123 ** Vorbereitungen für die Eltern-Show ** Do. 2.4.2020
Es ist eine seltsame Woche. Irgendwie ist immer noch nicht bei mir angekommen, dass der größte Brocken der Anstrengung fürs Abi jetzt vorbei ist. Diese Woche ist nochmal ganz normal Schule. Aber eigentlich ist es nur noch Smalltalk, Erinnerungen mit den langjährigen Lehrern austauschen, Abistreich, -Feier und -Ball vorbereiten und jede Menge „Ach, ihr könnt heute schon früher raus". Man kann mit relativ hoher Trefferquote sagen, wer in welchem Fach ins Mündliche gehen wird, weil die Mitschüler da – und nur da – ziemlich angespannt wirken und tausend Fragen stellen. Wir hocken in der Pause mal wieder in der Eiche auf dem untersten Ast, von dem wir die Motivations-Banner von Anni und unseren Familien gerettet haben, und schauen uns staunend um. Es ist jetzt ziemlich eng geworden hier, denn wir sind nicht mehr vier sondern sieben Leute.
„Ei, Jungs und Mädel. Das ist sooo seltsam und ... surreal. Acht Jahre – und jetzt ist es einfach so schwuppdiwupp vorbei."
„Naja, Paul. Wenn ich mir überlege, was bei mir in diesem letzten Jahr so mal eben schwuppdiwupp alles drin war, dann werde ich das glaube ich ziemlich lange nicht vergessen. Ich bin von meinem Vater erpresst worden, ich bin von einer Lehrerin gemobbt worden, ich habe mich unsterblich verliebt, ich bin von meinem Vater rausgeworfen worden, ich habe versucht, mich zu entlieben. Ich habe den Mathematikstoff von acht Schuljahren in einem halben Jahr gelernt, ich habe meinen Berufswunsch entdeckt, ich habe eine Doktorarbeit geschrieben, ich habe meiner doch-großen Liebe das Leben gerettet, ich bin erpresst worden, ich bin achtzehn geworden. Ich habe den Beweis angetreten, dass der Tag seltsamerweise doch 25 Stunden hat. Und nebenbei habe ich drei Abiklausuren geschrieben."
Meine Kumpel neben mir fangen an zu lachen bei meiner Aufzählung. Und Moritz macht gleich weiter.
„Außerdem hast du deinen Vater in Therapie verfrachtet, Sebastian um 180° rumgedreht, Antoine aus seinem Kindheitstrauma befreit, ..."
„Mooooment. Meine Kehrtwende geht auf das Konto von der Süß. Ich habe das angebotene Kennenlerngespräch in Anspruch genommen, und das hat mir den finalen Tritt gegeben."
„Sebi-Schatz? Letzten Endes hast du selbst die Kraft aufgebracht, dich zu verändern. Schmälere deine eigene Leistung dabei nicht. Und dann waren es Max und Moritz offen ausgebreitete Arme, die dich in der Clique aufgenommen haben."
Bei dem „Sebi-Schatz" von Antoine verschlucke ich mich fast an meinem Wasser, und Milly quiekt auf.
„Uuuuuuund – du, lieber Max, hast außerdem noch erfolgreich den Kuppler gespielt!"
Jetzt protestieren Sebastian und Antoine beide.
„Auch das haben wir bitteschön ganz alleine hingekriegt. Und ihr auch."
„Das sehe ich selbst aber genau so! Ich bin ja wohl KEIN Kuppler!"
Der Rest geht im allgemeinen Gelächter unter.
Lasse kuckt auf die Uhr, denn er muss gleich in den Naturwissenschaftstrakt und hat dahin einen etwas weiteren Weg.
„Wann geht heute Nachmittag eigentlich der Probenmarathon für die Show mit den ganzen Kurzen los?"
Ich grabe kurz in meinem Hirn.
„Um 16.00 Uhr fangen die an. Wir sollten also direkt von der Schule aus da hinsausen. Morgen um die selbe Zeit, anschließend wir Großen. Und am Samstag Vormittag nochmal wir Großen alleine. Nachmittags sollen wir dann um 16.00 Uhr da sein, um die Quietschies in Schach zu halten. Die Show startet um 18.00 Uhr."
Lasse lacht.
„Wenn ich dich nicht hätte, Max. Du bist mein wandelnder Terminkalender."
Ich drücke ihn nochmal feste, bevor er von dem Ast runterrutscht und sich auf den Weg macht. Es fällt ihm unglaublich schwer auszuhalten, dass wir alle in Aufbruchsstimmung sind und er noch ein Jahr hier vor sich hat. Allein das ist schon ein Grund, dass wir bitte alle drei in Werden studieren wollen. Und nicht in Frankfurt oder Köln.
Am Nachmittag treffen wir uns zusammen mit allen anderen an der großen Sporthalle vom Helmholtzgymnasium, wo jedes Jahr die Aufführung für die Eltern stattfindet. Um uns drumrum wuselt und hibbelt und kreischt und weint und lacht das ganze Gemüse, und wir helfen gemeinsam mit ein paar Eltern, die Bande unter Kontrolle zu bringen. Heute und morgen Nachmittag sind die allgemeinen Gesamtproben, wo sich alle an die Bühne, die Auf- und Abgänge und die Reihenfolge der Stücke gewöhnen können. Geprobt werden nur die Gewusel-Aufführungen, und wir Großen helfen dabei. Am Abend haben wir alle wie jedes Jahr das Gefühl: das wird nie was! Und wir sind taub von dem ganzen Geschnatter. Aber auch das haben wir bisher noch immer überlebt.
Fr. 3.4.2020
Am Freitag Nachmittag scheinen die Kiddies sich doch eingekriegt und eingewöhnt zu haben, und die Probe läuft einigermaßen glatt durch. Es gibt die üblichen Generalproben-Stolperer und auch einmal Tränen. Aber die Show steht, der Ablauf sitzt. Und das ist die Hauptsache.
Heute dürfen auch alle Familien ein paar Plätze bunkern. Wir Großen durften aber schon vorher, denn wir müssen ja dauernd flitzen, um zu helfen, wenn wir nicht grade selbst auftreten. Die Familie Seitz kommt fast vollzählich. Nur Tanja traut sich das nicht mehr zu und bleibt deshalb mit Ole zu Hause. Papa kommt aus der Klinik nicht weg, aber Onkel Uwe will da sein. Antoine und Sebastian sind natürlich dabei. Und Frau Tucher und Dr. Fahrendorf wollen auch kommen.
Aus Anni konnte ich kein vernünftiges Wort herausbringen.
„Es kann sein, dass ich bei meinen Eltern bin" sagt etwa so viel wie „keine Lust, keine Meinung, keine Ahnung". Also nichts. Und das fühlt sich komisch an. Überhaupt fühlt sich das grade alles komisch an. Sie arbeitet wie eine Besessene, zuckt zusammen, wenn ich sie berühre, und ihr Lächeln ist sowas von aufgesetzt, das geht auf keine Kuhhaut. Allerdings macht sie das alles wohl nicht, weil sie mich nicht mehr mag. Wenn sie es geschafft hat, sich von mir umarmen zu lassen, dann kann sie nach einer Weile die Anspannung doch loslassen, und dann kriecht sie förmlich in mich rein, als ob sie Schutz sucht. Aber bis es so weit ist, vergeht immer eine ganze Weile. Ich habe den Verdacht, dass sie grade innendrin in großer Not ist, das aber aus irgendeinem Grund nicht mit mir teilen will. Und das ist fast das Schlimmste für mich. Ich verstehe einfach nicht, wie lange sie diese Barriere noch aufrecht erhalten will.
Sie ist inzwischen eine der wichtigsten Personen in meinem Leben. Sie hat mich durch dieses Jahr hindurch getragen, geliebt, geschützt und ge-alles-t. Wir haben so viele Kämpfe ausgestanden – miteinander, mit meinem Vater, mit der Hartmann, mit der Erpressung, Silvester, ihr Schulwechsel. Sie hat mich schreien lassen und beim Tanzen gefilmt. Sie hat mir den Kopf über die Schüssel gehalten und mich mit Salzstangen gefüttert. Wenn es ihr nicht gut geht, dann spüre ich das. Aber vor diese Wand renne ich immer noch vergeblich. Sie hat doch meine Facharbeit begleitet und gelesen. Und das hier jetzt will sie nicht sehen? Verstehen kann ich es nicht.
Generalprobe Sa. 4.4.2020
Weil die Lerngruppen jetzt nicht mehr nötig sind, haben wir auf einmal seltsam viel Zeit. Und auch das ist noch nicht richtig bei mir angekommen. Ich will heute Morgen schon zu Paul radeln, bis Lasse mich zurückpfeift und in Richtung Müller-Breslau-Straße zeigt.
Den ganzen Vormittag proben wir Fortgeschrittenen-Gruppen nochmal konzentriert, damit auch bei uns wirklich alles sitzt. Dabei setzen wir uns abwechselnd in die ersten Reihen des Publikums und schauen den anderen zu. Es ist wieder beeindruckend, was für tolle Ideen alle mitbringen, egal, ob klassisches Ballett, die Standard- und Lateintänzer, die Hiphop-Gruppe oder wir Contemporarys. Erst, als alle anderen weg sind, proben wir noch ein letztes Mal unser – ja, praktisch unser Abschiedsstück. Es macht Spaß, es hat Pepp, wir schöpfen aus den Vollen – und wir spüren alle einen Hauch Wehmut dabei. Sogar Luis.
Auf dem Heimweg denke ich wieder über Anni und mich nach. Wir haben uns heute Morgen noch ein gutes Wochenende gewünscht und sie mir einen guten Auftritt. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ihr Handy scheint aus zu sein. Sie hat gestern von Frau Tucher unsere Sport-Klausuren gebracht bekommen. Ich darf also jetzt erstmal nicht in ihre Wohnung. Aber irgendwie ist es auch anderweitig nicht gelungen, dass wir uns für die Ferien verabreden konnten. Sie hatte ja gesagt, sie wolle ein richtiges Break.
Aber doch wohl keines mit mir. Oder??? Ich glaube, ich weiß, was ich mache. Ich werde heute Abend mal kurz Frau Tucher ansteuern.
Wir können in dem ganzen Gewühl nicht reden, aber ich kann mir wenigstens mal wieder einen Schluck Ermutigung abholen. Sie weiß bestimmt mehr als ich.
Kaum bin ich zu Hause, schreibe ich ihr eine Nachricht mit der Bitte, ob sie heute Abend in der Pause kurz Zeit für mich hat.
„Darf ich Sie heute Abend in der Pause mal wieder als Kummer- und Anni-Rätsel-Kasten missbrauchen? Ich komm grade überhaupt nicht an sie ran."
Ihre kryptische Antwort kommt sofort.
„Besser hinterher. Ich warte auf dich."
Na gut. Dann hinterher. Hauptsache, überhaupt. Denn dieser Schwebezustand macht mich irre. Ich bin der festen Überzeugung, dass sie einen guten Grund dafür hat. Aber ich verstehe nicht, warum sie den nicht mit mir teilt.
Es fühlt sich so an, als ob ich ihr ... nicht genug bin dafür? Oder so ...
Über Mittag helfe ich Tante Jana und Onkel Thorsten dabei, das Nachbarhaus wieder auf seine Bewohner vorzubereiten. Tanja wird am Montag zurückziehen. Und Papa wird am Mittwoch entlassen. Bis dahin können wir nebenan alles wieder gemütlich gemacht haben. In der Woche nach Ostern wollen Papa und ich dann das Kinderzimmer neu einrichten. Ein neuer Fußboden, Tapete, Vorhänge. Dann die Wickelkommode und die Babyklamotten von nebenan. Und die Wiege. In der hab ich schon gelegen. Und danach alle drei Seitz-Kinder. Ein richtiges Familienstück. Spielzeug wird gesichtet, Klamotten werden gewaschen, Windeln werden bereit gelegt. Bei uns allen wächst die Vorfreude auf Tanja, Papa und auf das Baby. Und mir tut es ganz gut, dass dabei sowohl der Auftritt als auch Anni ein bisschen in den Hintergrund rücken.
.........................................................
16.1.2021
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro