10 | Astrid
»Vergiss es!«, schrie ich meinem Vater ins Gesicht.
Seine Wangen hatten sich bereits vor Wut rot gefärbt. »Du tust, was ich dir sage, junge Dame!«
Ich lachte auf. »Ganz bestimmt nicht! Ich bin fast neunzehn, du kannst mir gar nichts befehlen.«
»Ich weiß, wie alt du bist, aber so lange du unter meinem Dach wohnst, tust du, was ich dir sage!«
»Nur, weil ich hier wohne, muss ich nicht bei allem nach deiner Pfeife tanzen!«
Mittlerweile sah sein Gesicht aus wie eine reife Tomate. »Du bist im richtigen Alter, Astrid. Wenn du so weiter machst mit deinem Abwehrmechanismus, wirst du niemals heiraten!«
»Ich lass mir aber nicht meinen Ehemann aussuchen! Wenn ich eines Tages heiraten sollte, dann einen Mann, den ich liebe!«
»Liebe ist ein Privileg und zweitranging.« Er spuckte mir diese Worte förmlich ins Gesicht.
Ich sah ihn ungläubig an. »Ist das dein ernst?«
»Warum willst du ihn nicht? Er ist der begehrteste Junggeselle des Dorfes und hat sogar ein Auge auf dich geworfen.«
»Hörst du mir eigentlich zu? Ich will aus Liebe heiraten und nicht, weil irgendein Typ ein Auge auf mich geworfen hat und deshalb denkt, dass er ein Recht auf mich hat!«, schrie ich ihm entgegen und stürmte aus dem Haus.
»Astrid!«, rief er mir hinterher, aber ich ignorierte ihn. Ich ignorierte auch die Blicke der anderen Bewohner. Sollten sie sich die Mäuler zerreißen, es war mir egal. Nie und nimmer würde ich auf meinen Vater hören. Was dachte er sich dabei, mich jemandem zu versprechen? Hatte ich kein Mitspracherecht mehr? Zur Hel mit ihm!
Haudrauf hielt mich an der Schmiede auf. »Astrid, was ist los?« Grobian stoppte bei dessen Worten sein Einhämmern auf ein halb fertiges Schwert und kam an das Fenster.
Ich lief sauer und mit geballenen Fäusten hin und her, bevor ich sprach. »Mein Vater hat mich praktisch verlobt.«
Beide Männer hoben ihre Augenbrauen. »Wie bitte?«, fragte Haudrauf.
»Was heißt praktisch verlobt?«, fragte Grobian.
Ich blieb stehen und schaute sie beide an. »Hilmar, den kennt ihr doch, oder?« Sie nickten. »Er hat anscheinend ein Auge auf mich geworfen und mein Vater dachte sich, dass es seine Aufgabe wäre, mich ihm zu versprechen. Denn er ist ja der begehrteste Junggeselle.« Beim letzten Satz äffte ich ihn nach.
»Da hat er nicht unrecht«, sagte Grobian. »Strahlende Augen, blond, gut gebaut. Ein echter Schwarm.«
»Nicht hilfreich«, sagte ich. Er hob verteidigend die Hände.
»Warum möchte er, dass du so früh heiratest?«, fragte Haudrauf dann.
Ich zuckte mit den Schultern. »Weil er denkt, dass ich im perfekten Alter bin. Oder vielleicht auch, dass Hilmar mich in zwei Jahren nicht mehr mögen würde, immerhin habe ich alle anderen Jungs abgewiesen.«
»Weil sie dir nicht gefallen?«
»Weil sie nicht ...«, fing ich an, brachte es aber nicht zu Ende. Ich seufzte. »Sie sind so halsbrecherisch und teilweise eingebildet und so groß und breit und denken meist nur mit ihren Muskeln und ... ja, sie gefallen mir nicht.«
Er lächelte mich traurig an. Haudrauf war der einzige, der wusste, dass ich Hicks nicht immer als jemand Nervtötendes angesehen habe. Ich hatte ihm vor einiger Zeit alles erzählt, sogar meine Gefühle, die ich entwickelt hatte und die mich einfach nicht mehr verlassen wollten. Er hatte mir gesagt, das sei die Hoffnung auf Hicks' Rückkehr, auch wenn sie wahrscheinlich nie passieren würde. Langsam wünschte ich mir, dass sie verschwinden würde. Wer hing Jahre lang an einem Jungen, den man nicht richtig kannte? Ich. Ich tat es, weil ich ihn nicht mehr vergessen konnte. So wenig wir auch miteinander zu tun gehabt haben, ich wollte ihn finden und an seiner Seite sein.
»Kannst du das nicht aufheben?«, fragte ich Haudrauf. »Du bist das Oberhaupt, du hast immer das letzte Wort.«
»Ich kann mit deinem Vater reden«, sagte er. »Ihn gänzlich davon abhalten kann ich nicht. Das ist eine Familienangelegenheit, in die ich mich nicht einmischen darf. Er ist der Herr im Haus, er hat das Sagen.«
Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. »In meinem Haus habe ich später das Sagen.«
Grobian brach in Gelächter aus, Haudrauf musste grinsen. »Von dir würde ich auch nichts anderes erwarten.«
Nachdem Grobian sich beruhigt hatte, sagte er zu mir: »Und wenn man deinen Vater nicht von der Idee abbringen kann, kannst du immer noch verschwinden. Das scheint einigen zu helfen.«
Haudrauf schaute ihn schief von der Seite an. Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht selbst anzufangen zu lachen. Nachdem wir uns an Hicks' Abwesenheit gewohnt hatten, haben wir angefangen, zwischendurch Witze darüber zu machen. Das hier war einer davon.
»Kommt, ihr zwei«, sagte Haudrauf und stieß sich von der Außenfassade der Schmiede ab. »Auf uns wartet eine Versammlung.«
Ich blieb dieses Mal bei Haudrauf. Nach dem Streit mit meinem Vater hatte ich wirklich keine Lust in seiner Nähe zu sein. Von hier vorne hatte ich einen tollen Überblick, während sich die große Halle füllte. Mein Vater warf mir einen Blick zu, den ich gekonnt ignorierte.
Als alle angekommen waren, eröffnete Haudrauf die Sitzung. »Wir haben eine lange Pause gemacht, was die Suche nach Hicks angeht. Ich finde, dass wir damit wieder anfangen sollten. Es mögen bereits Jahre vergangen sein, aber wie ich damals schon gesagt habe, werde ich nicht ruhen, bis wir ihn gefunden haben.«
Gemurmel erfüllte die Halle. Zweifellos fanden viele, dass er verrückt sei, aber Haudrauf war eben ein Wikinger. Stur und stolz. Er wollte sein eigen Fleisch und Blut bei sich haben, auch wenn er dafür bis zum Ende der Welt segeln müsste.
»Dazu«, fing er wieder an, »können wir ausfindig machen, weshalb uns die Drachen nicht mehr angegriffen haben. Wie ihr wisst, waren unsere letzten Begegnungen alle friedlich. Selbst auf der Dracheninsel schienen sie sich nicht um uns zu kümmern.«
»Es ist, als hätte sich der ganze Charakter von ihnen geändert«, sagte mein Vater.
»Oder sie waren schon immer so und ihr habt sie nur aggressiv gemacht«, murmelte ich vor mich hin.
»Ich frage mich, wieso«, setzte Haudrauf seine Ansprache fort. »Auf einmal drei Jahre Ruhe. Was ist passiert, dass sie sich nicht mehr um unsere Vorräte scheren? Generell, weshalb sie nicht mehr so angriffslustig sind.«
»Vielleicht haben sie einen anderen Ort gefunden, an dem sie Fressen bekommen«, rief jemand aus der hinteren Reihe. Viele stimmten dem zu.
»Das ist eine Möglichkeit«, sagte Kotzbakke. »Aber irgendwann muss die Nahrung dort auch aufgebraucht sein.«
»Dann fliegen sie woanders hin«, sagte der - um es in Grobians Worten auszudrücken - Schwarm von Berk.
»Warum sollten sie nicht wieder zu uns?«, schaltete sich mein Vater erneut ein. »Wir haben immer Lebensmittel parat, da wir uns selbst ernähren müssen. Darum haben sie uns Jahre zuvor angegriffen. Außerdem ist die Dracheninsel nicht weit entfernt.«
»Vielleicht ist die Welt ja größer, als ihr Vollidioten denkt«, murmelte ich, doch dieses Mal schien Haudrauf mich gehört zu haben.
»Wie war das, Astrid?«, fragte er an mich gerichtet und alle Augen drehten sich zu mir.
»Vielleicht ist die Welt ja größer, als ihr denkt«, wiederholte ich laut, wodurch die Menge wieder in Gemurmel ausbrach. Haudrauf musste um Ruhe bitten, damit er weiterreden konnte.
»Astrid hat recht. Bisher sind wir nur in unserem Archipel umhergefahren, haben alle Inseln dort abgeklappert und sind ohne jeglichen Fund zurückgekehrt. Wir müssen weiter hinausfahren.«
»Ins Unbekannte?«, sagte mein Vater. Ich verdrehte die Augen.
»Wären unsere Vorfahren nicht ins Unbekannte gefahren, würden wir heute immer noch denken, die Welt bestünde nur aus unserer Insel«, sagte Grobian. »Wieso sollten wir nicht auch weiter fahren?«
Die Halle explodierte fast vor Gesprächen, als alle über diese Idee diskutierten. Sollten wir wirklich dieses Wagnis eingehen, könnte ich zwei Fliegen mit einer Klatsche schlagen: Keine Hochzeit und möglicherweise Hicks finden. Ich musste unbedingt auf eines dieser Schiffe.
»Ruhe bitte!«, rief Haudrauf, was die Leute verstummen ließ. »Wir werden es tun. Wir werden weiter hinausfahren, als es je ein Berkianer getan hat. Mein Sohn muss irgendwo da draußen sein und ich werde alles darum geben, ihn wieder bei mir zu haben. Diese Fahrten werden aber nicht leicht, sondern lang und ermüdend. Sie werden freiwillig sein, ich zwinge keinen von euch daran teilzunehmen. Ich selber werde nicht bei jeder dabei sein, da ich hier benötigt werde. Morgen wird die erste Gruppe losfahren. Wer will mitkommen?«
Ich hob sofort meine Hand. Natürlich musste mein Vater seinen Mund öffnen. »Vergiss es, Astrid. Du fährst nirgendswo hin.«
»Das hast nicht du zu entscheiden«, sagte ich.
Er wollte etwas erwidern, aber meine Mutter kam ihm zuvor. »Geh. Hilf bei der Suche.«
Mein Vater schaute sie empört an, antwortete aber nichts darauf, um nicht vor versammelten Publikum eine Show abzuziehen.
»Ich komme auch mit«, durchbrach Grobian die Stille.
»Rotzbakke und ich ebenfalls«, meldete sich Kotzbakke zu Wort.
Noch ein paar mehr meldeten sich freiwillig. Danach löste sich die Menge auf. Ich blieb bei Haudrauf und Grobian, um nicht wieder in einer Diskussion mit meinem Vater zu verfallen. Ich würde später einfach durch mein Fenster ins Haus klettern, das hatte ich die letzten Jahre oft getan.
Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, war das Schiff bereits voll beladen. Haudrauf würde wirklich keine weitere Sekunde warten. Ich verabschiedete mich von meiner Mutter, die mir immer wieder sagte, dass sie stolz auf mich sei, weil ich meinem Vater trotzte. Sie wollte auch nicht, dass ich Hilmar heiratete und dafür liebte ich sie umso mehr. Sie hatte ebenfalls versucht, mit meinem Vater zu reden, aber das hatte zu nichts geführt. Wenigstens war sie auf meiner Seite.
Wir Freiwilligen stiegen ins Boot und winkten zum Abschied. Wer wusste, wann wir wiederkommen würden. Falls wir wiederkamen, immerhin wussten wir auch nicht, was sich außerhalb unseres erforschten Archipels befand.
Als Berk nur noch ein Fleck am Horizont war, stellte ich mich an den Rand des Schiffes und schaute der Sonne beim Aufgehen zu.
»Sieht schön aus am Morgen, nicht wahr?«, sagte Haudrauf, der sich neben mich stellte. Zur ersten Fahrt, hatte er gesagt, wolle er dabei sein.
Ich nickte. »Die Sonnenuntergänge gefallen mir besser.«
»Ist es nicht dasselbe?«
Ich lächelte. »Nein. Wenn die Sonne untergeht, geht sie auf der Seite unseres Dorfes unter. Dort, wo Hicks immer gesessen hat. Ich verbinde mittlerweile beides miteinander, darum gefallen mir die Untergänge mehr.«
Er antwortete nicht darauf, starrte nur mit mir zusammen hinaus aufs Meer.
»Denkst du, er ist da draußen?«, fragte ich nach einer Weile.
»Das gleiche habe ich mich gestern auch gefragt«, sagte er leise. »Hicks ist ein schlauer Junge. Ich kann mir vorstellen, dass er es weit geschafft hat.«
Die Sonne hing nun über dem Meeresspiegel. »Ich glaube, er ist da irgendwo. Dort, wo wir noch nie waren. Wo er uns niemals vermuten würde.«
———
Hel ist die Herrscherin des Totenreiches in der nordischen Mythologie. Da dies der Glaube der Wikinger war, fand ich, das passte besser als der Teufel :)
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