Rache
"Es ist schön, sich nicht ewig aus dem Weg zu gehen, oder?" Mary lehnte sich in dem braunen Ledersessel im Wohnzimmer zurück. Ihr Blick schweifte aus dem Fenster zu ihrem eigenen Haus hinüber. Lange war sie nicht mehr hier gewesen, doch es hatte sich nichts an diesem Ort geändert, wie auch bei ihr. Der Ledersessel quietschte immer noch erbärmlich bei der kleinsten Bewegung und der Eichentisch war voller Kratzer, die nie jemand ausbesserte oder verdeckte. Auch die Schrankwand war immer noch in ein grottenhässliches Grün getaucht, auf das sie als Kind selbst bestanden hatte. Wie sie damals stur auf dieses Ding im Möbelkatalog gezeigt hatte und es unbedingt hier aufstellen wollte, war für Mary nun ein Rätsel. Es war seltsam, wieder hier zu sein. Seltsam, wieder angekommen zu sein. Seltsam, wieder zuhause zu sein.
Paul nickte und goss etwas Tee in die penibel geputzten Teetassen. Auch wenn das Haus fast nur aus bunten und nicht zueinander passenden Sachen bestand, lag ihm viel an den zwei Tassen, die er nur alle paar Jahre aus dem Schrank holte und doch jede Woche putzte. Eliza hatte sie eines Tages mitgebracht und erst an dem Tag, an dem sie sich von ihm endgültig getrennt hatte, war der größte Teil des Services aus dem Haus verschwunden. Es waren einmal ein dutzend gewesen, wie auch ein dutzend Untertassen, ein dutzend Teller und eine einzelne Kanne. Nun waren nur noch zwei einzelne Tassen übrig und obwohl das Blumenmuster über die Jahre blass und die Griffe dünn geworden waren, konnte er es nicht lassen, sie zu jedem besonderes Anlass wieder aus dem Schrank zu holen. Nach langer Zeit war es endlich wieder so weit.
Vorsichtig schob er ihr eine Tasse hinüber und ließ sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches sinken. Auch wenn die Mittagspause nicht mehr lange andauern würde - er hatte sie sogar vorgezogen - wollte er keine Eile walten lassen. Seine Zuständigkeit betraf auch so nur Gewaltverbrechen und an einem so annähernd perfekten Tag erwartete er keines. Wie sehr ihn seine sonst so gute Intuition trügen konnte, würde er erst noch erfahren müssen.
"Was hast du jetzt vor? Ich meine, mit der Universität ist es nichts geworden und wer weiß, vielleicht hast du schon eine Idee. Hast du schon einen Plan? " Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie irgendeiner ordinären Arbeit nachging. Sie hatte Begeisterung für Polizeiarbeit gezeigt, doch dieses Kapitel war nun endgültig geschlossen, selbst wenn man sie zulassen würde. Eine zu tiefe Kluft lag nun zwischen der einstigen Begeisterung und dem jetzigen Hass.
"Nein, noch habe ich nichts vor. Vielleicht fällt mir etwas ein, vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht, welche Art von Menschen ich auf die Dauer nicht in den Wahnsinn treiben würde. Studieren ist nichts für mich - diese nervtötenden Nichtswisser um einen herum sind kaum zu ertragen - und irgendeine Ausbildung wäre es genauso wenig. Nein, irgendwie werde ich schon durchkommen. Immerhin habe ich noch genug Geld für ein paar Monate und so viel esse ich auch nicht, als dass ich so schnell an Hungersnot sterben würde. Zur Not verdienst du auch genug für zwei und besser als ewige Beschwerden über mich zu bekommen, wäre es allemal. Ja, das scheint mir eine ziemlich sinnvolle Lösung zu sein, nicht wahr?" Sie grinste verschmitzt und konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Einen Moment lag vergaß sie die Ernsthaftigkeit des Lebens und alberte zu ungezwungen herum, wie sie als Kind immer getan hatte.
"Also, ich weiß wirklich nicht, ob das klappt - aber einen Versuch wäre es wert, wenn es tatsächlich dein Ernst ist. Diese dauernden Beschwerden waren wirklich schrecklich - oder grauenhaft, ja, grauenhaft trifft es auch - und wenn sie endlich einmal enden würden, wäre es schon ein Glücksfall. Vielleicht lässt sich noch etwas finden, doch so sehr muss es auch wieder nicht eilen. Zur Not lasse ich es als dienstliche Zusatzausgaben absetzen, so schwer kann das auch nicht sein, wenn alle anderen es auch schaffen. Und ein wenig Brot wird wohl kaum teurer sein als diese Baracke von Universität, in der du warst." Diese halb komischen, halb ernsten Unterhaltungen waren eine willkommene Ablenkung von den kurzen Fragen und oft noch kürzeren Antworten in seinem Berufsumfeld. Normalerweise waren Geschichtenerzähler Lügner, doch langwieriges Herumreden lag dieser Familie einfach im Blut.
"Durchaus ein guter Gedankengang; damit wäre die Idee nun zu einem Plan geworden. Es ..." Das Klingeln des Telefons unterbrach ihre Worte und sie verstummte augenblicklich. Paul Robert Kenneth hatte selten Freunde gehabt und die wenigen, die er jemals hatte, waren längst tot. Er stand nicht im Telefonbuch und hatte bisher jeden so angeschrien, der grundlos angerufen hatte, dass es niemand mehr tat. Schon als sie klein gewesen war, hatte sich außer ihren Eltern nur die Arbeit bei ihm gemeldet. Und ein Anruf, der nicht bis nach der Pause warten konnte, bedeutete mindestens einen Schwerverletzten oder ein Toten mehr in der Gegend.
"Ja?", fragte Paul in den gerade abgehobenen Hörer des Telefons auf dem kleinen Beistelltisch unweit des Esstisches. Er hatte sich weit nach rechts gebeugt, um möglichst schnell antworten zu können. Er runzelte die Stirn und schien aufmerksam zu lauschen.
Mary war kurz aufgesprungen, ließ sich aber wieder sinken. Es konnte nichts Gutes sein, doch noch wartete sie darauf, dass Paul ihr freiwillig mitteilte, was geschehen war. Ihre Finger hatte sie in die zerschlissenen Armlehnen gebohrt und die Augen geschlossen. Ihr Herz schlug wieder wie wild, doch ihr Atem war in dem gleichmäßigen Takt wie immer, den sie selten unterbrach. Einige Strähnen hatten sich aus dem sorgsam zurückgesteckten dunkelblonden Haar befreit und kitzelten nun ihre bleich gewordenen Wangen. Etwas war geschehen, so viel war klar.
"Wiederholen Sie den letzten Satz, bitte." Er presste den Hörer des altmodischen Apparates ans Ohr und drehte sich zu Mary um. Überraschung war ihm ins Gesicht geschrieben, doch in seinem Blick gab es noch etwas anderes: Enttäuschung. Er hatte ein Urteil getroffen, ohne überhaupt alle Beweise zu kennen.
"Ich danke Ihnen, bis gleich." Marys Herzschlag verlangsamte sich und sie öffnete die Augen. Nun würde sie erfahren, war los war. Sie verbot sich jede Annahme und versuchte, so ruhig und gelassen wie vor wenigen Minuten zu sein.
Paul öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Eine Frage brannte ihm auf der Zunge, allerdings traute er sich nicht, sie so offen zu stellen. Wäre sie ihm vor fünf Minuten eingefallen, hätte er sich innerlich darüber schlappgelacht. Doch die Situation war eine andere und das Vertrauen war wieder in tausende Scherben zersplittert.
Er nahm all seinen Mut zusammen und stellte die Frage, die er eigentlich in einem Verhör stellen sollte. "Ein erneuter Mord. Man berichtete mir von einer Verbindung zum anderen. Ich - wie auch immer - muss nun fragen, weshalb - es heißt nicht, dass ich dir etwas unterstelle, es ist nur meine Pflicht - du hier bist." Mehrere Male war er ins Stocken geraten und hatte nach Ausflüchten gesucht. Eigentlich hätte er sie genauso vorladen können, doch das wollte er auf jeden Fall vermeiden. Was auch immer die Antwort war, es ging seine Kollegen nichts an.
Mary richtete sich auf und riss die Augen auf. Einige Sekunden lang herrschte eine unangenehme Stille, dann hatte sie sich wieder beruhigt. Es war nicht die Zeit, um durchzudrehen und sich Spekulationen hinzugeben. "Du weißt den Grund ebenso gut wie ich, doch wenn du möchtest, dann ich auch einen Eid darauf ablegen." Ihre Stimme zitterte, weshalb sie sich nach nach den Worten kurz und kraftvoll auf die Zunge biss, damit der Schmerz die anderen Gefühle linderte. Mit einem vollkommen monotonen Klang fuhr sie fort. "Ich verspreche, dass ich nicht hierher gekommen bin, um mir ein Alibi zu verschaffen. Würde ich eines brauchen, würde ich für mehr Zeugen suchen, die mich nicht kennen. Außerdem verspreche ich, dass ich - um welches Verbrechen es sich auch immer handeln mag - heute kein Unrecht begangen habe. Ich stehe an jedem Tag zu einer Befragung bereit, wenn dies nötig ist." Sie wandte ihren Blick keine Sekunde lang von Paul ab und zuckte nicht einmal mit der Wimper während des Redens.
Er senkte beschämt den Kopf. Er hatte gezweifelt, das war ihm klar, doch sie log nicht. Sie hatte ihm so kalt und ehrlich geantwortet wie jedem einzelnen Polizisten, dem sie in ihrem Leben schon begegnet war. All die anderen Fragen schienen für ihn plötzlich unwichtig. Er hatte durch einen kleinen Gedanken das Wichtigste verloren, was er immer hatte und er wollte nicht, dass es durch noch mehr Unbedachtheiten für immer aus seinem Leben verschwinden würde: Familie. Es war schon genug gesprochen worden. Hätte sie getobt und geschrien, hätte er sich nicht annähernd so geschämt wie jetzt. Nein, diese Ruhe war schlimmer; sie bedeutete Gleichgültigkeit. "Ich sollte losgehen."
"Ich finde alleine hinaus." Mary griff nach dem Tee, trank einen kleinen Schluck und ließ ihn wieder auf den Tisch sinken. Ohne lange zu zögern erhob sie sich und ging auf den Flur. Die Hand auf der Klinke sah sie noch kurz zurück, öffnete dann aber schnell die Tür und lief heraus.
Paul seufzte, riss sich dann jedoch zusammen. Es gab einen Fall und noch länger konnte er nicht an Sentimentalitäten hängen. Schnell lief er in den Flur hinaus, griff nach seinem Mantel und machte sich auf den Weg. Arbeit war Arbeit und er musste seine Pflicht erfüllen.
Etwa fünfzehn Minuten später stand er schon am Tatort. Blut auf dem Boden, den Möbeln, den Wänden, den Fenstern; es musste ein wahres Gemetzel gewesen sein. Jetzt, wo er alles mit eigenen Augen sah, kam ihm seine Frage absolut lächerlich vor. Wer auch immer das getan hatte, hatte seinem Hass keine Zurückhaltung gewährt. Stiche hatten den etwa Sechzigjährigen überall am Körper getroffen und selbst wenn keine Stelle gezielt getroffen worden sei, so hätte kaum etwas brutaler sein können. Das war kein Werk einer zurückhaltenden jungen Frau, die viel Wert auf Perfektion legte, sondern eines irren Rachsüchtigen. Egal, ob dieser unmenschliche Hass nun auf diesen Mann oder die gesamte Welt zurückzuführen war.
"Und die Nachricht?" Er konnte es nicht fassen, dass es so etwas in diesem Fall gab. Zu wenig schienen die beiden Morde wie ein zusammenhängendes Verbrechen, da er nicht die kleinste Verbindung erkennen konnte.
"Hier, Sir." Ein Polizist reichte ihm die schon eingetütete Notiz des Mörders herüber.
"Dies ist mein Werk. Sieh es als erstes Kapitel an. Leland war nur der Prolog. Wie viele Kapitel wird es noch geben? Ist dies kein lustiges Spiel? Alt und hässlich und gemein werden die Männer sein, die ich töten werde. Ob andere daraus etwas Besseres lernen?", las Paul vor. Alles war mit einer altmodischen Schreibmaschine getippt worden, wie sie niemand mehr verwendete. Das würde den Täterkreis sicherlich eingrenzen - nicht jeder hatte so etwas noch zuhause stehen. Auch umgehen konnten damit die Wenigsten - vermutlich war es jemand Älteres, höchstwahrscheinlich eine ziemlich starke Frau. Trotz der Eingrenzung, die es bei den meisten Fällen nicht so genau gab, störte ihn etwas an dieser Nachricht - er wusste nur nicht, was es war.
Als er ein lautes Schnappen nach Luft hinter sich vernahm, drehte Paul sich um. Vor ihm stand Richard, der kreidebleich geworden war und die leuchtend grünen Augen so weit aufriss, dass an allen Rändern das Weiße zu sehen war. "Kleiner Schrecken? Sie sollten sich daran gewöhnen."
"Ja, Sir", war die mehr geflüsterte als klar ausgesprochene Antwort. Er konnte nicht mehr richtig denken, so benebelt war er von all diesem Blut. Er konnte sich nicht vorstellen, wie viel Hass jemand empfinden musste, um so etwas tun zu können. Er stolperte zwei Schritte rückwärts, fing sich aber wieder. Der Fall hatte für ihn eine vollkommen neue Wendung genommen, die er nicht erwartet hatte. Angst erfüllte ihn bei dem Gedanken, dass es tatsächlich einen Serienkiller in Leicester geben könnte. Und gleichzeitig gab es auch die Erleichterung, dass seine Intuition Mary gegenüber augenscheinlich richtig war, denn solch ein Verbrechen traute er ihr nicht zu.
"Das hier muss ein Ende haben. Je schneller, desto besser. Aber ich verlange eine lückenlos Beweisführung, damit dieser Irre nicht freigesprochen wird! Lückenlos, habe ich gesagt! Kein Fehler darf uns jetzt unterlaufen!", donnerte Inspector Kenneths Stimme durch den Raum. "Jetzt werden schließlich nicht nur Verbrecher ermordet, die es verdient haben", fügte er murmelnd hinzu, sodass es nur er und Richard ein Stück hinter ihm hören konnten.
Währenddessen saß Mary einsam im Wohnzimmer im schwarzen Liegesessel und wartete. Worauf, wusste sie selbst nicht einmal. Erst als es an der Tür klopfte, stand sie auf und öffnete apathisch. Vor ihr war Kate in einem Mantel, den sie ganz offensichtlich nicht selbst besessen hatte bei der Größe und scheußlichen Farbe. An jedem anderen Tag hätte sie ihr eine Standpauke gehalten, doch an jedem anderen Tag wäre Kate auch nicht in einem fremden Mantel durch die Gegend spaziert. So ließ sie sie wortlos an sich vorbei und schloss die Tür wieder. Sie wollte nicht an Kate denken, sie wollte auch nicht an Paul denken, sie wollte an nichts denken. Allerdings fiel ihr genau das unheimlich schwer.
"Willst du mich nicht fragen, was ich getan habe?" Kates braune Augen leuchteten, als hätte sie gerade den schönsten Augenblick ihres Lebens hinter sich. "Oh, würdest du das nur wissen!", schwärmte sie und drehte sich lachend mit zugeknöpftem Mantel im Kreis.
"Ich will es nicht wissen." Kurz und knapp, zu mehr war Mary nicht in der Lage.
"Ich sage es dir trotzdem! Ich habe ihn getötet! Ich, das faule Luder, das zu nichts taugt, habe ihn getötet! Und dieser fette Dreckskerl hat gelacht, bis ihm das Messer im Körper steckte! Er hat mich ausgelacht! Aber ich war klüger! Ich habe ihn getötet! Gibt es etwas Schöneres auf der gesamten weiten Welt?" Sie knöpfte den Mantel auf und ihre blutverschmierte Bluse kam zum Vorschein. Und ihr Lachen drang durch die Oakland Avenue und erschütterte nicht nur Mary bis ins Mark.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro