millie-Maus. Siehst du seine Uniform?" Die Kleine nickt zögerlich. „Alex ist Polizist. Es ist seine Aufgabe, liebe Menschen zu beschützen. Warum hast du denn Angst vor ihm?"
„Ich weiß nicht", antwortet sie kleinlaut. „Tut mir leid."
Es bricht mir jedes Mal das Herz, wenn sie sich für Dinge entschuldigt, für die sie gar nichts kann. Gerade seh ich ihren Gesichtsausdruck nicht, aber denn kenne ich eh viel zu gut. Diese tiefsitzende Angst vor Bestrafung geht einfach nicht weg. Ihr Arschloch von Vater hat die Kleine für's Leben gezeichnet – körperlich und seelisch. Und die Zeit, die er dafür im Knast absitzen muss, ist ein Witz!
Sanft streichle ich Millies Kopf und fahre ihr immer wieder durchs seidig-weiche Kinderhaar. Es ist völlig ungewohnt, ihre hellbraune Mähne mal offen zu sehen. Sonst bändigt sie die immer mit zwei Zöpfen – einer hinter jedem Ohr. Das sieht unglaublich niedlich aus.
Doch heute gibt's keine Zöpfe, nur zerzauste Strähnen. Diese dämlichen Dämonen haben ihr auch noch das letzte bisschen Alltagsroutine genommen.
„Du weißt, dass es okay ist, was du fühlst, oder?" Die Frage wiederhole ich fast täglich wie ein Mantra. Noch hat sie's nicht verinnerlicht.
„Ja, ich weiß", kommt's leise zurück. Auch das gehört zu unserem Ritual. Doch die Worte bedeuten nicht viel. Etwas zu wissen und es tatsächlich zu fühlen, sind leider zwei Paar Schuhe ...
„Du musst nicht mit Alex allein sein, wenn du nicht willst", versuche ich weiter, ihr die Angst zu nehmen. „Aber er hat mir schon oft geholfen und mich sogar vor Dämonen beschützt. Und er ist extra mit mir in die Stadt gegangen, um nach euch zu suchen. Alex ist einer von den Guten." Hoffe ich jedenfalls. Ich könnte's mir nie verzeihen, wenn den Kids was zustößt, nur weil ich dem Falschen vertraut habe.
Millie reagiert nicht sofort, doch ich weiß, dass sie aufmerksam zugehört hat. Das tut sie immer. Jetzt braucht sie ein bisschen Zeit, um über die Worte nachzudenken.
„Okay", entscheidet sie dann. „Ich bin lieb zu ihm, versprochen." Erleichtert atme ich auf. Wieder 'ne Hürde gemeistert.
Weil ich so stolz auf sie bin, hauche ich der Kleinen einen Kuss auf's Haar. „Ich hab dich lieb, Millie-Maus."
„Und ich dich auch." Ich höre das Lächeln in ihrer Stimme, das mich von innen wärmt. Zusammen können wir alles schaffen. Das weiß ich.
***
Die Kids staunen nicht schlecht, als das Haus in Sichtweite kommt. Ich kann sie verstehen, ich seh's ja selbst zum ersten Mal.
Natürlich bin ich vorhin schon hier gewesen. Aber da hab ich mir solche Sorgen gemacht, dass ich keinen Kopf für meine Umwelt hatte. Und als wir gestern angekommen sind ... tja, da war ich ohnmächtig. Jetzt mustere ich alles umso genauer.
Von außen wirkt das Versteck völlig unscheinbar, fast wie 'ne alte Jagdhütte. Das irritiert mich irgendwie. Von innen habe ich Steinwände gesehen, ganz sicher! Doch die scheinen mit Brettern verkleidet zu sein. Wieso sollte man sowas tun? Dass sich im Laufe der Zeit Moos und anderes Grünzeug auf dem Holz ausgebreitet hat, ist klar. Aber warum hat das niemand entfernt?
Mein skeptischer Blick wandert zu Alex und nun bin ich es, die Zweifel bekommt. Hier läuft doch irgendwas, von dem ich keine Ahnung habe.
„Was ist das eigentlich für'n Haus?", frage ich also und achte auf jede noch so kleine Reaktion. „Warum sieht es von außen so ... verlassen aus?"
Alex zuckt nur die Schultern und antwortet – wie könnte es anders sein – mal wieder kurz angebunden: „Es ist ein Safehouse. Die müssen unscheinbar sein." Aha.
Ich meine, klar. Alex ist Polizist. Aber ... warum sollte ein Safehouse 'nen Rosen-Raum haben? Und der Salon? Der ist doch piekfein! Wozu denn bei 'nem Unterschlupf, den man nur im Notfall braucht!? Und ... Alex hat doch auch was von 'nem Garten erzählt, in dem er irgendwelches Zeug anbaut, oder? Das passt doch alles nicht zusammen!
Leider kann ich nicht weiter darüber nachdenken, weil er inzwischen aufgeschlossen hat. „Hereinspaziert in die gute Hütte! Fühlt euch wie zu Hause, Kinder." Mit einladender Geste lässt er Ty und mir lächelnd den Vortritt.
Doppel-Aha. Warum ist er auf einmal so happy? Langsam frage ich mich echt, ob es 'ne gute Idee war, die Kids herzubringen. Doch ich hatte wohl kaum 'ne Wahl, oder? Außerdem stimmt es ja, dass mich Alex schon ein paarmal gerettet hat. Das sollte ich nicht vergessen – plötzliche Skepsis hin oder her!
Also schiebe ich die Zweifel beiseite und nehme mir vor, Alex nachher auf die Ungereimtheiten anzusprechen. Jetzt brauchen die Kids aber erst mal was zu essen und ausreichend Wasser. Sie sind bestimmt schon am Verhungern und völlig dehydriert. Ich darf gar nicht dran denken, was mit ihnen passiert wäre, wenn wir ...
Nein! Kein Kopfkino, verdammt! Doch die Bilder sind schon da. Ich kann Millie gerade noch an Ty übergeben, bevor ich schwer atmend gegen die nächste Wand taumle und die Augen schließe. Das ist nicht passiert! Wir waren rechtzeitig da. Ich atme ein ... und aus. Eiiin ... und auuus. Dann geht's wieder.
Ty bekommt von meinem Zusammenbruch zum Glück nichts mit. Er läuft staunend mit Millie auf dem Arm hinter Alex her und kann gar nicht fassen, wie riesig die Hütte von innen ist. Ein weiterer Punkt für meine Liste!
Der Junge würde es sich natürlich am liebsten gleich hier im Salon bequem machen, aber Alex lotst ihn weiter. Und das lohnt sich. Denn schon im nächsten Moment schallt ein beeindrucktes „Wow! Wie cool ist das denn?" durchs ganze Haus. Ty ist scheinbar genauso überwältigt vom Rosen-Zimmer wie ich. Und das zaubert mir sogar ein Lächeln ins Gesicht.
Also reiße ich mich zusammen und gehe in die Küche, um so viele Lebensmittel zu holen, wie ich tragen kann. Das sollte für den Moment genügen. Nachher kann ich Alex ja in den Keller schicken, um für Nachschub zu sorgen. Ich weiß, wie viel die beiden essen. Das Zeug hier wird ratzfatz verputzt sein.
Als Alex mit 'nem Wasserkrug und vier Gläsern zurückkommt, klemmen auch flauschige Decken unter seinem Arm, auf denen wir's uns bequem machen können. Wo er die auf einmal hergezaubert hat? Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Denn bei all den schönen Rosen um uns herum fühlt sich das hier fast wie'n Picknick im Park an. Aber eben nur fast ...
Da ist mein Lieblingsduft, der mich wie immer einlullt. Doch dieses Mal bin ich nicht allein. Dieses Mal vergesse ich nicht alles um mich herum. Es gibt einfach zu viele Ungereimtheiten.
Als ich bemerke, wie begeistert die Kids von diesem Ort sind, schleicht sich trotzdem ein Lächeln auf mein Gesicht. Sie nach all dem so fröhlich und entspannt zu sehen, macht mich unglaublich glücklich.
Ich bin ihre Bezugsperson im Zentrum. Wenn sie's zu Hause nicht mehr aushalten, kommen sie zu mir oder rufen an. Dann ist es meine Aufgabe, sie zu trösten, ihnen wieder Hoffnung und Zuversicht zu geben. Bei mir sollen sie sich sicher und geborgen fühlen. Das gilt natürlich für alle meine Schützlinge, aber die beiden hier haben am meisten durchgemacht. Ihnen ein paar sorglose Momente zu schenken, ist das Mindeste, was ich tun kann. Und irgendwie ist es auch Balsam für meine Seele.
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