013 * Eiszeit * Do. 8.8.2019
Als ich zu Hause ankomme, sind meine Beine wie Pudding, ich kann kaum noch durchtreten. Nur nach und nach wird mir bewusst, was da grade abgegangen ist.
Er hat der Süß ins Gesicht gesagt, dass er sie für inkompetent hält! Der hat echt'n Sockenschuss.
Mit letzter Kraft schiebe ich mein Fahrrad in die Garage, schlurfe zur Haustür, schließe sie auf und lasse drinnen einfach alles fallen. Leise kommt Tanja aus der Küche.
„Dein Vater ist nochmal ins Büro gefahren, und ich bin nicht böse drum. So können wir beide uns erstmal in Ruhe von der Schlacht bei Waterloo erholen. Frau Süß war Wellington, ich Blücher und du Ziethen aus dem Busch. Aber wir haben es geschafft. Magst du einen Kakao?"
Ich nicke stumm und lasse mich im Wohnzimmer aufs Sofa plumpsen. Ein paar Minuten später kommt Tanja mit zwei dampfenden Tassen ins Wohnzimmer. Kakao ist das einzige Getränk, das ich zu jeder Jahreszeit heiß trinken kann. Ich liebe es, und sie weiß das.
„Danke, dass du dich so weit für mich aus dem Fenster gelehnt hast. Hoffentlich ist Papa jetzt nicht total sauer auf dich."
„Ist er. Egal. Er war dermaßen unhöflich, dass ich am liebsten vor lauter Fremdschämen unter den Tisch gekrochen wäre. ... Deine Lehrerin hat mich wirklich beeindruckt. Sie scheint so jung zu sein, und doch hat sie so viel Klarheit und Sicherheit und festen Willen ausgestrahlt. Sie hatte das Gespräch zu jeder Zeit in der Hand."
„Jaaaa, sie ist ziemlich rational. Und auch ziemlich jung. Sie hat uns das mal bei einem Kursgrillen verraten, weil wir alle ziemlich neugierig waren. Sie wird dieses Jahr erst 24. Ich glaub, irgendwie demnächst. Letztes Jahr um diese Zeit rum hat sie uns deswegen einen Kuchen mitgebracht."
Eine Weile schlürfen wir nur an unseren Kakaos und kommen erstmal runter. Da fängt mein Handy an, wie wild zu brummen.
„Hast du deinen Kumpels schon Bescheid gesagt?"
„Nö. Das werden sie sein."
„Gut, ich lass dich damit allein. Grüß sie von mir. Ich hab dann nachher noch eine Frage an dich."
Schnell gehe ich auf den Trainings-Chat und mache eine Sprachnachricht. Nur zwei Minuten später kriege ich eine beachtliche Menge an allerlei kreativen, enthusiastischen und ausgeflippten Emojis und Memes von Lasse, Paul, Moritz und Luis geschickt. Und noch zwei Minuten später hampeln drei Ausgeflippte vor unserem Wohnzimmerfenster rum.
Wo kommen DIE denn so schnell her? Ohh, die haben bestimmt bei Lasse gewartet.
Breit grinsend mache ich ihnen die Terrassentür auf und lasse mich stürmisch umärmeln.
„Hei, lach doch mal!"
„Ganz ehrlich? Ich bin viel zu müde zu allem. Die Süß hat eine wahre Schlacht für mich geschlagen, Tanja hat Papa zweimal zurückgepfiffen. Und alleine das meinen-Mund-Halten war so unglaublich anstrengend, dass ich total weiche Knie hatte. Ich bin ungelogen kaum nach Hause gekommen."
Ich schaue zum ersten Mal auf die Uhr und staune. Es ist grade mal 17.45 Uhr. Dabei hatte sich das Gespräch angefühlt wie ein Marathonlauf von quälenden fünf Stunden.
„Jungs, eine Sache müssen wir noch machen. Meine Nachhilfe wird freitags immer einfach in der Schule in den Freistunden sein. Aber sie will morgen mit mir meinen Wochenplan aufstellen unter Berücksichtigung von Tanztraining und Lerngruppenzeiten, damit wir noch zwei weitere Termine finden können. Lasst uns mal eben unsere Stundenpläne vergleichen und überlegen, wie wir die Lerngruppen organisieren."
Ich hole meinen Stundenplan, die beiden anderen skizzieren ihre grob mit Anfangs- und Endzeiten. Lasse schmeißt gleich Termine in die Runde.
„Tanztraining ist am Dienstag und Freitag ab 17.00 Uhr und Sonntag Nachmittag."
„Habt ihr Dienstag auch so kurz wie ich? Dann könnten wir da vor das Training noch Lerngruppenzeit einschieben, weil uns trotzdem genug Zeit für Hausaufgaben bleibt."
„Gut, dann sind noch Montag, Mittwoch und Samstag frei, zur Not Donnerstag. Welche Fächer wollen wir denn als Gruppe lernen?"
„Ich kann Deutsch und Geschichte übernehmen."
„Dann mach ich Naturwissenschaften und Erdkunde. Da müssen wir ein bisschen schachteln, weil wir nicht alle alles haben."
„Und ich mach die Sprachen - Englisch und Spanisch. Das passt."
„Naja, Mathe müsst ihr dann irgendwann anders ohne mich machen, da bin ich ja in der Sonderschleife. Aber dafür müssen wir für Sport keine Lerngruppe machen. Wir müssen uns nur zusammensetzen und genau auskaspern, wer über was seine Facharbeit schreibt, damit wir uns nicht in die Quere kommen und Plagiarismus vorgeworfen bekommen. Aber das hat Zeit."
Wir müssen grinsen.
„Also sieht der Plan wohl so aus, dass wir eine Lerngruppe am Samstag reinnehmen, das ist dann etwas entspannter. Und ich würde gerne den Dienstag übernehmen vorm Training, da hat die Süß nämlich in der Regel Konferenzen."
„O.K., dann ist Max am Dienstag dran, ich nehme den Samstag."
„Und ich schlage vor, dass wir dann einfach den Donnerstag dazwischen für die dritte Zeitschiene nehmen."
Ich schaue mir meinen Stundenplan an, und es läuft mir kalt den Rücken runter. Wenn die Süß da auch Zeit hat, dann heißt das: Montag 8 Stunden plus Mathe. Dienstag 5 Stunden plus meine Lerngruppe "Geisteswissenschaften" und Training. Mittwoch 5 Stunden und Mathe. Donnerstag 8 Stunden und Moritz Lerngruppe "Naturwissenschaften". Freitag 8 Stunden inklusive Nachhilfe plus Training. Samstag dritte Lerngruppe "Sprachen" bei Paul. Sonntag Training. Dazu alle Hausaufgaben, die eigene Lerngruppe vorbereiten für die anderen, die anderen Lerngruppen nachbereiten. Und die Facharbeit.
„Maaaaax. Los jetzt. Kuck nicht so trüb. Nicht schwächeln! Wir haben ein Ziel. Und wir werden alles tun, damit wir das gemeinsam erreichen."
Da muss ich doch grinsen.
„Ich glaube, ich erreiche heute nur noch mein Bett. Schon den Umweg übers Klo muss ich mir nochmal gut überlegen. Ich hätte nie gedacht, dass still sitzen, keine Miene verziehen und die Schnauze halten sooo anstrengend sein kann."
Lachend verabschieden sich meine drei Freunde, und ich krieche tatsächlich nur noch in mein Zimmer und in mein Bett. Lange Ruhe habe ich allerdings nicht, denn Papa kommt nach Hause, und kurz danach wird zum Abendessen gebimmelt. Ich will ihn nicht noch mehr reizen und beeile mich deshalb runterzugehen. Aber das war wohl für die Füße. Ich habe das Gefühl, mit jeder Treppenstufe sinkt die Raumtemperatur um mindestens zwei Grad, so wie mein Vater mich von unten stumm und vorwurfsvoll anschaut. Stur ignoriert er mich während des gesamten Essens, und auch mit Tanja geht er nicht grade zimperlich um. Da krieg ich schon gleich wieder ein schlechtes Gewissen.
Dann bölkt er mich aus heiterem Himmel an.
„Und dass das klar ist: wehe, ich schmeiße mein Geld umsonst dieser Zicke in den Rachen!"
Mit diesen Worten dampft er ab und hilft nichtmal beim Abdecken, wie er es sonst tut.
Puh – Eiszeit im Hause Gersten-Frey.
„Max, ich komme nachher nochmal kurz zu dir. Flitz schon ab, ich mache die Küche alleine."
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und sause die Treppe hoch. Ich mache mich bettfertig, und während ich auf Tanja warte, habe ich eine Idee. Ich schnappe mir mein Handy und gehe auf den Chat mit Frau Süß.
Hm – wie speichere ich die denn ein? ... Na, wie schon – Mathezwerg.
Dann suche ich mir einen ganzen Haufen Emojis zusammen und lasse die Sektkorken knallen. Ich mein – ich seh sie ja morgen, aber ich will mich jetzt einfach schonmal ein bisschen bedanken.
Schnell klappe ich die Augen zu und bin schon fast weggedöst, als Tanja klopft und reinkommt. Sie setzt sich einfach auf meine Bettkante, wie sie es schon immer getan hat.
„Max, ich hab jetzt sogar zwei Sachen. Das eine ist: ich habe vorhin schnell gegoogelt, was der festgesetzte Tarif für Nachhilfestunden bei Lehrern ist. Es sind sogar 80,-€. Darum habe ich beschlossen, dass ich doch auch zu jeder Stunde 10,-€ dazugeben werde. Keine Widerrede! Sag ihr das bitte."
„Klar, mach ich."
„Und das andere – könntest du mir sagen, was diese ehemalige Mathelehrerin gegen dich hat, dass sie zu solch mittelalterlichen Methoden greift? Es war deutlich zwischen den Zeilen zu hören, dass Frau Süß absolut nichts von ihr hält."
Ich kneife die Augen zu. Allein daran zu denken, wie albern und unnötig dieses Martyrium begann, tut weh.
„Ich hatte die Hartmann das erste Mal in Mathe in der Siebten. Schon damals konnte sie nicht gut erklären, weshalb die drei Besten der Klasse nach jeder Mathestunde uns anderen nochmal eine Aufgabe vorgerechnet haben, dann hatten es die meisten kapiert. Sie war schon damals alt, schon damals durch irgendwas verbittert und schon damals aggressiv, wertend und erniedrigend zu ausgesuchten Schülern in wirklich jeder Klasse. Alle haben vor ihr gezittert.
Es gibt keinen Schüler an der Schule, der sie anders als 'Schreckschraube' nennt. Wirklich. Aber als ich das mal in einer Pause zu Moritz und Paul gesagt habe, lief sie dummerweise grade an mir vorbei. Und das war mein 'Todesurteil'. Seitdem habe ich alle meine Mathearbeiten zusammen mit denen von Paul einem anderen Mathelehrer gegeben, damit der die ungerechtfertigt angestrichenen Fehler findet. Etwa jedes zweite Mal kam ich dadurch noch um 'ne Note hoch. Aber Mathe war dadurch nicht nur mit Papas Ungeduld beim Lernen sondern auch noch mit der fiesen Behandlung durch diese Frau verbunden.
Dir habe ich damals sowas noch nicht erzählt. Aber Papa meinte einfach, das hätte ich mir ja wohl selbst zuzuschreiben. Alle anderen Eltern von diesen rausgepickten Kindern sind beim Direktor Sturm gelaufen. Mein Vater nicht. Der Schulelternbeirat hat versucht, ihre Versetzung zu erreichen. Aber die Versetzung kam auch nicht - mit dem Argument, dass sie ja sowieso in ein paar Jahren in Pension ginge. Schön für all die Kleinen. Für mich zu spät. Sie geht erst nächsten Sommer."
„Das ist ja unglaublich. Hätte Thorsten als Anwalt da nicht was machen können?"
„Der hats versucht über den Schulelternbeirat, aber da keines von seinen Kindern sie im Unterricht hatte, kam er auch nicht damit durch. Das einzige, was die damals erreicht haben, war, dass sie in keiner Klasse länger als ein Jahr blieb und sozusagen durchgereicht wurde."
„Weichei."
„Wer? Papa?"
„Nein. Der Direktor. Der hat durchaus die Mittel, eine Lehrerin so zu disziplinieren, dass sowas ein Ende hat. Ich glaubs ja nicht!"
„Und jetzt?"
„Jetzt haben wir erstmal für dich alles erreicht, was wir wollten. Das erleichtert mich sehr. Weiteres Nachsitzen vermeiden kannst allerdings nur du selbst. Da du sie nicht mehr im Unterricht hast, musst du 'nur' in den anderen Zeiten einen Bogen um sie machen und deine Zunge hüten. Ich weiß, das ist schwer. Aber schmeiß den Hass über Bord. Sonst kostet es dich zu viel Kraft, die du für dein eigentliches Mörderpensum brauchst. Ich stehe dir zur Seite, wo ich nur kann. Wenns sein muss, gehe auch ich zum Direktor."
Ich seufze.
Neun Monate auf Zehenspitzen durch die Schule schleichen ... Suuuuuper! Aber Tanja hat ja recht.
Und ich will ja auch all die Leute, die grade so für mich kämpfen, nicht enttäuschen.
„Danke! Du bist echt eine tolle Mutter!"
„Und du ein toller Sohn. Und ein toller junger Mensch mit Anstand, Ehrgeiz, Träumen, Charakter und Humor. Schlaf den Stress weg. Ich geh jetzt Nackenhaare runterklopfen. Gute Nacht!""
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27.9.2020 - 8.4.2021
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