29. Verdrängen
»Da ist er.«
Dado sah neugierig von dem Frühstücksbrot, das er sich gerade schmierte auf, während Manu bloß konzentriert vermied, vom Tisch aufzustehen. Er hatte Patrick entdeckt und allein der Gedanke an Blickkontakt mit ihm machte ihm Angst.
»Manu? Entspann dich. Er hat sich hingesetzt. Zu Basti, Freddie und so an den Tisch.«
»Hat er hergesehen?
Dado zögerte, nickte dann aber.
»Ja.«
»Und ...?«
»Nichts, und. Er hat hergesehen und Ende. Hat nicht darauf reagiert.«
»Also ...«
»Ja. Alles wie immer.«
Manu seufzte auf. Irgendwie erleichterte es ihn. Hätte Patrick versucht, ihm jetzt auf irgendeine Art näher zu kommen, hätte er nicht gewusst, was er tun sollte. So konnte er einfach ignorieren, was gestern passiert war.
Zumindest konnte er diese Illusion noch fast drei Stunden lang aufrechterhalten. Dann hatte er Mathe, was auch bedeutete, dass sie die Aufgabe würden abgeben sollen – die sie ja nie zu Ende gerechnet hatten, aus gegebenen Gründen. Manu hoffte also auf ein Wunder, dass sein Lehrer es vergessen hätte oder einfach gar nicht erst kommen würde – aber natürlich war beides nicht der Fall. Der Lehrer kam pünktlich zum Stundenwechsel und ließ den Kurs in das Klassenzimmer. Manu schlich fast schon zu seinem gewohnten Platz und legte dort seine Hefte ab – eine Tasche hatte er nicht dabei, schließlich hatten sie heute nur zwei Doppelstunden und einen Schulweg von nicht ein Mal hundert Metern – als der Lehrer ihn auch schon nach vorne zum Pult winkte. Manu versuchte, noch möglichst viel Zeit zu schinden – sorgte dafür, dass auch ja nichts seines Schulzeugs aus Versehen runter fallen würde und band schließlich noch seinen Schnürsenkel neu – bevor er sich wirklich nicht mehr drücken konnte. Er sah, wie Dado ihn mitleidig ansah, als er sich seinen Weg durch die noch unruhige Klasse nach vorne bahnte, wo Patrick bereits stand. Manu vermied es bewusst, Blickkontakt mit dem Größeren aufzunehmen, während er bloß auf die Predigt, wie wenig ihm seine Note wert sein musste, wenn er sich wo wenig Mühe gab, wartete. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen packte der Lehrer bloß einige Blätter in seine Tasche und sah erst Patrick, dann Manu lächelnd an.
»Sehr gute Arbeit, ihr beiden. Ich weiß, dass die Herleitung nicht leicht war. Umso toller, dass ihr es geschafft habt. Ich schaue es mir bis zur nächsten Stunde noch ein Mal an - aber ihr könnt euch auf jeden Fall schon ein Mal auf eine gute Note einstellen.
Irritiert hielt Manu inne, versuchte dann aber, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Sie wurden entlassen und während Patrick und er sich beide ihren Weg zurück in die hintere Hälfte des Klassenzimmers suchten, begann er, zu begreifen. Palle musste die Aufgabe gestern noch fertig gerechnet haben und sie jetzt, ohne verraten zu haben, dass er einen Teil alleine gemacht hatte, abgegeben haben. Und auf ein Mal durchströmte Manu unglaubliche Erleichterung und all der Stress und Druck, den er sich in den letzten Stunden wegen der schlechten Note gemacht hatte, fiel von ihm ab.
Zurück auf seinem Platz sah Dado ihn fragend an und Manu kritzelte eine kurze Erklärung, was passiert war auf irgendeine freie Seite seines Mathehefts. Um zu spreche waren hier definitiv zu viele Leute auf zu wenig Raum und nicht die benötigte Ruhe.
Dado freute sich natürlich mit ihm und Manu merkte, wie seine Laune gleich viel besser war als eben noch. Nach vielleicht zehn Minuten riss er sogar ein Stück der Seite aus seinem Heft und kritzelte ein einfaches Danke darauf, bevor er es faltete, mit dem Stuhl nach hinten kippte und es Patrick, der schräg hinter ihm saß, auf den Tisch legte. Als er wenige Sekunden darauf einen kurzen Blick nach hinten riskierte, sah er, wie Palle den Zettel aufgefaltet hatte und ihn las. Als er Manus Blick bemerkte, lächelte er ihm kurz zu und Manu erwiderte es für einen kleinen Moment.
Obwohl Patrick ein Arsch war - gestern war er nett zu ihm gewesen. Und auch, wenn er das vielleicht tun sollte: Manu hasste ihn nicht.
Mit seinem Mitteilungsbedürfnis war es an dieser Stelle noch nicht zu Ende, denn ihm war inzwischen noch ein ganz anderer Gedanke gekommen, den er nun auch zu Papier brachte und Dado zuschob.
Ich habe eine Ahnung, warum Patrick das gestern getan hat.
Er hat ungefähr schon jeden halbwegs fürs eigene Geschlecht offenen Jungen dieser Schule im Bett gehabt – und er weiß von meiner Sexualität. Ich kann mir vorstellen, dass er versucht, mich auch für einen Onenightstand zu gewinnen.
Zweifelnd sah Dado zu seinem besten Freund, bevor er mit Bleistift seine Antwort darunter kritzelte: Schon möglich. Aber ... du wirst nicht nachgeben, oder???
Sofort schüttelte Manu den Kopf. Nein, niemals. Patrick war kein Junge, mit dem er gerne ins Bett gehen würde. Dazu fehlte das Vertrauen, dass er niemals in so einem Maße, wie es für ihn für Sex nötig war jemandem schenken konnte, der ihn über längere Zeit hinweg so schlecht behandelt hatte - egal, wie Patrick sich jetzt benahm.
*
Wer auch immer der Erfinder des verbindlichen Heimfahrtswochenendes an Internaten gewesen war, hatte auf jeden Fall keine Ahnung vom Leben eines durchschnittlichen Internatsschülers gehabt. Klar, da gab es die Sportler, wie Patrick und Tim, für die es kein Problem war, das Wochenende bei ihren Eltern zu verbringen, weil sie bloß der Sportförderung wegen das Internat besuchten. Die auch an normalen Wochenenden oft Zuhause waren. Dann gab es die, deren Eltern immer unterwegs waren, wie Rafi, oder ganz im Ausland lebten, wie Stegis Vater, der in der Botschaft in irgendeinem Land arbeitete und die deswegen seit Jahren das Internat besuchten. Für diese beide Gruppen war es kaum ein Problem, ein Wochenende zu Hause zu verbringen. Aber dann war da eben noch diese dritte Gruppe, die Schüler, die auf dem Internat waren, um ihren Familien zu entkommen und für die es jedes Mal Folter war, wenn sie gezwungen waren, manche Wochenende oder sogar die ganzen Ferien bei ihren Familien zu verbringen. Leute wie Manu oder Dado, die sich nichts sehnlicher wünschten, als dass das verbindliche Heimfahrtswochenende eben nicht verbindlich wäre und sie, wie jede andere Woche auch, einfach in der Schule bleiben konnten.
Nicht ein mal drei Tage, doch für Manu fühlte es sich an wie eine Ewigkeit.
Es war Samstag Nachmittag, er war noch nicht ein Mal vierundzwanzig Stunden Zuhause und schon hätte er am liebsten losgeheult. Egal, wie schlimm es auf dem Internat zeitweise war – wie unwillkommen oder ungeliebt er sich fühlte. Egal, wie weh Patrick ihm tat oder wie viel Angst er ihm machte: Kaum war er Zuhause, wusste Manu wieder, warum ihm das Internat trotzdem tausend Mal lieber war.
Seine Brüder hassten ihn nicht wirklich - dessen war er sich fast sicher – aber trotzdem schafften sie es jedes Mal, ihn zu verletzen in ihrer Art, miteinander umzugehen, die einfach viel gröber war als das, was Manu vertrug. Wenn alle vier Jungs auf einem Haufen waren, flogen gerne mal nicht nur metaphorisch die Fetzen. Kaum war Manu allerdings mit einem von ihnen alleine – so wie gerade eben mit Tobi, der ihm half, sein blaues Auge zu überschminken – waren sie doch irgendwie ganz die großen Brüder, die versuchten, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie die kleine Nervensäge, über die sie so gerne schimpften, eigentlich doch ganz gerne mochten.
Manu zuckte kurz zusammen, als Tobi erneut ungeschickt eine verfärbte Stelle seines Gesichts berührte und es bei dem Versuch, Make-up darauf zu verteilen, bloß noch schmerzhafter machte. Irgendwie war es gestern mal wieder zum Streit gekommen und so hatte Manu wieder Mal Schläge kassiert – von welchem seiner Brüder hätte er nicht ein Mal genau sagen können, viel zu chaotisch war alles gewesen. Natürlich hatten auch die Anderen sich nicht gegenseitig verschont (besonders Sebastian und Tobi hatten es gestern aufeinander abgesehen gehabt), aber die hatten trotzdem bei weitem nicht so starke Spuren davon getragen wie der Jüngste von ihnen.
»Super. Man sieht es kaum noch. Heute Abend, wenn es ein bisschen dunkler ist, wird das keinem Auffallen. Und wenn doch, denkst du dir irgendeine Geschichte von einer netten Prügelei aus. Damit kriegst du locker ein Mädel rum.«
Manu seufzte, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.
Tobi wusste nichts von seiner Sexualität. Er sagte so etwas nicht, um ihm eins auszuwischen. Bloß musste Manu sich das immer wieder ins Gedächtnis rufen.
Heute Abend würde er mit seinem Bruder und ein paar von dessen Freunden trinken gehen – irgendwer feierte einen Geburtstag, auf den Tobi klar gemacht hatte, dass Manu mitkommen konnte. Und lieber, als Zuhause rumzusitzen und zu streiten war es ihm alle mal. Nur ein Bruder statt drei hieß nur ein Bruchteil der Streits die sie hatten. Und die Gesellschaft Fremder sollte dafür sorgen, dass sogar dieser übrig gebliebene Bruchteil entfallen würde.
Manu zwang sich, sich selbst im Spiegel ein Lächeln zu schenken.
Morgen Abend würde er wieder zurück ins Internat dürfen – zwar zurück zu seinen alten Problemen, aber immerhin weg von der zusätzlichen Last dreier streitlustiger älterer Brüder.
Und wenn er ganz ehrlich mit sich war: Nur weil er momentan nicht im Internat war, hieß das noch lange nicht, dass die Probleme, die ihn dort verfolgten ihn nicht trotzdem beschäftigten. Seine Unbeliebtheit, sein ausstehendes Outing, Dados Krankheit, Patricks komisches Verhalten.
Aber darüber würde er sich wann anders den Kopf zerbrechen.
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Heute ein sehr frühes und extra langes Start-in-den-Tag-Kapitel!
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