VII
„Nein, nein... Das kann nicht wahr sein!", stammelte Henry verwirrt.
Er sah zuerst in Krits Augen, die ihn ängstlich fragend anblickten, dann trat er einige Schritte zurück. Wie war das möglich, bei allen Heiligen auf dieser Welt und der anderen?
„Wie lange hast du diese komische Stimme schon im Kopf, mein Junge?", fragte er matt.
„Seit zehn Tagen oder so, haben kommen einfach, wissen Stimme im Kopf alles! Verstehen niemand mich", sprudelte es aus der Wache heraus. „Können helfen Sie, Henry, mir und nehmen Stimme weg? Haben ich Angst, große Angst!"
„Ruhig, mein Lieber, wir dürfen jetzt nicht in Panik verfallen", sagte der Alte mehr zu sich selbst als zu Krit. „Ich verspreche dir, dass ich dich verstehe. Was du da bekommen hast, ist eine Gabe, ein Geschenk, nichts, wovor man sich fürchten muss. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede."
Der Blondgelockte atmete langsamer. Er sah Henry an– wie ein kleines Kind, das gerade einen Streich verübt hatte und nun um Vergebung bat. Er schniefte, wischte die herausgeperlten Tränen weg. Der Wache war diese unheimliche Ahnung im Hinterkopf zu viel, er hatte Angst vor sich selbst.
Auf einmal sprang er hektisch auf. „Müssen gehen ich! Kommen Frau Ewmy jetzt!"
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Der Senior schaute ihm fassungslos hinterher. Das konnte doch wirklich nicht wahr sein! Sein Kopf dröhnte vor unbeantworteten Fragen. War das alles nur ein unglaublicher Zufall, was hatte diese Welt mit seiner Heimat zu tun? Welche Rolle spielte er?
Die Wachfrau betrat das Zimmer wenige Augenblicke später.
Heute hörte er ihrem Verhör überhaupt nicht zu. Er musste all das erstmal verarbeiten: Andere Welt, er in Gefahr, Terroristen und seine Gabe hatte nun Krit. Was sollte er jetzt tun? Hierbleiben war keine Option. Viel zu gefährlich. Aber wenn sein neuer Freund nicht wiederkam, hatte er keine andere Wahl.
„Sein du heute sehr weit weg!", riss ihn Ewmy aus seinen Gedanken. Ihre Stimme war eiskalt. „Haben fragen ich dich sehr unnütze Sachen und antworten du nur immer dasselbe." Sie war wütend, ihre perfekt manikürten Fingernägel bohrten sich in ihr Fleisch.
„Zuhören du mir!", brüllte sie auf einmal. „Haben ich keine Geduld mehr!"
Henry hatte sich furchtbar erschrocken und sein Puls war ungesund hoch. Er starrte ihr ins Gesicht und sie blickte zornig zurück, ihre Falkenaugen blitzten.
„Dann werden machen dir den Prozess wegen Verwahrlosigkeit." Mit diesen Worten und zum ersten Mal einem Lächeln auf den Lippen verließ sie das Zimmer wieder. Demonstrativ knallte sie die Tür zu.
Perplex schüttelte der alte Mann den Kopf. Was war das heute? Und was war diese Verwahrlosigkeit?
Was auch immer Ewmy ihm verkündet hatte, ein wenig später hielt sie ihr Versprechen. Henry wurde aus seinem Zimmer geholt - einer der Männer stellte ihm ein Bein, schubste ihn zu Boden -, sie legten ihm wieder Handschellen um.
Die metallenen Gamaschen schnitten in seine Haut, als die Oberstwache ihn durch die Gänge lotste. Von Höflichkeit hatte auch noch niemand hier gehört. Seine Wunde am Kopf pochte unangenehm, eine der Wachen stellte sicher, dass er nicht anhielt, sondern sich dem Tempo von Ewmy unterordnete. Nicht willig, diesen Rüpeln einzugestehen, dass er schwach war, biss Henry auf seine Lippen und humpelte weiter.
Der Raum, den sie nun erreichten, war ähnlich zu seiner ehemaligen Zelle. Weiße Fliesen überall, keine Fenster.
Allerdings waren in diesem Zimmer eine Bank und Tisch sowie eine Reihe von Sesseln fest installiert. Weder das eine noch das andere wirkte sonderlich bequem, da alles mit den bekannten weißen Kacheln ausgekleidet war.
Zu dem etwas niedriger gelegten Tisch zerrte man Henry und befestigte die Fesseln an dafür vorgesehenen Haken. Zur Probe rüttelte der Achtzigjährige an ihnen. Er konnte nicht entkommen.
Der alte Mann versuchte, mit diesem Handicap eine einigermaßen gemütliche Position auf der kalten Bank– Schlachtbank, so nannte er sie ironisch– zu finden. Etwas anderes als den Tod oder weitere Gefängnisse erwartete er nicht. Die Justizangestellten schienen nicht sehr gnädig, niemand hatte ihm bisher einen Verteidiger zur Seite gestellt, geschweige denn erklärt, was er denn falsch gemacht hatte. Wenn das die Aufgabe von Ewmy gewesen wäre, dann war dieses Rechtssystem ein Witz!
Ja, er war fast wie ein Tier eingesperrt gewesen, und hätte er nicht die Platzwunde gehabt, wären sie wohl noch weniger zimperlich mit ihm umgegangen. Bei allem, was recht war, er sah doch aus wie ein alter Mann! Henry verstand einfach nicht. Die Uniformierten nahmen ihren Platz an den Seiten der Sessel ein und verschmolzen mit der Wand.
Ewmy, die sich auf einer der Sitzgelegenheiten niedergelassen hatte, wandte sich dem alten Herrn zu. Ihre Augen funkelten vor Vorfreude.
„Wollen hören Angeklagter Vortrag zu Gerichtsverfahren, tun du nicht? Da sein du Erinnerer, glauben ich, dass wissen du sehr wohl, was erwarten dich wegen dieser Verkleidung", schob sie verächtlich nach. „Aber sein das Vorschrift." Die Uniformierte warf einen Blick auf die Wachen, die immer noch reglos ihren Dienst verrichteten.
Der 80-Jährige wurde hellhörig. Hatte sie ihm gerade angeboten, dass sie erzählte, was ihn erwartete? „Bitte, ich bin nicht vertraut mit den Vorgängen hier, erklären sie doch noch einmal alles", bat er sie höflich.
Ewmy wirkte verärgert. „Spielen du deine Rolle sehr gut, Egomanist. Werden befragen du von fünf Justiziaren, die dann bestimmen, ob sein du schuldig. Reden du nur, wenn werden auffordern. Dann kommen die bald, dann werden begleiten von mir."
Henry nickte, erleichtert; er hatte etwas Ahnung, was ihm bevorstand. Obgleich er sich fast sicher war, dass im Sehlenland das Prinzip „im Zweifel für den Angeklagten" nicht galt.
„Glauben du nicht an Gnade!", schloss die Oberstwache ihre Ausführungen. „Haben berichten ich Verlauf unserer Gespräche, haben sein nicht begeistert die Justiziare."
Noch einmal durchbohrten ihre gelben Augen ihn, schließlich erhob sie sich mit kalter Miene. Sie wies zwei der Wachen an, hier zu bleiben, dann verschwand sie samt dem Rest der Uniformierten.
Schon wieder starrte Henry eine Tür an, die gerade zugefallen war.
Er war in eine Sackgasse geraten, saß hier fest. Gerade noch, eben hatte er ein Rettungsseil in der Hand gehabt, doch es war wie die Hoffnung im Winde verweht worden. Die Hoffnung, dass er hier rauskam und nach Hause durfte, zurück in sein geliebtes Heim – und vielleicht auch noch das Rätsel um Heide lösen konnte; der Grund, warum er das Haus in der Schmiedgasse überhaupt aufgesucht hatte.
Wenn er damals nicht herausgefunden hatte können, was mit ihr geschehen war, konnte es Krit vielleicht nun.
Der arme Junge. Er hatte Mitleid mit ihm. Er selbst war mit dieser Gabe aufgewachsen und hatte nie anderes gekannt. Gleichzeitig war die Erkenntnis, dass diese Stimme im Hinterkopf nur bei ihm wohnte und niemand anderen, dass er allein damit war, das Erwachsenwerden, sehr schmerzhaft gewesen.
Der Alte seufzte und musste die Tränen zurückhalten. Er war ein sehr schwieriges Kind gewesen. Und heute noch machte er sich Vorwürfe, dass seine Mutter nur so geworden war, wie sie war, weil sie ihn großziehen musste.
Heute hätten die Ärzte ihr sicherlich eine psychische Krankheit diagnostiziert, wahrscheinlich Depressionen. Sie musste im Krieg einen kleinen Knaben erziehen, der keinerlei sozialen Kontakte pflegte, ja sogar Angst vor anderen Menschen hatte, und des Nachts nicht schlafen konnte, weil ihn Albträume quälten. Dazu kann die ständige Angst ob der Bomben, der verzweifelte Kampf ums Überleben und die Ungewissheit, was mit dem Ehemann passiert war.
Tatsächlich war Heinrich Schneider nach einigen Jahren dann als vermisst gemeldet, Henry hatte nie mehr als diesen Brief von seinem Vater bekommen. Nie hatte er ihn gekannt, deswegen aber auch nie vermisst.
Er musste gerade in die Schule gekommen sein, als er eines Tages seine Mutter weinend am Küchentisch vorfand und ihr– anders als die vielen Male zuvor– mit einer Ernsthaftigkeit, die beinahe schon unheimlich war, sagte, dass er auch keine Ahnung hatte, wo sein Vater war.
Davor war Henry zu jung gewesen, um es wirklich zu verstehen, aber er hatte seine Mutter immer das weitergegeben, was die Stimme im Hinterkopf erzählte, nämlich dass sein Vater gerade kämpfte oder schlief oder aß.
Er hatte nie gewollt, dass sie traurig war, also hatte er ihr, wenn sie bedrückt wirkte, mit kindlicher Stimme erzählt, was ihn die Ahnung im Kopf einflüsterte. Er erinnerte sich auch an die seltsamen Blicke seiner Mutter, häufig strich sie ihm fast verstört über den Kopf und versuchte, das Thema zu wechseln.
Doch all dies war zu viel für Irmgard Schneider gewesen. Sie starb im Jahr 1962, zu ihrer Beerdigung kam ihr Sohn und wenige Verwandte.
Die Menschenscheu Henrys hatte sie sich nach einigen Jahren selbst zugelegt, sie war dieser getreu allein an einem Januarmorgen gestorben, nicht einmal ihr Sohn war dabei. Er hatte sie dann wenig später so in ihrer gemeinsamen Wohnung aufgefunden und hatte es nach ihrem Tod nicht länger in seiner Heimat oder seinem Kindheitsheim ausgehalten.
Was dann folgten, waren wilde Jahre in der Fremde, Pferderennen und Lottogewinne, Henry lernte, seine Gabe sehr gewinnbringend zu nutzen. Doch wenn er jetzt, als alter Mann, daran zurückdachte, war es nur in der Versuch der Kompensation des Verlustes gewesen. Er war blutjung, hatte die einzige Freundin und seine eigene Mutter kurz nacheinander verloren.
Henry versuchte, er versuchte es wirklich, mit Menschen zu leben. Indes schreckten ihn das braune Erbe und viele weitere hassdurchtränkte Ideologien; ihn schreckte das nicht vorhandene Gewissen der Menschen ab. Ja, manche waren von diesen Schwächen unberührt, doch den naiven Jungspund verstörten die anderen zu sehr, als dass er durch die wenigen moralisch Integren aufgebaut wurde.
Nachdem er genügend Geld für mehrere Leben angehäuft hatte, kehrte er schließlich zurück, enttäuscht von der Menschheit. Sein Wille, in der Politik etwas zu verändern, war längst gestorben.
Henry kaufte ein kleines Haus in seiner Heimatstadt und baute sich ein Einsiedlerleben auf. Er brachte sich selbst bei, wie er mit Computern umzugehen hatte, auch wenn im vergangenen Millennium niemand so recht glaubte, dass dies die Zukunft sei. Er hatte es besser gewusst, und das zum Glück.
Gleichwohl, nach Jahren in Einsamkeit hatte er sich der wenigen Menschen erinnert, die freundlich zu ihm gewesen waren. Heide zuallererst, doch auch viele weitere auf der gesamten Welt, die ihr eigenes Wohl als geringer als das der anderen erachteten. Auch weil er sich schämte, mit seinen Fähigkeiten nicht selbst die Welt verändern zu wollen, fing er an, sein Vermögen sinnvoll einzusetzen.
Ob die Organisation wirklich Geld benötigte oder nur ein Verbrechersyndikat war, konnte er ja problemlos seine Stimme im Hinterkopf fragen. Anfangs war es noch schwierig, die Spenden loszuschicken, später mit Aufkommen des Internets wurden die Hürden weniger.
Im freien Netz ließ sich schließlich auch leicht Geld verdienen, die Wettanbieter, die dem Mann schon immer ein Dorn im Auge gewesen waren; Kriminelle, die ihre süchtigmachende Ware wie Geschäftsmänner verkaufen durften, bauten ihr digitales Geschäft immer weiter aus. Mit zunehmendem Alter war es für Henry nicht mehr so einfach, jede Lottostelle in seiner Umgebung anzufahren, um den größtmöglichen Gewinn bei Aufrechterhaltung seiner Maskerade zu erwirtschaften.
Er konnte schließlich nicht jeden Tag alle Jackpots knacken, das war viel zu auffällig!
Doch mit etlichen Tricks und diversen Persönlichkeiten verdiente er sich Unmengen an Geld, die er an die weiterreichte, die es nötiger hatten als er.
Und das war seine Geschichte. Versteckt im Schatten, nie weitererzählt, denn wer würde ihm schon glauben, dass er alles wusste?
Er war feige gewesen, keine Verantwortung zu übernehmen, nicht wirklich den Menschen zu helfen, das Spenden schließlich war ein Kompromiss mit seinem Gewissen. Jetzt fragte er sich, ob es gereicht hatte.
Seine Gedanken und Erinnerungen hallten in seinem Kopf wider wie die Schritte der Uniformierten, die gerade einen Wachwechsel vollführten. Trübsinnig verfolgte Henry das Spektakel. Oder nein, irgendetwas war anders als der seltsame Tanz, der jedes Mal vollführt wurde, wenn sie ihm Essen brachten und kurz die Fesseln lösten.
Kam nun endlich Ewmy? Und mit ihr die Richter?
Tatsächlich. Die Tür wurde geöffnet und im Gleichschritt traten weitere Wachen ein. Dahinter folgten fünf Sehlen mit silberfarbenen Gewändern. Sie schienen wichtig, denn anders als bei Ewmy, die als Letzte folgte und die Tür schloss, schmückten goldene Verzierungen ihre Kleidung. Obendrein war es gar keine Uniform, die sie trugen, eine Frau hatte tatsächlich ein aufwendiges Ballkleid an und ein anderer einen weiten Umhang.
Der alte Mann konnte all diese Beobachtungen anstellen, denn die Justiziare richteten ihre Plätze zurecht und schenkten ihm keine Beachtung. Währenddessen stellten sich die absonderlich vielen Wachen zwischen den fünf Neuankömmlingen und dem Angeklagten auf, sie bildeten eine lebende Mauer. Irritierenderweise ragten nur noch die Köpfe der Justiziare über dem Wall aus Weißuniformierten auf.
Das Schweigen wurde ihm langsam unbehaglich, Papiere raschelte, die hohen Herren und Damen setzten sich auf mitgebrachte Kissen. Als er die gefesselten Hände zu falten versuchte, klirrte das Metall unangenehm laut.
Endlich kamen auch die Richter zu einem Ende. Einer nach dem anderen legte seine Akten beiseite und richtete seinen Blick auf den Angeklagten, ohne dabei die eigene nichtssagende Maske fallen zu lassen.
Die Richterin in der Mitte, die mit dem Ballkleid, begann: „Sein wir heute hier versammelt, um..."
Der Senior seufzte innerlich. Das konnte ja nur Ewigkeiten dauern.
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