108 ** Flucht nach vorn ** Mi. 29.1.2020
Wider alles Erwarten hat mir das Training von unserer kleinen Gruppe gestern Abend doch sehr gut getan. Ich habe so richtig gepowert und damit die ganze Wut aus mir rausgeschwitzt. Und die anderen haben mich gelassen. Ich hab dann zu Hause sofort Tante Jana und Onkel Thorsten gefragt, ob sie denn heute Abend Zeit für mich haben.
Ich war heute Morgen ziemlich gerädert, denn ich habe gelinde gesagt besch.....eiden geschlafen. Ich hatte dauernd Annis gequälten Blick vor Augen, hab ihr Zittern gefühlt, hab ihre Angst gespürt. Jetzt haben wir gleich Sport, und ich hoffe einfach, dass Anni sich wieder ein bisschen gefangen hat.
Naja – selbstbewusst und gut gelaunt ist was anderes.
Ich sehe Anni sofort an, wie schlecht es ihr geht, als ich in die Halle komme. Wir halten gezielt viel Abstand, damit sie nicht wegen mir weich wird. Aber es ist eine Tortur. Moritz und Paul habe ich vorhin nur angedeutet, dass es Schwierigkeiten gibt, nicht, welche. Aber es ist sowieso für alle unübersehbar. Getreu dem Vorsatz, Anni das Leben leicht zu machen, geben sich alle im Kurs sehr Mühe, konzentriert mitzuarbeiten, weil alle spüren, dass es ihr nicht gut geht.
In der Mensa hocken wir grade an unserem Stammplatz, als mein Handy brummt. Frau Tucher hat eine Gruppe mit Dr. Fahrendorf und mir erstellt, ohne Anni. Und ihre Nachricht ist ganz kurz.
„Der nächste Brief".
Dann folgen zwei Fotos. Frau Tucher und Dr. Fahrendorf kommen aus dem Cinemaxx, Händchen haltend. Und küssend.
„Jungs, wisst ihr, was Lasse heute für'n Stundenplan hat?"
„Der müsste schon zu Hause sein. Heute ist sein kurzer Tag."
Ich piepe Lasse an.
„Kannst du nachschauen, ob ich Post hab? Ein normaler weißer Umschlag, auf dem nur Gersten steht."
Fünf Minuten später kommt die Antwort.
„Jou."
„Dann geh bitte damit allein in Dein Zimmer, mach den Umschlag auf, lies den Brief nicht, aber fotografiere mir die Bilder darin ab. Sag bitte niemand was. Wir reden nachher."
Kurz darauf kommen zwei Bilder, begleitet von der Nachricht: „Was ist DAS denn???"
„Danke. Heute Abend."
Ich schaue mir die Bilder genauer an. Und meine Befürchtung bestätigt sich. Das eine Bild ist bei Anni vorm Haus aufgenommen, und dass ich da regelmäßig zur Nachhilfe war, ist für niemand ein Geheimnis. Aber das andere – ist vom letzten Samstag am Kassenhäuschen vom Baumwipfelpfad. Ich habe den Arm um Anni gelegt, und sie lehnt sich an mich.
Frau Tucher hatte recht. Der Wagen ist uns nicht zufällig gefolgt. Soviel steht für mich fest.
Ich sage Anni nichts in der anschließenden Sporttheorie und der Tutorenstunde, leite nur meine Bilder in die Gruppe weiter. Erst will ich meinen Brief lesen und mit Frau Tucher und Dr. Fahrendorf beraten. Und ich überlege, ob Dr. Fahrendorf heute Abend nicht auch dabei sein sollte, wenn ich mit Onkel Thorsten über das alles rede. Kaum zu Hause chatte ich mit den beiden. Frau Tucher hat Anni den zweiten Brief nicht gezeigt, und sie wird auch zu Hause bleiben. Sie will Anni nicht allein lassen. Aber Dr. Fahrendorf wird zu uns kommen. Lasse erkläre ich nur das Nötigste, und er sagt selbst, dass „er das ja früh genug erfahren wird".
Nach dem Abendessen präparieren wir zu zweit Onkel Thorstens Arbeitszimmer. Er ist wahnsinnig neugierig, aber er übt sich in Geduld.
„Sag mir nur eins, Max. Ist es etwas sehr Ernstes? Brauchst du mich als Onkel oder als Anwalt?"
Ich überlege einen Moment.
„Nicht ich sondern wir brauchen dich – als Berater und vielleicht auch als Anwalt. Aber vor allem brauche ich dich als Mensch und Onkel, weil ich grade echt nicht weiter weiß und das Gefühl brauche, dass ich nicht ..., dass wir nicht alleine dastehen."
Tante Jana bringt die Kleinen ins Bett und übergibt den Stafelstab an Lasse, als es klingelt. Dr. Fahrendorf hat die beiden Briefe an Anni dabei und dreht sie nachdenklich zwischen den Händen, als er sich neben mich setzt. Tante Jana bietet ihm was zu trinken an.
Und dann bin als erstes ja wohl ich dran.
Es fällt mir nicht leicht, von Anni und mir zu erzählen. Es ist sogar verdammt schwer zu beichten, was für einen Bockmist ich im Herbst gebaut habe. Dann kommt Silvester.
Tante Jana und Onkel Thorsten hören die ganze Zeit ruhig zu, unterbrechen mich nicht, Onkel Thorsten macht sich Notizen. Als ich erzähle, welchem Zufall es zu verdanken war, dass ich überhaupt bemerkt habe, dass Anni auch da ist, dass da jemand ist, der Hilfe braucht, halten beide die Luft an. Schließlich erzähle ich auch von unseren Ausflügen, von der Selbstdisziplin, die wir aufbringen müssen, bei den Anreden, bei Blicken und Worten.
Zum ersten Mal schaltet sich Tante Jana ein.
„Ach. DAS war Wuppertal. Das Konzert in der Kneipe. Du warst so glücklich, als du mir davon erzählt hast ..."
Ich nicke und lächele.
Ja, es war ein wundervoller Abend.
„Am vergangenen Wochenende waren wir zum ersten Mal zu Viert unterwegs, bei einem Baumwipfelpfad im Bergischen Land."
Onkel Thorsten hakt nach.
„Zu Viert?"
Dr. Fahrendorf antwortet jetzt.
„Frau Süß und Frau Tucher sind seit ihrer Kindheit eng befreundet. Sie wohnen auch zusammen. Und Frau Tucher ist ‚meine' Referendarin. Tja – wir haben das selbe Problem wie Max und Frau Süß ... Wir dürfen nicht, wie wir wollen, weil ich ihr am Ende des Jahres Prüfungen abnehmen muss. Wir sind ebenfalls ein Paar, das nicht sein darf."
Zum ersten Mal zucken Onkel Thorstens Augenbrauen für einen ganz kurzen Moment nach oben, während er sich was aufschreibt.
„Dann bin ich jetzt sehr neugierig, warum Sie alle Ihre Tarnung uns gegenüber aufgeben, obwohl es doch ganz gut zu laufen scheint. Und warum hier die ganze Zeit so eine tiefernste Stimmung ist."
Wir schauen uns kurz an, dann zücken wir die beiden ersten Briefe.
„Weil es eben nicht gut läuft. Am Dienstag sind diese beiden Briefe bei Frau Süß und bei mir angekommen."
Ich reiche ihm die zwei Umschläge, er öffnet sie und pfeift durch die Zähne.
„Netter Mensch! Das ist aber echt unangenehm. Du bist noch nicht achtzehn."
„Ja genau. Ich bin noch nicht achtzehn, was die ganze Sache für Frau Süß, ... für Anni erheblich brenzliger macht. Aber darüber hinaus ... Ich weiß nicht, was es ist. Nur Frau Tucher weiß es. Aber ich weiß, DASS irgendwann in Annis Leben etwas war, was sie extrem traumatisiert hat. Und ihre Reaktion auf diese Briefe am Dienstag war ... der blanke Horror. So beobachtet zu werden, so die Kontrolle über das eigene Tun und Handeln zu verlieren, hat sie völlig von den Beinen gerissen. Ich habe einfach ganz große Angst um sie. Und darum brauchen wir Hilfe, damit wir das hier ganz, ganz schnell in den Griff bekommen."
„Darf ich noch ein paar Fragen stellen? - Nein, anders. Zunächst möchte ich dir und Ihnen versichern, dass ich von dieser Aktion zwar nicht begeistert bin. Dass ich aber genau Sie drei Lehrkräfte durch das ganze Geschehen mit Frau Hartmann als besonders integre, gerechtigkeitsliebende Menschen mit viel Verstand und Herz kennen gelernt habe. Mein Bauch sagt mir, dass Sie alle vier tatsächlich in keinster Weise versuchen, die Konstellation für sich auszunutzen, Noten und Prüfungen zu manipulieren oder sonst was. Das ist jetzt pauschales, blindes Vertrauen. Aber – ich kenne Max. Er lügt nicht. Und er hat zuviel Hirn UND zuviel Herz, um pubertären Unsinn zu veranstalten oder sich in eingebildeten Gefühlen zu verrennen.
Also – was ist nach dem Dienstag passiert? Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen? Haben Sie irgendetwas beobachtet, was zu diesen Fotos passen könnte?"
Wir erzählen von der unbekannten Frau vor dem Krankenhaus und dem Wagen aus Essen, der uns gefolgt ist, wir zählen auf, welche Schlüsse wir selbst schon gezogen haben. Und wir reichen Onkel Thorsten die zweiten Briefumschläge rüber. Wieder nimmt er sich Zeit, um sie genau zu betrachten.
„Tja, da würde ich mal sagen – da besteht kein Zweifel mehr. Sie haben sich einfach zu sicher gefühlt. Aber ich bin sehr froh, dass Sie sich entgegen der deutlichen Ansage sofort zusammen gesetzt haben und jetzt hier sind. Selbst, wenn es nicht drin steht, ist es massiver Psychoterror und auch eine Form von Erpressung, denn ausgeschlossen ist die Erpressung ja auch nicht ausdrücklich. Das ist ein Mensch mit viel krimineller Energie und einem diebischen Vergnügen an Sadismus. Die kurzen Begleittexte sind beeindruckend fies."
Im Brief zu dem Kinobild steht: „Im Dunkeln lässt sichs sicher gut munkeln. Und Kuscheln. Oder?"
Und zu den Bildern von Anni und mir steht da: „Hach, ist das herzig. Aber eigentlich ist das ja weniger Sport oder Mathe sondern eher Biologie-Unterricht, oder trauen Sie sich noch nicht?"
Jedesmal, wenn ich diese zwei Sätze lese, knirsche ich wieder mit den Zähnen vor Wut. Ich werde nichtmal rot dabei. Ich werde einfach nur richtig, richtig sauer.
Erst, als ich wieder hochschaue, merke ich, wie still es im Raum ist und dass Onkel Thorsten mich stumm beobachtet.
„Du wirkst wütend, aber überhaupt nicht peinlich berührt dabei. Das beeindruckt mich."
„Wenn mich da irgendwas peinlich berührt, dann die Schamlosigkeit, mit der Annis Redlichkeit hier in den Schmutz gezogen wird."
„Aber es ist dir schon klar, dass diese Fotos erstens illegal aufgenommen wurden, zweitens nur bedingt aussagen, was die Briefe suggerieren wollen, und drittens nur so viel Schaden anrichten können wie ihr zulasst?"
Dr. Fahrendorf hat eine Weile nur zugehört und beobachtet.
„Das ist eine unserer Fragen. Sollte das alles sein, was diese Person in der Hand hat, was kann sie damit ausrichten? Was genau sagt das Schulrecht darüber aus, was wir dürfen oder auch nicht. Welche Konsequenzen drohen mir, Frau Tucher und ganz besonders Frau Süß? Vor allem sie muss schnell Entlastung erfahren, weil sie, wie Max schon angedeutet hat, schulisch grade extrem belastet und gleichzeitig psychisch sehr verunsichert ist."
„Ich kann nicht versprechen, dass das schnell geht. Kann man denn an den anderen Belastungen etwas drehen?" Mir kommt schon wieder die Galle hoch über den Direx.
„Das ist ja das Problem. Zum einen hat sie eine Altlast, die keiner von uns kennt außer Frau Tucher. Und ich bestehe darauf, dass weder ich noch irgendjemand anderes davon etwas erfährt, solange Anni das nicht will. Und zum anderen hat sie im Herbst versucht, sich wegzubewerben, grade damit wir NICHT in diese Situation kommen. Dr. Miegel hat sie aber nur halb gehen lassen. Er hat ihr die Pistole auf die Brust gesetzt, dass sie uns unbedingt noch bis zum Abitur begleiten soll – also genau das, was sie eigentlich zu unserem Schutz beenden wollte, damit wir uns eben nicht in dieser rechtlich bedenklichen Situation befinden. Stattdessen muss sie sich jetzt in das Feld Sonderpädagogik einarbeiten, eine fremde Klasse führen. Hat zwei Klassen, zwei Kollegien, Zwei Systeme, zweimal Konferenzen, zweimal Elternsprechtage und so weiter. Sie muss an vier Tagen in der Woche zwischen den Schulen hin und her fahren, sie schafft das nur mit Auto, was sie gar nicht will. Sie musste sogar darum kämpfen, dass sie nicht auch noch an beiden Schulen für Vertretungsstunden und Pausenaufsichten verschlissen wird. Kurz: sie wird grade zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben. Und jetzt das obendrauf."
Onkel Thorsten schüttelt den Kopf.
„Gut. Das ist noch eine wichtige Information. Sie, Dr. Fahrendorf, haben vorhin gesagt, dass Sie morgen zu Dr. Miegel gehen und um andere Tutoren für Frau Tucher bitten werden. Das ist meines Erachtens nach genau der richtige Weg, Ihre Beziehung ist jung, sie wollen alles richtig machen und legen darum alles ehrlich offen. Sollten Sie Hilfe brauchen – ich bin da.
Ich werde für beide Fälle meine Kollegin mit dem Schwerpunkt Arbeitsrecht darauf ansetzen, das alles möglichst gründlich zu überprüfen, damit vor allem Frau Süß durch Sachlichkeit beruhigt werden kann. Außerdem werde ich mich mit ein paar Freunden mit den richtigen Berufen beraten, was wir mit dieser XYZ machen können. Wir müssen die Person finden, überführen und unschädlich machen, damit die nächsten Monate für Sie alle in ruhigerem Fahrwasser laufen können. Max braucht Ruhe fürs Abi, Frau Süß braucht wieder Sicherheit, Frau Tucher braucht ihre Kraft fürs Referendariat. Dass Frau Süß von alleine versucht hat, die Situation rechtlich korrekt aufzulösen, ist ein großer Vorteil, damit kann ich argumentieren. ... Kann ich die Umschläge nochmal sehen?"
Dr. Fahrendorf und ich reichen ihm die Umschläge nochmal an. Er nimmt sich einen, leert ihn aus und betrachtet ihn.
„Diejenige hat versucht, möglichst keine Spuren zu hinterlassen. Nichts Handschriftliches, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht der eigene Drucker. Kein Klebstoff, NoName-Ettiketten, Standardschrifttype, Billigumschlag. Soweit so gut."
Dann schleicht sich ein Grinsen in sein Gesicht.
„Aber dumm wie Stroh ist sie wohl trotzdem."
Mit diesen Worten knipst er seine starke Schreibtischlampe an und hält den aufgeklappten Umschlag ganz dicht davor.
„Bingo!"
Mit jedem Umschlag, den er vors Licht hält, sieht er zufriedener aus.
„Jetzt bleibt nur noch die Frage, wer eure Feindin ist, die da ihre Fingerabdrücke im Klebstoff der Ettiketten hinterlassen hat. Mit staubigen Fingern."
Dr. Fahrendorf, Tante Jana, die sich die ganze Zeit zurückgehalten hat, und ich fahren von unseren Stühlen hoch.
„Waaaas???"
„Tja. Um selbstklebende Ettiketten von ihrem Trägerpapier abzuziehen und irgendwo hinzukleben, MUSS man sie von beiden Seiten anfassen. Irgendwie. Und diese Person hat nichtmal versucht, das vorsichtig zu machen. Volle Lotte drauf. Sehr schöne Abdrücke, herrlich konserviert in Klebstoff."
Ich falle Dr. Fahrendorf spontan um den Hals, und der atmet sehr tief durch.
„Jetzt bleibt nur noch die Frage: wer ist ihre Feindin und hat Tag und Nacht Zeit, Sie alle zu beschatten? Eine Idee?"
Wir starren Onkel Thorsten sprachlos an.
„Wer hat schon mal einige kriminelle Energie bewiesen? Ist suspendiert und hat darum extrem viel Zeit? Weiß genau, wer von Ihnen wie zu wem steht? Wer wo wohnt? Wer wie alt ist und welchen Status hat? Und hat mit Sicherheit eine große Portion Hass im Bauch?"
Dr. Fahrendorf ballt die Hände zu Fäusten.
„Dieses Miststück!"
Wir haben gar nicht mehr lange geredet. Dr. Fahrendorf ist zu Frau Tucher und Anni gefahren, um von dem Gespräch und unserem Verdacht zu berichten. Tante Jana hat mich fest in die Arme genommen und einfach gehalten. Und Onkel Thorsten hat sich umfangreiche Notizen gemacht, welche Schritte er jetzt sofort gehen will oder muss. Tante Jana geht schließlich raus, und ich will mich ihr schon anschließen, um mich nochmal an die Bücher zu setzen. Da hält Onkel Thorsten mich zurück.
„Max? Kannst du noch einen Moment hier bleiben?"
Ich mache auf dem Absatz kehrt, schließe die Tür und setze mich wieder vor seinen Schreibtisch.
„O.K. Pass auf – sag mir bitte, wer alles wieviel von euren Beziehungen weiß, weil ihr selbst das so wolltet. Und – ich finde das unangenehm, vor allem für dich, denn du bist jung und vielleicht noch unsicher dabei. Ich muss leider fragen, welcher Art deine Beziehung zu Frau Süß ist, und wie ihr beide selbst bisher ganz persönlich mit eurem Problem der Straftat umgegangen seid."
Ich hole tief Luft und könnte mich jetzt wahrscheinlich bei den bordeauxroten Vorhängen am Fenster prima unsichtbar machen.
„Ist ... das o.k., wenn ich dich dabei nicht ansehe? Ich ... glaub ..."
„Kein Problem, Max. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die Antwort kenne, denn Jana hat einfach zu gelassen reagiert, um nichts zu wissen."
Er zwinkert mir zu, und ich schließe die Augen.
„Also – Als wir von der Survivalwoche wiederkamen, war ja der Rauswurf wegen dieses Briefes. Und da ist mir so die Birne durchgebrannt, dass ich nur zwei Tage nach dem ersten Kuss ... Anni praktisch das Herz im Leibe rumgedreht habe, weil ich ihr die Schuld für diesen blauen Brief gegeben habe. Und danach war natürlich erstmal schmerzhafte Funkstille und Selbstbeherrschung angesagt.
Frau Tucher hat es von Anfang an gewusst, weil sich die beiden einfach so gut kennen. Und mir haben Moritz und Paul auf den Zahn gefühlt, weil sie kapiert haben, dass da was passiert sein musste. Ich wollte wirklich Lasse da raushalten, denn sie ist auch seine Lehrerin. Aber die beiden anderen sind mir hier auf die Pelle gerückt, und Lasse ließ sich einfach nicht raushalten. Schon Milly weiß nichts, auch nicht Sebastian, Antoine - wir haben niemand sonst etwas davon erzählt. Und Frau Tucher hat auch nur irgendwann Dr. Fahrendorf eingeweiht.
Onkel Uwe hat im Oktober und November viel mit mir gearbeitet, viel für meine Facharbeit reflektiert und mich mit der Nase auf mich selbst gestoßen. Er weiß von Anni und dem ganzen Fiasko. Wir haben viel darüber gesprochen. Darum habe ich auch einen Verdacht, was Anni so traumatisiert haben könnte, aber ich habe ihr versprochen, dass ich niemals bohren werde, bis sie es mir sagen will."
Ich stehe auf und gehe zum Fenster, bevor ich stockend weiter rede.
„Ich ... bin siebzehn Jahre alt, habe wohl in den letzten Jahren ab und zu mit einem Mädel geflirtet, aber ... ich ... bin sozusagen noch Jungfrau. Anni ist vierundzwanzig Jahre alt und hat mit Sicherheit sexuelle Erfahrung. Aber wir sind da noch nie ins Detail gegangen. Da sind Schmetterlinge, da ist Sehnsucht und – ja, auch Lust. Aber wir haben den Ball in dieser Hinsicht von Anfang an flach gehalten. Wir sind uns völlig einig, dass wir erst mit Anstand mein Abi hinter uns bringen wollen. Wir wollen all diesen Druck, alle rechtlichen Zweifel ganz los sein, bevor ... wir ... Wir wollen diesen Schatten, diese Unsicherheit nicht über uns haben sondern frei unsere Beziehung leben können und uns sensibel kennen lernen können.
Falls wir im Sommer, wenn ich mein Zeugnis in der Hand habe und offiziell nicht mehr ihr Schüler bin, immernoch ein Paar sind und eine gemeinsame Zukunft für uns sehen können, dann werden wir aufatmen und ... und ... genießen, was wir uns noch alles schenken können. Aber noch sind es nur die zwei K's – Küssen und Kuscheln. Sonst nichts. Und das funktioniert erstaunlicher Weise total gut. Unser Bedürfnis, wo die Grenze ist, ist sehr ähnlich. Wir fühlen uns damit beide wohl und sicher."
Sch..., ist das schwer.
Ich habe gar nicht gemerkt, dass Onkel Thorsten aufgestanden ist. Erst, als er mir seinen Arm um die Schulter legt, um mit mir in die Dunkelheit zu starren, komme ich ruckartig zurück in die Wirklichkeit.
„Du beeindruckst mich. Ich kann spüren, wie eng und sensibel das Band zwischen dir und deiner Anni ist. Wie verantwortungsbewusst du damit umgehst. Wie gut du auf sie UND auf dich selbst aufpasst. Wieviel du von Uwe über dich und für dich gelernt hast. Wie reflektiert du mit deinen Fehlern umgehst. Wie wundervoll du auf deinen Vater zugehst und ihm die Rückkehr leicht machst. Du bist besonders, Max."
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1.1.2021
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