Alles Gute zum Geburtstag
Liebe L,
Was ich dir noch sagen wollte: „Alles Gute zum Geburtstag!"
Unglaublich, dass ich dir zu deinem 18. Geburtstag gratulieren darf. Dass wir diesen Tag erreicht haben, dass du ihn erlebst, dass du die ersten 18 Jahre deines Lebens überlebt hast, stimmt mich erleichtert und froh und irgendwie auch stolz.
Tatsächlich kennen wir uns seit über zehn Jahren. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich deine Eltern damals nicht allzu ernst genommen habe, wenn sie mir erzählen wollten, du wärst anders. Du schienst so normal, und keins unserer diagnostischen Verfahren hat irgendeine Auffälligkeit ergeben. Immerhin das muss ich mir nicht vorwerfen: Du bist von uns vollständig auf den Kopf gestellt worden. Nur kam eben nichts raus, und die Behandlung wurde irgendwann beendet.
Fast forward, ein paar Jahre später: Du bist mittlerweile massivst auffällig, hast drei Kolleginnen von mir milde traumatisiert, und irgendwie über viele Umwege bist du wieder bei mir. Obwohl (oder weil) ich mittlerweile die Stelle gewechselt habe. Und diesmal klappt es. Ich weiß nicht weshalb.
Du hast deinen Eltern mal gesagt, ich würde die richtigen Fragen stellen. Ich kann dir sagen, dass genau dieser Versuch, meine Fragen so zu formulieren, dass du weißt was ich meine und sie beantworten kannst, mich manchmal an den Rand der Verzweiflung bringt.
Ich könnte ein Buch damit füllen, unsere Gespräche zu beschreiben. Die Mühen, die Diskussionen, die Missverständnisse, aber auch die Lacher, die Vertrautheit, das Verstehen. Unterm Strich bist du die Patientin, die mich in meiner beruflichen Laufbahn bisher am meisten beschäftigt hat. Die es immer wieder schafft, mich zu überraschen, im Guten wie im Schlechten. Über niemand anderen rede ich so viel, wie über dich.
Ich habe unglaublich viel von dir gelernt, und dabei hattest du nie die Absicht mir irgendetwas beizubringen. Ich habe Bücher gewälzt und mich zigmal, manchmal mehrfach die Woche, mit Kollegen abgesprochen. Trotzdem habe ich manche Sachen erst so wirklich verstanden, als ich sie mit dir erlebt habe.
Als ich mal gesagt habe, jetzt habe ich meinen roten Faden verloren, und du unter mir den Boden abgesucht hast. Oder als du mir erklärt hast, mein Büro würde hellgelb riechen mit einem Hauch Pastell. Als ich nach einem guten Jahr durch Zufall herausgefunden habe, dass deine Einschlafschwierigkeiten von der Angst herrühren, die die dunkle Gestalt in deiner Zimmerecke dir macht (die leider außer dir niemand sehen kann).
Ich habe gesehen, wie du dich freust, wenn unsere Kommunikation mal funktioniert. Wie du dich über Komplimente freust. Ich sehe, wie sehr du dich anstrengst, mit den wenigen Menschen zu kommunizieren, die dir wichtig genug sind. Wie du in den unwahrscheinlichsten Situationen, nach stundenlangen Diskussionen über den Sinn (oder fehlenden Sinn) deines Lebens auf meine Aussage: „L, ich möchte nicht, dass dich selbst verletzt, weil mir der Anblick weh tut", einfach sagst „Okay, dann lass ich es halt."
Du bist ein bisschen wie Data aus Star Trek, nur mit mehr Nebendiagnosen und weniger künstlichen Körperteilen. Wenn alle Menschen wie du wären, gäbe es keine Kriege auf der Welt. Auch wenn du nie so ganz verstehst, was ich damit meine, meine ich es vollkommen ernst und als Kompliment.
Ich bin unglaublich froh, dass du noch lebst, und ich möchte, dass es so bleibt. Ich würde dich wirklich vermissen.
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