9 | Hicks
Drei Jahre später
Ihm das Fliegen beizubringen war schwieriger, als gegen den Roten Tod zu kämpfen. Er hörte mir nicht zu, verstand nicht was ich meinte und das Schlimmste war, dass er es auf seine Art und Weise versuchte.
»Dagur, so wird das nichts«, sagte ich zum gefühlt hundertsten Mal. Der grüne Gronckel lief erschöpft hinter mich, um Abstand zwischen sich und dem Mann zu bringen, der ihm die ganze Zeit hinterherrannte. Dagur blieb aus der Puste vor mir stehen. »Ich weiß, dass du es nicht anders kennst, aber wenn du so weiter machst, wirst du niemals auf einem Drachen reiten.«
Er schaute mir in die Augen, während er wieder zu Atem kam. Dann atmete er tief ein und aus. Das Zeichen, dass er aufgab. »Na gut, Hicks, versuchen wir es auf deine Weise.«
Ich ließ den beiden eine kleine Pause, bevor ich Dagur erklärte, dass er nur seine Hand ausstrecken und warten musste.
»Worauf warten?«, fragte er.
»Darauf, dass der Drache dir zeigt, dass er dir vertraut.«
»Und wie macht er das? Beißt er mir was ab, so wie deiner dein Bein?«
Ich musste alle Kräfte meines Körpers einsetzen, um nicht mit den Augen zu rollen und ihm eine zu scheuern. Er wusste genau, wie ich mein Bein verloren hatte. Er machte nur gerne Späße darüber.
»Das wirst du dann sehen«, war meine Antwort.
Ich bereitete den Gronckel mental auf den nächsten Schritt vor. Er schien zuerst abgeneigt, aber ich versuchte ihm so gut wie möglich zu erklären, dass Dagur gar nicht so übel war. Er ließ sich dann auf den Versuch ein. Dagur stellte sich hin, wie ich es ihm gezeigt hatte und ich trat ein paar Schritte zurück. Der Gronckel beschnupperte seine Hand und ich dachte schon, dass er gleich flüchtet, aber er legte am Ende seine Schnauze gegen Dagurs Handfläche.
»Wir sind hier schon seit einer Stunde dran und das hat ungefähr zwei Minuten gedauert«, murmelte ich.
»Und jetzt?«, fragte Dagur, der meinen Kommentar anscheinend nicht mitbekommen hatte.
»Ihr müsst eine Verbindung zueinander aufbauen, eine Freundschaft binden. Das geht nicht sofort, das musst du dir immer im Hinterkopf behalten, aber mit der Zeit merkst du, dass sie da ist. Vielleicht lässt er dich jetzt schon fliegen.«
»Denkst du?«, fragte er, während er den Gronckel streichelte, was ihm zu gefallen schien.
»Müssen wir ausprobieren.«
Ich half ihm mit den ersten Schritten des Vertrauengewinnens. Dagur war ungeduldig und hatte immer noch den leichten Drang nach Dominanz, aber ich denke er begriff langsam, dass das hier kein einfacher Job war. Immerhin saß er ein wenig später auf dem Gronckel.
»Fass niemals die Flügel an, während ihr fliegt, verstanden?«, sagte ich nachgiebig.
»Verstanden.«
»Wirklich?«, fragte ich zur Sicherheit nochmal nach. Ich kannte Dagur zwar seitdem ich klein war, aber erst seit drei Jahren war er öfter in mein Leben getreten. Damals war er ein leidenschaftlichlicher Verrückter, darum sein Titel der Durchgeknallte, und Drachenverfolger, aber vor kurzem, nachdem er einen Monat lang alleine auf einer Insel verbracht hat, ist ihm klar geworden, dass Drachen viel mehr als wilde Tiere waren, die man töten musste. Deshalb gab ich ihm jetzt Unterricht im Drachenzähmen und Trainieren.
»Ja, Hicks«, sagte er genervt mit einem unterstreichenden Augenrollen. »Ich habe verstanden, dass man während des Fluges nicht die Flügel des Drachen anfassen darf.«
Ich musste zugeben, das war das Schlauste, was ich ihn je habe sagen hören. Mit einem letzten Seufzer, stieg ich auf Ohnezahn und flog los. Dagur und sein Gronckel folgten mir. Es gab ein paar Startschwierigkeiten, da Dagur sich zu sehr festkrallte, aber nachdem ich ihm versichert habe, dass nichts passiert wenn er einfach nur dasitzt, verbesserte sich der Flug. Dafür, dass er das erste Mal auf einem Drachen saß, machte er seine Sache sehr gut.
»Weißt du, Hicks«, sagte er nach einer Weile. »Ich habe zwar rumgenörgelt, weil du mir einen 08/15 Drachen gegeben hast, aber er ist doch ganz in Ordnung. Ich mag ihn.« Er tätschelte den Gronckel liebevoll.
Diese kleine Geste ließ mich schmunzeln. Für Jahre habe ich ihn nicht sehen wollen, weil er meistens versucht hatte mich umzubringen und generell brutal war. Ihn auf einem Drachen lächelnd sitzen zu sehen war ein Beweis dafür, dass er nicht mehr der alte war.
»Bereit für einen kleinen Parcour?«, fragte ich grinsend.
Dagurs Anweisungen wurden mit der Zeit immer weniger, als er merkte, dass der Drache genauso wenig gegen den Baum fliegen wollte wie er. Nachdem wir den Parcour beendet hatten und ich ihn schon für seine gute Arbeit loben wollte, tat er das, wovor ich ihn gewarnt hatte: Er fasste den Flügel an. Der Gronckel fiel sofort seitlich rechts runter.
»Dagur!«, rief ich und sah ihn sauer an, als er wieder neben mir war.
»Entschuldige! Ich hab's kurz vergessen. Tut mir leid!«
Ich seufzte. Wie leicht ihm die Entschuldigungen mittlerweile über die Lippen gingen. Es war faszinierend, wie er sich verändert hatte. Diese Zeit auf der Insel hatte ihm wirklich gut getan. Anstatt mit den Drachenjägern zu arbeiten, arbeitete er von nun an mit uns zusammen. Seine Schwester, Heidrun, die ich vor ein paar Jahren kennengelernt habe, hatte ihn wegen seiner alten Beziehungen noch immer nicht verziehen. Auf meinen Vorschlag hin, dass sie miteinander reden sollten, hatte sie nur gesagt, dass sie darüber nachdenken würde. Dagur fragte fast täglich nach Neuigkeiten, die ich ihm nicht geben konnte. Ein wenig tat es mir schon im Herzen weh, aber es war Heidruns Entscheidung und ich konnte sie nicht zwingen. Dagur würde nur gerne wieder an der Seite seiner Schwester sein.
Als wir zurück zum Dorf der Amorlas flogen, lächelte er. Ich wusste nicht, was in seinem Kopf vorging, aber ich denke, dass er glaubte, Heidrun würde ihn jetzt akzeptieren. Er war kein Drachentöter mehr, er hatte seine Sichtweise geändert und befreundete Drachen nun. Ich konnte seine Hoffnung verstehen, nur ob Heidrun das auch konnte, war eine andere Sache.
Wir landeten vor der großen Halle. Dagur und Heidrun lebten zurzeit beide bei den Amorlas, aber Dagur dachte bereits darüber nach, zur Berserkerinsel zurückzukehren, um dort das Stammesoberhaupt zu werden und die Lebensweise der Berserker zu verändern. Als wir damals herausgefunden haben, dass Heidrun seine Schwester war, wurde es ziemlich kompliziert. Nach und nach kam die Wahrheit ans Licht, aber es standen immer noch Fragen offen, die er beantworten möchte.
Meine Mutter sprach mit Alfarin, während Dirfinia und Heidrun beim Eintopfessen miteinander plauderten. Als Heidrum uns sah, wollte sie gehen, doch Dagur hielt sie auf.
»Warte, bitte«, sagte er im ruhigen Ton, was sie in ihrer Bewegung inne halten ließ.
»Warum?«, sagte sie und ich glaube, das war das erste, was sie seit Monaten zu ihm gesagt hat.
Er schaute die anderen am Tisch an. »Ich muss euch allen etwas erzählen.«
Ich hatte auch keine Ahnung, worüber er reden wollte, weswegen ich mich einfach neben meine Mutter setzte und ihn wartend ansah. Die anderen verstummten, Heidrun setzte sich wieder.
Er holte tief Luft. »Ich weiß, dass ihr mich sehr wahrscheinlich wegen den Dingen, die ich in der Vergangenheit getan habe, hasst. Als ich alleine auf dieser Insel war und sie erforschte, fand ich eine Gruppe von Drachen. Ich dachte an euren Stamm, den Amorlas, und wie ihr mit den Drachen zusammen lebt. Ich fragte mich, wie ihr das geschafft habt. Mein Vater hatte mir immer die schlechten Seiten von den Drachen gezeigt, die, weshalb man sie töten sollte. Auf der Insel, beobachtete ich die Gruppe eine Weile. Wie sie fraßen, sich gegenseitig anstupsten, weil sie spielen wollten oder andere Dinge taten. Damit erkannte ich, dass eure Art von Leben viel schöner ist, friedlicher. Ich weiß, ich habe vieles falsch gemacht und dass es auch teilweise unverzeihliche Dinge waren. Dennoch möchte ich mich hiermit aufrichtig dafür entschuldigen.«
Er drehte sich zu Heidrun. »Ich habe unseren Vater nicht ermordet. Er war auf einmal verschwunden. Die Wachen suchten die ganze Insel ab, das umgebene Gewässer, die Höhlen, fanden ihn aber nie. Ich befahl ihnen, dass sie niemandem davon erzählen sollten. Ich habe die Lüge des Mordes erzählt, damit ich Respekt von den Berserkern bekam, um das Oberhaupt zu sein. Ich dachte, mit Angst und Schrecken kann man die Leute besser in Schach halten, denn bei Vater war es oft so, dass es Aufstände gab durch seine ruhige Regierung. Am Ende war ich der Verbannte.
An dem Tag, an dem er verschwand, da warst du noch klein. Meine nervige kleine Schwester, um mein damaliges Ich zu zitieren. Ich konnte dich nicht allein großziehen, das wusste ich. Deshalb übergab ich dich einer Familie, von denen ich wusste, dass sie sich schon immer ein Kind gewünscht hatten. Ich sagte ihnen, dass ich sie zu einer Insel bringen lassen würde, wo ihr wohnen könntet. Du solltest nicht bei mir sein, du solltest in Sicherheit sein, mit Eltern, die dich liebten. Ich bereue es nicht, dich weggeschickt zu haben, nur, dass ich nie nach dir gesehen habe. Das tut mir leid.«
Dirfinia hatte Tränen in den Augen, die sie heimlich wegwischte. Meine Mutter und ich sahen uns an. Wir dachten dasselbe: Wir haben meinen Vater ebenfalls verlassen, so wie Dagurs Vater die beiden. Wir waren nie wieder zurückgekehrt. Wir waren ohne ein Lebe wohl gegangen.
Heidrun stand auf und stellte sich vor Dagur. Zuerst dachte ich, sie würde ihn über den Tisch flippen, doch dann drückte sie ihn an sich. Dagur zögerte keine Sekunde und schloss sie ebenfalls in seine Arme. Es war ein komisches Gefühl, die beiden dabei anzusehen. Als würden wir einen privaten Moment infiltrieren.
Sie ließ ihn los und lächelte ihn zaghaft an. »Ich sollte dir wohl erzählen, wie es danach weiterging.« Sie steckte ihren Arm durch seinen und sie gingen zusammen aus der großen Halle.
»Das war ...«, sagte Alfarin nach dem richtigen Wort suchend, »... überraschend.«
»Allerdings«, sagte meine Mutter. »Ich kannte Oswald. Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, dass er seine Pflichten verlassen und einfach so verschwinden würde.«
»Manchmal täuscht man sich in einigen Menschen«, sagte Dirfinia.
»Entschuldigt mich«, sagte ich und lief schnellen Schrittes aus der großen Halle.
Sie hatte recht, in manchen Menschen täuschte man sich. In mir zum Beispiel. Ich war genauso geflohen, hatte meinen Pflichten abgetan und bin ohne mich zu verabschieden auf und davon. Mein Vater suchte nach mir, das hatte Alfarin uns erzählt. An einem Tag vor fast zwei Jahren war er mit einem Boot und ein paar der Berkianer hier angekommen. Er war zuerst davon überzeugt, dass ich hier war, weil die Amorlas mit den Drachen lebten. Alfarin musste ihm erst Beweise liefern, dass sie schon lange vor meinem Verschwinden so gelebt hatten, bevor er sich beruhigt hatte.
»Er klang verzweifelt«, hatte Alfarin mir gesagt. »Das Finale war ihm bereits egal gewesen, das hatte er komplett über Bord geworfen. Er wollte nur noch dich bei sich wissen.«
»Hast du ihm etwas erzählt?«, hatte ich gefragt.
»Nein. Ich habe ihm gesagt, dass ich dich nie gesehen habe.«
Es hatte mir im Herzen wehgetan, das zu hören, dennoch blieb ich. Berk war immer noch gleich. Der einzige Grund, weshalb das Drachentöten nicht weiterging, war, dass mein Vater mit der Suche nach mir beschäftigt war. Wer also konnte mir versichern, dass es auch danach noch so war?
Ich schaute hinaus aufs Meer. Auf Berk hatte es eine Stelle an den Klippen gegeben, wo ich oft gesessen und den Sonnenuntergang beobachtet hatte. Ich vermisste den Ausblick. Hier war der Sonnenuntergang auch wunderschön, aber er war anders. Er gab mir nicht dasselbe Gefühl.
Fast hätte ich gelacht. Seit drei Jahren lebte ich bei meiner Mutter, so vieles hatte sich seitdem gebessert, und jetzt bekam ich Heimweh, weil der Sonnenuntergang mir hier nicht dasselbe Gefühl gab, wie auf Berk. Ich fragte mich, warum und blieb so lange sitzen, bis der Himmel dunkelblau war.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro