142 ** Familie ** Mo. 11.5.2020
Ich werde heute ganz früh wach vor lauter Vorfreude. Ich tapse einfach los, um Papa zu wecken fürs Frühstück, aber er liegt nicht mehr in seinem Bett, und unten ist er auch nicht. Ich finde ihn dann auf dem Balkon am Schlafzimmer. Er starrt in die Morgendämmerung – und weint. Also nehme ich ihn schnell von hinten in die Arme. So stehen wir eine ganze Weile da, hören die Vögel zwitschern, sehen es immer heller werden und sind einfach einander ganz nah.
Schließlich gibt er sich einen Ruck, fährt sich mit dem Ärmel über die Augen und putzt sich die Nase. Ich drehe ihn zu mir rum.
„Wovor hast du Angst, Papa? Davor, dass du wieder Fehler machst? Jeder Mensch macht Fehler! Und es gibt einige Fehler, die du nicht mehr machen wirst. Trau dir mehr zu."
Papa schüttelt den Kopf und drückt meine Hand.
„Hm. Ja, natürlich frage ich mich auch, ob ich es diesmal besser hinkriege. Aber – Katharinas Herztöne sind irgendwann mittendrin so abgefallen. Und Tanja ist zweimal vor Schmerzen fast ohnmächtig geworden. Ich hatte solche Mühe, meine Panik zu unterdrücken, dass ..."
Auwei, das muss ganz, ganz schlimm gewesen sein für ihn!
„Aber sie ist nicht. Sie beide sind nicht. Es geht beiden gut, und sie kommen beide heute nach Hause. Dass du davor Angst hattest, dass Tanja und dem Baby unter der Geburt was passiert – das ist doch völlig natürlich. Ich glaube, das hat jeder Vater. Und du musstest das schon einmal aushalten, du musstest Mama hergeben. Bitte schäme dich nicht dafür."
Wieder schüttelt er den Kopf.
„Es ist gar nicht ... Scham. Aber als ich vorhin aufgewacht bin, hab ich plötzlich keine Luft mehr bekommen. Ich habe erst heute kapiert, dass ich im Grunde seit Wochen die Luft angehalten habe vor lauter Angst um die beiden. Und dass ich diese Angst jetzt loslassen darf. Die Tränen ... Ich glaube, ich habe einfach Platz in meiner Seele gemacht für die Freude."
Jetzt lächelt er.
„Ich mag das Bild. Das ist genau richtig, Papa. Mach Platz für Freude und Zuversicht und ganz viele tolle Ideen für unsere Familie."
Wir kommen langsam und gemütlich in die Gänge, denn Tanja können wir ja sowieso frühestens holen, wenn die Visite dort durch ist. Wir frühstücken ausgiebig, und ich bin froh, dass ich keinen Mördermuskelkater habe vom langen Tanzwochenende. Nach dem Frühstück bleiben wir einfach in der Küche sitzen und schwätzen in Ruhe miteinander.
„Wie läuft das jetzt mit deinem Führerschein? Was kostet der ganze Spaß, und wieviel hast du davon schon selbst zusammengejobbt?"
Ich muss schmunzeln. Schon wieder solche „Papa hat Nachholbedarf"-Fragen.
„Heute gehts los, ich habe drei Wochen Zeit und darf maximal zwei Anläufe für die Fahrprüfung brauchen. Die Theorie ist täglich von 9.00 bis 12.00 Uhr, an den Nachmittagen sind die Fahrstunden. Wir sind zwölf Leute und mehrere Fahrlehrer, wir haben jeder dreimal pro Woche zwei Stunden Fahrzeit und hoffen alle, dass das reicht. Die Anmeldegebühr habe ich vom Geburtstagsgeld bezahlt. Und vom Rest hab ich auch etwa zwei Drittel zusammen."
„Wieviel fehlt noch?"
„Ungefähr 500,- €. Je nachdem, wie blöd ich mich anstelle."
„Aber ihr wollt doch im Sommer noch nach Frankreich. Und den Urlaub hast du dir auch redlich erkämpft. Hast du das reingerechnet?"
„Nö. Das Geld ist dann erstmal ausgegeben. Aber ich gehe bis Frankreich einfach weiter in die Gärtnerei. Das passt schon."
„Na, irgendwann muss auch mal Schluss sein. Arbeite, so viel Du willst. Aber ich gebe dir auf jeden Fall 1000,- zum Führerschein und 500,- zum Urlaub dazu. Alles andere sehen wir, sobald wir wissen, wo du studieren wirst."
Mir wäre fast meine Teetasse aus der Hand gefallen.
„WOW! Danke, Papa. Das ... sooo viel! Das ist toll."
Ich bin echt ... sprachlos???
„Naja – ich muss ja jetzt nicht mehr Frau Süß füttern. Sie hat offensichtlich einen richtig guten Job gemacht, deine Noten haben mich wirklich beeindruckt. Und dann Frau Hartmann obendrauf. Es ... tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe."
„Hast du es schon wieder geschafft, eine Entschuldigung unterzubringen!"
Was bin ich froh, dass wir da jetzt gemeinsam drüber lachen können! Wenn er dabei nur nicht so traurig kucken würde!
„Ich hab aber auch eine neugierige Frage, Papa. Durch die Bewerbertage hab ich hier nicht so viel mitgekriegt. Wie war der Wiedereinstieg in der Firma?"
Papa freut sich offensichtlich über mein Interesse, denn sein Gesicht hellt sich schlagartig auf.
„Noch arbeite ich ja nur halbtags, als Wiedereingliederung sozusagen. Mein Stellvertreter hat einen wirklich guten Job gemacht. Und er macht es mir leicht, allmählich wieder reinzurutschen. Ich habe mir auf jeden Fall den richtigen Mann dafür ausgesucht. Nach Pfingsten steige ich dann wieder voll ein. Aber ich glaube, ich möchte insgesamt nicht mehr so viel arbeiten. Die Firma läuft gut, also kann ich etwas zurücktreten und diesen Mann auf Dauer mit ins Boot holen. Hungern werden wir trotzdem nicht. Katharina soll mehr von ihrem Papa haben als guten Morgen und gute Nacht. Und von dir möchte ich einfach auch viel mehr erleben als bisher."
„Na dann – lass uns starten. Und heute Mittag holen wir Tanja ab. Oder willst du das alleine machen?"
„Du willst doch bestimmt dabei sein."
„Ja, klar! Wenn das in Ordnung ist. Lass uns telefonieren, sobald einer von uns fertig ist."
Papa war schon im Bad und fährt gleich los. Ich drehe jetzt meine Runde ganz gemütlich, weil ich noch Zeit habe. Dann radele ich los zur Fahrschule. Wir kriegen jede Menge Unterlagen und jede Menge Input. Am Schluss kaspern wir gemeinsam aus, wer bei welchem Fahrlehrer wann jede Woche seine Fahrstunden hat. Und dann sause ich wieder nach Hause. Dort rufe ich gleich bei Papa an. Der hat aber noch nichts aus dem Krankenhaus gehört. Also esse ich schnell was und stöbere dann in den Unterlagen für den Führerschein. Ich bin ziemlich dankbar, dass mein Hirn sowieso noch im Pauk-Modus ist. Das sind keine normalen Fragen - das ist Multiple „Scheiß" mit doppelten Verneinungen und ähnlichem Glatteis. Da muss man sich echt ganz genau konzentrieren.
Gegen eins ruft Papa dann an, dass ich schon mal runterkommen soll, weil er unterwegs ist. Ich greife mir die Klamotten für Katharina, weil wir sie ja umziehen müssen, und spurte runter an die Straße. Kurz darauf rutsche ich auf die Rückbank neben die Babyschale, die Papa da schon letzte Woche montiert hat.
„Wenn du nur halb so aufgeregt bist wie ich, dann solltest du jetzt eigentlich nicht mehr Auto fahren ..."
„Na, ich kann mich grade noch beherrschen. Meine Familie ist die kostbarste Fracht, die ich mir vorstellen kann."
Ich sag jetzt mal nichts dazu, dass er schlagartig langsamer und konzentrierter fährt als vorher ...
Es dauert eine Weile, bis wir einen Parkplatz in der Nähe der Gynäkologie finden, aber dann hält uns nichts mehr. Nichts wie rein zu unseren Mädels! Tanja liegt angezogen auf ihrem Bett und kitzelt Katinka, die wach und zufrieden neben ihr liegt. Papa geht gleich hin und zerschmilzt förmlich bei diesem Anblick.
„Tanja, soll ich schonmal deine Sachen packen?"
„Oh – ja, Max. Das wäre richtig lieb. Habt ihr an die Babykleidung für Katharina gedacht?"
Ich lege die Tüte mit Klamotten ans Fußende ihres Bettes, öffne ihren Schrank und fange an, ihre Reisetasche zu füllen. Da ich die Stillschlange jetzt einfach unter den Arm nehmen kann, nutze ich den Müllsack, um ihre Schmutzwäsche reinzustopfen. Schnell habe ich alles bereit gestellt.
Während Tanja und Papa unserer Katinka die Kliniksachen aus und unsere mitgebrachte Kleidung anziehen, schaue ich mich um, ob ich im Raum noch was von Tanja sehe.
„Du, was soll ich denn mit den ganzen Blumensträußen machen?"
Etwas ratlos schaut Tanja sich um. Aber Papa zieht gleich seinen Autoschlüssel aus der Jackentasche.
„Ich hab im Auto noch den Eimer, mit dem ich meinen Strauß hierher gebracht habe. Magst du den holen, Max?"
„Klar!"
Ich schnappe mir das Schlüsselbund und lasse die drei ein bisschen alleine.
Ein paar Minuten später bin ich wieder oben. Papa trägt summend die schlafende Katharina durch den Raum, während Tanja wohl ihre Abschieds- und Dankesrunde über die Station dreht. Ich fülle den Eimer halb voll Wasser, schmeiße zwei ältere, schon welkende Sträuße in den Müll und bastele die vier anderen nebeneinander in den Eimer.
Hoffentlich brechen dabei nicht lauter Blüten ab bis zu Hause!
An was man da alles denken muss! Es dauert eine Weile, bis wir uns sortiert haben. Schließlich einigen wir uns darauf, dass Tanja den Kinderwagen schiebt, den Papa gestern schon hergebracht hat. Papa trägt mit der einen Hand die Tasche und stützt mit dem anderen Arm Tanja. Ich klemme mir die Stillschlange unter den linken Arm, nehme den Müllsack mit Schmutzwäsche in die linke Hand und greife mit der rechten Hand nach dem Blumeneimer.
„Und wer macht jetzt die Tür auf?"
Wir fangen alle an zu lachen, als in dem Moment eine Schwester reinkommt, weil sie Tanjas Bett rausholen will. Und dann brechen wir endlich auf.
Zu Hause muss Tante Jana erstmal Lotta und Ole zurückpfeifen, die schon auf der Lauer gelegen haben und ganz aufgeregt durcheinander schnattern.
„Zurück, Marsch Marsch! Lasst Tanja und Katharina erstmal ankommen. Unser Zwerg wird grade mit endlos vielen neuen Eindrücken überhäuft und muss sich an alles erst gewöhnen. Ihr kriegt sie noch genug zu sehen."
Schmollend ziehen die beiden wieder ab. Papa hängt unsere Jacken auf und klappt in der Garderobe den Kinderwagen zusammen.
„Tanja, wo soll denn die Stillschlange hin? Wirst du eher oben oder unten ...?"
„Lass die hier bitte unten. Oben hab ich noch eine im Kinderzimmer."
Ich schmeiße die Wabbelwurst aufs Sofa und bringe Müllsack und Tasche nach oben ins Schlafzimmer.
Im Flur kommt mir Papa entgegen.
„Hilfst du mir, die Wiege zu beziehen?"
„Klar. Aber ... warum haben wir das eigentlich nicht schon vorher gemacht?"
„Tanja hat erzählt, dass das in ihrer Familie so Brauch ist. Es soll uns bewusst machen, dass es auch heute nicht selbstverständlich ist, dass Mutter und Kind gesund nach Hause kommen. Erst, wenn das Kind wirklich da ist, wird die Wiege mit Bettzeug bezogen."
Ich halte einen Moment inne.
Stimmt! Nach dem, was Papa mir heute morgen erzählt hat – es ist nicht selbstverständlich, dass Mutter und Kind lebend nach Hause kommen. Auch heutzutage nicht!
Gemeinsam gehen wir die Treppe rauf zum Kinderzimmer.
„Danke!"
Fragend schaut Papa mich an, während er den kleinen Schlafsack auf die bezogene Matratze in der Wiege legt.
„Wofür? Und wem?"
„An Tanja, dass sie das alles so toll geschafft hat. An Katinka, dass sie bei uns ist. An das Team im Krankenhaus, dass sie euch so toll unterstützt haben. An den lieben Gott, dass es Katinka gibt. Und dass wir eine so tolle Familie sind! ... Such dir was aus. Ich fühle grade ganz viel Dankbarkeit."
„Da hast du recht, mein Sohn. Ich auch."
Im Wohnzimmer finden wir ein sehr friedliches Bild vor. Tanja hat sich mitsamt Baby und Stillschlange aufs Sofa gebastelt – und ist beim Stillen eingeschlafen. Die Kleine schläft auch schon wieder. Also schieben wir einfach den Wohnzimmertisch ran und polstern alles mit einer Decke aus. So kann unser Mädchen nicht aus Versehen runterfallen und sich weh tun. Und Tanja kann weiter schlafen. Leise schleichen wir uns wieder raus.
Wir gehen in die Küche und bereiten gemeinsam das Abendbrot für uns vor. Ich muss grinsen.
„Ist es normal, dass frisch gebackene Eltern so um ihren Säugling drumrumtanzen wie ums Goldene Kalb? Das ist echt ansteckend. Ich kann mich dem überhaupt nicht entziehen."
Seltsamerweise verzieht Papa schmerzhaft das Gesicht.
„Das ... entschuldige, Max. Damals ... ich ..."
Ich höre auf, den Salat zu waschen und drehe Papa zu mir rum.
„O.K. - es ist mal wieder sorry-time. Setz dich doch bitte, ich mag dir in Ruhe zuhören."
Damit schiebe ich Papa zum Küchentisch und setze mich neben ihn auf die Bank.
Mit großen Augen schaut er mich an.
„Also – wofür meinst du, dich jetzt schon wieder entschuldigen zu müssen?"
Papa schüttelt den Kopf.
„Hast du das gefragt, weil ich mich um dich nicht so gekümmert habe?"
Ich seufze ergeben.
„Ganz ehrlich? Quatsch! Woher sollte ich das denn wissen, ich war da ein Baby. Schon vergessen?
Ich hab uns nur heute den ganzen Tag zugeschaut und mich über uns amüsiert. ‚uns' – nicht ‚dich' wohl bemerkt. Ich jedenfalls kann an nichts anderes mehr denken, und das ist schon irgendwie schräg. Verrätst du mir jetzt, wofür du dich wieder schuldig fühlst? Alles, was ich heute gesehen habe, war ein liebender, aufmerksamer Ehemann und Vater."
Papa senkt den Kopf.
„Danke, Max. Ich ... Als du unterwegs warst, musste Marie für länger in ihrer Karriere pausieren, weil sie natürlich nicht mehr tanzen durfte. Gleichzeitig hatte ich mit der Firma meinen Durchbruch und eigentlich rund um die Uhr zu tun. Also war Marie dauernd mit dir alleine. Ich habe sie furchtbar geliebt. Und ich hab auch mal am Wochenende das Wickeln übernommen. Aber das habe ich getan, um Marie zu entlasten. Nicht, um ..."
Himmel, ist das zäh! Was kommt denn jetzt wieder!?!
„Ich ... Ich habe meine Aufgabe darin gesehen, meine Familie zu versorgen. Das Baby war Maries ‚Job'. Ich hatte nicht begriffen, dass es grade für einen Sohn wichtig ist, dass der Vater eine enge, zugewandte Bindung zu ihm aufbaut. ..."
Ich schubse ihn gegen die Schulter.
„Also hast du beschlossen, dass es mal wieder Zeit ist, deinem Sohn gegenüber für alle Versäumnisse ein schlechtes Gewissen zu haben, statt stolz darauf zu sein, dass du rechtzeitig für Katharina begriffen hast, wie wichtig du als anwesender, interessierter Vater bist."
Papa nickt.
„Mann, ei. Das war vor zwanzig Jahren noch viel mehr üblich. Und in deiner Generation sowieso. Das ist vorbei. Ich bin trotzdem was geworden, und ich liebe dich. Ich freue mich mit dir, ich fühle mich nicht austauschbar in deinen Augen. Ich liebe meine kleine Schwester über fast alles. Und ich bin stolz darauf, dass unser Vater so viel gelernt hat und so vieles besser machen wird. Bist du jetzt fertig mit schämen?"
Papa drückt mich kurz und ganz fest, bevor er aufsteht und wir uns wieder ans Abendessen machen.
„Das sagt sich so leicht, Max."
„Ich weiß. Aber ich bin nicht besser als du. Ich hab nur mehr jugendlichen Schwung als du. Aber deshalb ist es für mich nicht leichter, an mir zu arbeiten. Ich bin genauso ein Rappelkopp wie du, und ich reagiere auch gerne mal über. Lass uns daran zusammen arbeiten. Und jetzt hab ich Hunger!"
Jetzt lächelt er endlich wieder.
Wir kochen zu Ende und decken den Tisch.
Pünktlich wie die Sonnenuhr wacht die Kleine auf. Wir hören ihr leises Gequäke aus dem Wohnzimmer. Kurz darauf kommt Tanja mit der Kleinen im Arm zu uns in die Küche, reibt sich mit der anderen Hand die verschlafenen Augen und lässt sich auf die Küchenbank sinken.
Auweia. Das wird jetzt Monate lang so weiter gehen? ...
Witzig. Ich bin schon wieder im Baby-Modus ...
„Tanja, soll ich den Tragekorb herholen? Dann kannst du vielleicht mit zwei Händen essen. Einhändig wirst du noch oft genug haben, wenn wir nicht dabei sind."
Tanja nickt müde, ich hole den alten Tragekorb aus dem Wohnzimmer, und bald schon können wir zu dritt gemütlich essen, weil Katinka interessiert nach dem baumelnden Mobile über ihrer Nase fischt. Die Trefferquote ist allerdings nicht sehr hoch. Noch kann sie nämlich gar nicht scharf sehen.
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4.2.2021
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