058 ** zwischen Hoffen und Bangen ** Mo. 30.9.2019
Hoffentlich verliert Jenny nicht bald die Geduld mit mir. Sie hat sich gleich am Samstag mit ihren frischen Eindrücken und Notizen an ihre Hausarbeit über die Projektwoche gesetzt. Ich habe derweil geheult, mit Kollegin Schiller die Matheklausuren fertig korrigiert und benotet, geheult, Eis gefressen, geheult und gefühlt 536.899 mal eine Nachricht an Max angefangen und wieder gelöscht. Und dann noch mehr geheult. Dazwischen hat mich die verdammte Stimme von einer Ecke meines Hirns in die andere gejagt und einfach nicht locker gelassen. Ich habe mich schon lange nicht mehr so hilflos gefühlt, aber dagegen komme ich einfach nicht an.
Noch am Freitag hat mir das Steinchen gemailt, dass mich Herr Seitz vom Schulelternbeirat wegen des Briefes dringend erreichen möchte. Aber ich habe mich nicht gerührt. Tilt. Game over. Sacken lassen. Erst heute Morgen habe ich ihm eine Mail geschrieben, dass ich gerne seine Fragen beantworte.
Ist doch sinnlos, da jetzt zu mauern. Ich habe so sehr um Max gekämpft, warum sollte ich jetzt damit aufhören? Ich muss da jetzt helfen, denn es geht ja auch um alle anderen Schüler, die sie auf dem Kieker hatte und hat. Solange ich dabei nicht schon wieder Max begegne, krieg ich das hin. Die Wut auf dieses Weib ist allemal groß genug. Aber das muss ich irgendwie steuern ...
Jetzt ist es Montag Mittag, und ich hocke wie paralysiert auf unserem Sofa, ganz vorne auf dem Punkt, von dem aus man die Wohnungstür sehen kann ... Es ist total bekloppt, aber ich hypnotisiere den Summer unserer Klingelanlage und weiß nicht, was ich hoffen soll. Dass Max um 15.00 Uhr wie immer zur Nachhilfe kommt, sich entweder bei mir entschuldigt oder den Trotzkopf miemt und mir damit das Messer in der Brust rumdreht? Oder dass er zu feige, zu krank oder zu verwirrt ist, deshalb nicht kommt und ich in seliger Ungewissheit weiter vor mich hin vegetiere? Ich fühl mich ganz wackelig, weil ich heute noch nichts gegessen habe - nicht mal Eis.
Jenny hat recht.
Sie hat ihr Versprechen gehalten und nicht wieder von einem Schulwechsel geredet. Aber wenn ich ehrlich bin mir selbst gegenüber, dann habe ich gar keine andere Wahl, wenn ich nicht im Laufe der nächsten Monate innerlich verrecken will. Ganz egal, ob Max sich wieder einkriegt oder nicht - das war jetzt das zweite Mal, dass er mir gegenüber so ausgeflippt ist, ohne nachzudenken, und ich werde ihm nicht noch einmal wieder so schnell vertrauen können. Zu schmerzhaft sind die alten und die neuen Wunden. Zu sehr peinigt mich die Stimme wieder. Auch heute halte ich sie ja nur mühsam in Schach.
Ob wir nun zusammen sind oder nicht, es wird auf jeden Fall zur Tortur, in der Schule ununterbrochen so zu tun, als wäre da nichts. Das zerbricht uns beide. Ich habe aber nicht so sehr um ihn gekämpft, damit er jetzt wegen mir scheitert. Also muss ich zusehen, dass ich zum Halbjahr spätestens verschwinde. Wenn ich vernünftige Ideen habe, wem ich meine Kurse anvertrauen kann, und wenn ich eine annehmbare Stelle hier in der Nähe finde, dann muss ich das nutzen. Vielleicht finde ich eine Mutterschutzvertretung oder sowas.
Dr. Miegel hat mich nach dem Referendariat sowieso nur deshalb übernommen, weil klar war, dass nur ein Jahr später die Stelle von Frau Hartmann neu besetzt werden muss. Er hat mir allerdings im Sommer auch signalisiert, dass er sich nicht wehrt, wenn ich für ein Jahr an eine andere Schule gehe, denn ich bin im Besetzungsschlüssel eigentlich überflüssig. Er hat getan, als wäre das eine riesige Gnade, dass er mir armen Anfängerin einen Job verschafft. Dabei weiß jeder, dass zur Zeit eklatanter Lehrermangel herrscht. Er wollte einfach nur sicher gehen, dass er mich an der Angel hat, sobald die Stelle von Frau Hartmann neu besetzt werden muss. Ich wollte eben gerne bleiben und bin darum auf dieses seltsam schwebende Angebot eingegangen.
Um 13.00 Uhr kommt Jenny aus ihrem Zimmer, geht in die Küche und stellt nach einer Weile wortlos eine Schüssel Salat vor mich. Wir essen schweigend. Wenigstens das Essen tut mir gut. Dann nimmt sie mich kurz und feste in die Arme, bevor sie wieder in ihrem Zimmer verschwindet.
Puh - ich werde noch irre vom Warten.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so unproduktiv durch einen Tag geschlittert bin.
15.00 Uhr. Ich weiß überhaupt nicht, wo die zwei Stunden geblieben sind. Ich muss ganz weit weg gewesen sein. Ich brauche meine ganze Kraft, um nicht direkt hinter der Wohnungstür zu lauern oder - noch schlimmer - auf die Straße zu rennen. Umsonst, die Wohnungstür zieht mich magisch an. Endlos dehnen sich die Minuten. 15.10 Uhr. Mir sinkt das Herz in die Hose.
Er kommt nicht.
Ich will mich grade umdrehen und frustriert in mein Bett schleichen und weiterheulen, da klingelt es.
Mach langsam!
Warum??? Er soll wissen, dass ich ihn vermisse!
Bist du so dumm, oder tust du nur so? Entweder weiß er das von alleine, oder er will das gar nicht wissen.
Halt die Klappe! 10, 9,8,7,6, ... 0.
Ich drücke auf den Türsummer und warte einen Augenblick. Als ich die Tür öffne, steht Max schon davor und schaut auf den Boden. Er sieht so verspannt aus, wie ich mich fühle. Nach einer kleinen Ewigkeit hebt er den Blick, und ich halte intuitiv den Atem an.
Diese Augen! Die sind noch mein Untergang.
Seine Augen glühen vor Schmerz, genauso wie mein Herz.
Ich trete zur Seite und lasse Max rein. Er zögert, atmet tief durch und geht an mir vorbei ins Wohnzimmer. Ich folge ihm, schließe die Wohnzimmertür und setze mich neben ihn. Er sortiert seine Matheunterlagen. Ich kann nur flüstern.
„Max?"
Er schaut mich nicht an.
„Ja?"
„Bitte! Rede mit mir, sag mir, wie es dir geht. Ob ich was tun kann. Ich ..."
Stur starrt er in sein Heft.
„Ich kann das nicht. Ich fühle noch genauso wie am Donnerstag, aber wir haben uns einmal zu oft gestritten und aneinander vorbei geredet. Das reißt uns doch beide in Stücke. Ich glaube, es ist besser für uns, wenn wir den Reset-Knopf drücken und uns auf Mathe konzentrieren. Das tut weniger weh."
Ich verlasse wortlos den Raum, wie mit Zentnerlast beladen.
Da ist es - das Furchtbare, vor dem ich so Angst hatte ...
Ich gehe zu Jenny, stecke den Kopf durch ihre Tür und mache das Daumen-nach-unten-Zeichen. Sie schaut mich an und sagt nur ein Wort.
„Vollidiot!"
In der Küche pumpe ich eine halbe Flasche Wasser ab, um Zeit zu gewinnen. Meine Augen brennen, aber ich mache innerlich dicht - ich darf da jetzt nicht mit verheulten Augen reingehen. Dann gehe ich zurück zu Max und schalte energisch auf Profi um.
„Deine Klausur hat tatsächlich in Absprache mit Frau Schiller 5 Punkte. Sie wird auch die Begründung schreiben. Möchtest du heute ..."
Ich schließe die Augen.
Sage ich jetzt Du oder Sie? Was will er jetzt?
Kannst du dich bitte mal fragen, was DU willst???
Ruhe auf den billigen Plätzen!
Masochist!
Ich bleibe erstmal beim Du. Soll er doch was anderes einklagen.
„Möchtest du heute gleich die Korrektur der Klausur machen? Dann sprechen wir die Aufgaben gemeinsam durch. Oder ..."
„Das werden wir doch sicher zusammen im Unterricht machen, oder? Dann würde ich gerne mit den Grundlagen weitermachen. Ich habe das Gefühl, dass mir dieser Durchmarsch tatsächlich gut tut. Mit dem neuen Fundament fühle ich mich sicher."
blablabla ...
Wir ackern uns mal wieder durch Funktionen und Gleichungen, ich lobe ihn für alles, was schon hängen geblieben ist. Max ist scheinbar konzentriert und sachlich. Aber wenn er glaubt, dass ich nicht hinsehe, dann zittern seine Hände, und ihm steht das Wasser in den Augen.
Was für eine Tortur! Ich muss echt weg.
Nach zwei Stunden sind wir beide total ausgelaugt und am Ende.
„Lass uns Schluss machen für heute. Wir sollten es langsam angehen lassen, sonst halten wir das nicht durch."
Max nickt, packt seine Sachen und verschwindet in den Flur. Ich höre nur noch:„Bis Mittwoch."
Dann ist er weg. Und ich breche heulend auf meinem Stuhl zusammen, während mich Ängste und diese verfluchten alten, kräftezehrenden Erinnerungen überschwemmen. Irgendwo in einer Ecke meines Hirns höre ich die Stimme gehässig kichern.
Am Dienstag treffe ich mich mit Herrn Seitz in der Schule, um ausführlich seine Fragen zu beantworten. Der Mittwoch kommt und geht. Am Donnerstag werde ich vom RP angerufen und erzähle wieder all meine Geschichten. Der Freitag kommt und geht. Die erste Ferienwoche ist geschafft. Jetzt ist Samstag. Noch eine Woche Ferien. Aber nach der zweiten Ferienwoche kommt die lange Zeit bis Weihnachten, und die wird echt grausam.
Vielleicht sollte ich in der zweiten Ferienwoche ein paar Tage Max-Pause machen und wegfahren.
Kurzerhand schreibe ich Max eine SMS, dass ich in der zweiten Woche erst am Freitag wieder mit ihm arbeiten kann, und dann mache ich mein Handy aus. Stattdessen werfe ich mich an den PC und fange an, nach Lehrerstellen für Sport und/oder Mathe in Essen und Umgebung zu suchen.
Bescheuerte Kombination, wieso hab ich so was Exotisches studiert??? Da ist echt nichts zu finden.
Seufzend klicke ich auf die Stellenangebote für Sonderschulpädagogen, obwohl ich das eigentlich nur aus Neugierde dazustudiert und nie ernsthaft ins Auge gefasst habe. Und - bingo! Bei der Helen-Keller-Schule in Stoppenberg mit dem Förderschwerpunkt „körperliche und motorische Entwicklung" ist eine Schwangerenvertretung für ein halbes Jahr ab Januar ausgeschrieben. Diese Schule ist zwar am A... der Welt, und das ist mit dem Fahrrad echt eine Herausforderung. Aber so habe ich wenigstens eine vernünftige Begründung für den kurzzeitigen Wechsel: Ich will mein Nebenfach ausprobieren und dem Wunsch des Direx entgegenkommen, weil ich ja eigentlich sowieso zuviel bin.
Ich drucke mir alle Daten zur Schule, die Ausschreibung und gleich einige meiner Bewerbungsdokumente aus - und fange schon wieder an zu heulen. Kopf und Herz tragen den dritten Weltkrieg in meinem Kopf aus. Dann schreibe ich - bevor ich es mir noch anders überlege - eine Mail an Dr. Miegel mit der Bitte um einen Termin am Donnerstag oder Freitag, um ihn zu informieren und mit ihm die Rahmenbedingungen festzuklopfen.
Bloß weg - wir machen uns sonst gegenseitig total kaputt!
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11.11.2020
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