III
„Hallo?", sprach Henry in den Raum hinein.
Es kam keine Antwort. Schien also niemand da zu sein.
Der alte Mann schluckte seinen Kloß im Hals herunter, dann trat er ein.
Er fand weder rechts noch links der Tür tastenderweise einen Lichtschalter, also kramte er aus seiner Manteltasche eine Taschenlampe hervor.
Die Haustür fiel zu. Bis auf das spärliche Licht seiner Lampe war es finster.
Nach seinem Empfinden müsste er im Hausflur gelandet sein, doch er fand mit dem Lichtkegel nur eine Tür, die aus diesem Raum herausführte. Es gab außerdem keine Fenster, nur Gerümpel auf dem Boden.
Wo war er? Wo?
Henry stutzte. Keine Antwort kam in seine Gedanken. Nichts, wie er es sonst gewohnt war, keine aufblitzende Ahnung, kein antwortgebendes Wissen.
Komisch.
Andererseits, er war müde wegen all der Aufregung und erschöpft von dem langen Weg, vielleicht sollte er morgen hierher wiederkommen. Er hatte nun bewiesen, dass etwas in diesem Haus war, dann konnte er auch eines anderen Tages wiederkehren.
Mit dieser Erklärung zufrieden drehte sich der alte Mann um und suchte die Haustür, durch die er eben eingetreten war.
Potzblitz! Die Tür war fort!
Alles, was Henry fand, war eine graue Betonwand.
„Was für ein Unfug", sprach er laut in die Stille. Sicher war die Tür, die er gerade entdeckt hatte, die, durch die er eingetreten war. Die Schwärze ummantelte ihn, es gab nichts weiter als sein leises Atmen und das gedankliche Echo seiner Worte.
Aber seine Stimme hörte sich dünn an. Es hatte ihm nicht geholfen, sein Selbstvertrauen zurückzugewinnen, im Gegenteil.
Er wollte einzig nach Hause, das hier war von Anfang an eine bescheuerte Idee gewesen!
Verschwindende Türen und dass die Stimme in seinem Kopf verstummt war– das konnte doch nur ein Traum sein. Ein Alpdruck, das wäre auch nichts Neues für ihn.
Folglich müsste er bald aufwachen, versuchte er, sich selbst zu beruhigen. Panisch zu werden brachte ihm überhaupt nichts.
Er fixierte die Handbremsen seines Rollators und setzte sich auf die stoffbespannte Sitzfläche. Eins nach dem anderen. Hatte er nicht noch Essen dabei?
xxx
Die Stille, die unerträgliche Stille war es, die Henry aus seinem Schlaf riss. Kein Vogelgesang an diesem Morgen, keine Autos der Nachbarn, welche aufbrachen, auf die Arbeit zu fahren, keine Gespräche auf dem Bürgersteig. Noch nicht einmal die Sonne schickte ihre Strahlen durch die Jalousien in Henrys Bett.
Sein Schlafplatz war heute nicht besonders bequem, fiel ihm auf. Sein Rücken schmerzte fürchterlich. Oder war er wieder auf einem Stuhl eingeschlafen? Dies erklärte aber immer noch nicht das fehlende Tageslicht.
Vorsichtig öffnete der alte Mann seine Augen. Der Raum, in dem er sich befand, war dunkel. Fast nachtschwarz, wäre dann nicht das spärliche Licht einer auf dem Boden liegenden Taschenlampe gewesen.
Und der alte Mann wusste wieder, was geschehen war. Kein Traum, keine Wahnvorstellung, er war im verschwundenen Haus– dem, was gar nicht existieren dürfte.
Der Greis versuchte, seinen Rücken durchzustrecken. Au! Ein stechender Schmerz schoss durch sein Rückgrat.
Er war wahrhaftig auf seinem Rollator sitzend eingeschlafen, überwältigt von Aufregung und Stress.
War gestern wirklich geschehen? Henry konnte nur den Kopf schütteln. So viel an einem einzigen Tag, einem einfachen Herbsttag, dessen Himmel lediglich einen regnerischen, trüben versprochen hatten.
Vielleicht war das Wetter ja heute besser. Dafür musste er jedoch heraus aus diesem Raum, der leider keine Fenster besaß.
In Henry regte sich immer noch die Hoffnung, dass es in diesem Zimmer nur einen Ausgang gab, und zwar den, durch den er gestern auch hereingekommen war. Allerdings war dies unwahrscheinlich- er drängte diese bohrenden Zweifel weiter weg.
Behutsam richtete er sich auf. Seine Beine waren wie eingerostet, das Kreuz schmerzte. Von seiner Hose fielen Krümel herunter- gestern hatte er die Reste seiner Kekse verzehrt. Noch ein Punkt, warum er aufbrechen sollte, da er sonst keine Vorräte dabeihatte.
Er fegte die störenden Reste von Hose, Jacke und Sitz, dann bückte er sich nach der Taschenlampe, die immer noch auf dem Boden lag. Ihr Licht flackerte und bald schon würde die Batterie ihren Geist aufgeben.
Nun, auf!, sprach er sich selbst gedanklich Mut zu. Was war hinter der Tür verborgen, der Rückweg oder etwas völlig anderes?
Der alte Mann bekam keine Antwort, keine Ahnung schoss ihm durch den Kopf. Er schluckte.
Darauf bedacht, nicht zu stolpern, schob er den Rollator durch den vollgestellten Raum. Wahrlich, zum Glück hatte er das immer weniger werdende Licht seiner Lampe, sonst läge er mit gebrochenen Gliedmaßen auf dem Boden, ehe er „Potzblitz!" sagen könnte.
So aber erreichte er die geheimnisvolle Türe unbeschadet. Die Taschenlampe erlosch vollends.
Mit seiner Hand suchte er nach der Türklinke, mit der anderen suchte er Halt an seinem Rollator. Henry hatte das Gefühls eines Déjà-vu, hatte er nicht erst gestern in der Dunkelheit gestanden, zweifelnd, ängstlich, was sich hinter der Tür verbarg?
Auch diese hier war nicht abgeschlossen. Vollkommen lautlos schwang sie auf.
Es war hell. Nicht wie am Tag, wie dämmrige Kerzen, die einen verlassenen Flur erleuchteten.
Henry war nicht dort gelandet, wo er losgelaufen war. Das hier war auf keinen Fall die Schmiedgasse.
Ihm direkt gegenüber befand sich eine identische Tür zu der, die hinter ihm gerade zuschlug, zwei bis drei Meter entfernt. Er rollerte auf sie zu, rüttelte an der Klinke, aber diese war verschlossen.
Wo war er? In einem riesigen Hotel? Einer geisterhaften Gasse?
Nein, sicherlich war er nicht im Freien, denn der Boden unter ihm war aus irgendeinem Plastik gefertigt, wenn er richtig lag, außerdem wies der Belag Gebrauchsspuren auf. Staub lag über allem, als wäre lange hier niemand mehr gewesen. Seine Vermutung eines verlassenen Flurs schien sich zu bestätigen.
Henry sah nach oben. Weit über ihm erstreckte sich eine Decke ohne Lampen, rechts und links davon an der Wand waren Fenster eingelassen. Milchglasscheiben, oder waren sie einfach so verstaubt, dass man nicht hindurchsehen konnte?
Henry bekam keine Antwort, keine Ahnung. Nichts. Die Stimme in seinem Kopf war stumm geworden.
Er wandte seine Blick wieder zu den Türen. Rechts und links reihten sich viele, viele weitere derselben Machart aneinander, soweit er sehen konnte.
Halt, nein, in einer Richtung entdeckte er ein Ende, keinen Wandabschluss des Flurs, sondern eine recht große Öffnung.
Der alte Mann fasste die Griffe seines Rollators fester. Wenn er etwas finden könnte, was ihn hier rausbrachte, dann dort. Oder eine Antwort, was das Ganze hier eigentlich sollte. Hier stimmte etwas vorne und hinten nicht! Das konnte doch niemals alles in einem einzigen Haus verborgen sein!
Er schluckte seinen Kloß im Hals herunter und ging los.
Alle Geräusche waren verstummt. Henry war vollkommen allein auf dem langen Gang, in dem jede Tür wie die andere war, und der Staub lag über allem.
Der alte Mann wirbelte aus Versehen ein wenig davon auf und musste sofort husten. Was war hier? Abgesehen von dem Dreck war der Gang ordentlich, ja beinahe strikt aufgeräumt. Was war der Zweck des Ganzen? Wo befand sich Henry hier?
Er fing unwillentlich an, ein kleines Lied zu summen. Es vertrieb seine Gedanken und Zweifel an sich selbst.
Der Korridor schien ewig, doch nach einer Weile hatte der Senior sein Ende erreicht. Nun sah er auch, was sich hinter der Öffnung befand: Ein Treppenhaus, dessen Wände genauso hoch waren wie die des Flurs.
An dieser Stelle verbreitet sich der Raum etwas, sodass Henry die Breite auf ungefähr sechs Meter schätzte, also doppelt so breit wie der Flur zuvor; das Treppenhaus wurde auch von den gleichen Fensterscheiben beleuchtet.
Der alte Herr erkannte nun, dass diese ehemals durchsichtig waren, nur die Jahre hatten sie getrübt. Er wischte Staub von einer und spähte nach draußen, sah aber nichts. Auf dieser Etage befand sich kein weiterer Raum, kein Ausgang. Noch nicht einmal einen Fahrstuhl entdeckte Henry.
Nun, er hatte zwei Optionen: Nach oben oder nach unten?
Er entschied sich für letzteres. Es war so schwer genug, seinen Rollator die Stufen hinabzuwuchten, da wollte er erst gar nicht versuchen, diesen die Stufen heraufzutragen. Der alte Mann nahm alle seine Kraft zusammen und schleppte seine Gehilfe nach unten.
Ein paar Treppen später war Henry völlig erschöpft. Er konnte kaum noch gerade gehen, sein Rücken zwang ihn in eine gebückte Position. Seine Arme und Beine zitterten, er fühlte sich erschöpft und müde.
Aufgeben würde er nicht, dessen war sich der 80-Jährige sicher. Sein ganzes Leben lang hatte er sich eine Frage gestellt, die diese Ahnung, dieses Wissen im Hinterkopf nicht beantwortete, und nun war er so nah wie noch nie an dessen Lösung. Der Gedanke an Heide ließ ihn weiter schuften.
Außerdem, ganz neutral betrachtet, was blieb ihm anderes übrig? Er hatte keine Essensvorräte mehr, noch nirgends einen Menschen gesehen und nach ihm suchen würde keiner. Arne kam erst in der nächsten Woche zu ihm.
Dass er diesen getroffen hatte und dass dieser sehr besorgt gewesen war, deshalb sicherlich bald bei ihm vorbeischauen würde, ob es ihm gut ginge, hatte Henry vergessen.
Der alte Mann machte weiter. Erschöpft, unter Schmerzen, als wäre er nur noch eine Maschine, die eine einzige Aufgabe auszuführen hatte: diese Treppen herunterzugehen.
Als er einmal eine Pause machte, meinte er, in der Ferne, von oben, Stimmen zu vernehmen, doch diese verstummten, sobald er ein fragendes, schwächelndes „Hallo?" hinaufschickte. Sicher nur Einbildung, provoziert durch seine Erschöpfung. Fieberträume im Wachzustand.
Und dann, nach höllischen Qualen, war er im Erdgeschoss angekommen. Die Treppen endeten hier jäh, eine Haustür führte ins Freie und ließ etwas Licht ins Innere fallen, jedoch konnte man aufgrund der verspiegelten Scheiben nichts erkennen, noch nicht einmal schemenhafte Umrisse.
Völlig ausgelaugt setzte sich der Senior auf seinen Rollator, um seinen dröhnenden Kopf zu beruhigen. Er hatte Hunger, Durst, und war so müde. So müde.
Was ihn jenseits dieser Tür erwartete- keine Ahnung. Die dritte geheimnisvolle Tür auf seinem Weg, vielleicht fand er jetzt endlich eine Lösung. Eine Antwort. Menschen.
Als er wieder geradeaus laufen konnte, stand Henry auf und öffnete die Haustür. Dieses Mal ohne Zögern.
Henry trat direkt auf eine Straße. Geteert, schwarz, nichts Außergewöhnliches. Der alte Mann wunderte sich etwas, das es keinen Vorgarten gab.
Er sah sich um, zum Glück fuhren zurzeit keine Autos. Er konnte also gefahrlos hier stehen bleiben.
Sein Blick streifte die Hausfassaden, eine wie die andere, grau und kleine Fenster, dieselbe Haustür mit verspiegeltem Einsatz, aneinandergereiht wie Spielzeugsoldaten. Und nirgends brannte auch nur ein Licht. Nicht, dass er weit schauen könnte, seine Sehkraft ließ besonders bei dämmriger Sonneneinstrahlung stark nach.
Er lauschte, insofern er das noch mit seinen alten Ohren konnte. Doch, er hörte etwas. Keinen Autolärm, keine Menschen, die redeten, keinen Vogelgesang oder Blätterrauschen.
Ein Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Seltsam.
Doch er lief nun zügig in die Richtung, aus der er die Laute vernommen hatte. Es war dunkel, nur flackernde Straßenlaternen erleuchteten seinen Weg. Je näher er diesen Geräusch kam, desto lauter wurde es.
Es war nicht eins, sondern vielmehr mehrere, ganz viele Geräusche, die zusammen einen niederschwelligen Lärm bildeten. Wie schwere Fahrzeuge, die den Boden umarbeiten.
Und da sah er es: Ein paar Hochhäuser voraus waren Baustellenfahrzeuge aktiv, sie rissen einen der Wohnkomplexe ab! Diese enormen Gebäude waren zu hoch, um ihr Ende vom Sockel aus zu erblicken, Henry hatte es versucht, aber nicht geschafft.
Dort hinten aber reichte das Haus nur noch etwa fünf Geschosse hoch! Ja, die Kräne und andere Gerätschaften nahmen förmlich einen Stein nach dem anderen herunter!
So etwas hat der alte Mann noch nie gesehen. Nicht mit einer Abrissbirne, sondern sorgfältig, Schritt für Schritt zerlegten sie den Bau in seine Einzelteile. Der Senior war noch immer nicht dort, doch das erkannte er allein schon an der Gerätschaft, an der nicht vorhandenen Stahlkugel, und an dem Tempo der Männer, welches relativ langsam war.
Er kam immer näher. Henry konnte nun hinter die Baustelle blicken: Dort waren die Grundstücke vollkommen leer, als hätte ein Sturm die Häuser weggeblasen.
Und noch weiter hinten ein großes Leuchten, das den ganzen Horizont ausfüllte: Etwa eine Stadt? Mehr Häuser? Seine Augen waren wirklich schlecht.
Ein Fahrzeug bog von der Baustelle auf die Straße ein und fuhr in die Richtung, in der Henry die Siedlung vermutete. Eins, zwei weitere folgten.
Hatten die Bauarbeiter Feierabend?
Halbherzig versuchte Henry mit den Armen zu winken und zu rufen, doch er war zu schwach, um die Aufmerksamkeit der Fahrzeuginsassen auf sich zu lenken, er schaute lediglich den Rücklichtern hinterher. Seine Stimme klang dünn und echote schwach. Er war zu weit weg.
Er seufzte. Ob er wohl noch eine Nacht ohne Essen und Unterschlupf überleben würde?
Der alte Mann schob seinen Rollator weiter. Er wollte sich auf der Baustelle Zutritt verschaffen, um dort auf die Arbeiter zu warten– offensichtlich die einzigen Menschen hier. Der Weg zu der Stadt (oder dem Ort, wo das Licht war) schien ihm zu weit.
Henry war wieder allein in der Dunkelheit.
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