Bilder
"Sir, es ist zwar nicht so, dass ich mich aufdringen möchte, wäre es aber vielleicht an der Zeit für einen ersten Fall?" Sergeant Richard George Edwards war dabei, langsam die Nerven zu verlieren. Normalerweise war er ein sehr geduldiger Mensch, was er in London bei seiner Ausbildung auch sein musste, doch das tagelange Nichtstun in Leicester nervte ihn ungemein.
"Sie haben noch keinen Fall?" Paul konnte es kaum fassen. Der so selbstbewusste Mann, der schon seit Tagen alles Mögliche hier tat, fragte tatsächlich nach. Er hatte schon fest mit ersten Ermittlungen in dutzenden Fällen gerechnet, doch offenbar war der Neue nur zu schüchtern gewesen. Fast schmunzelte er, konnte es sich jedoch rechtzeitig unterdrücken.
Während sein Vorgesetzter im Kopf alle offenen Fälle durchging, um den geeigneten zu finden, stand Richard stocksteif da. Er hasste diese Police Station. Er hasste Leicester. Und seit kurzer Zeit hasste er auch seinen Beruf. Er war hier, um Recht und Ordnung durchzusetzen, doch was hatte er schon in seinem Leben bewirkt? Aktenordner sortieren und Befragungen durchführen, immer nach ein und demselben Prinzip - etwas anderes tat er selten.
Just in dem Moment, als Richard schon keine Antwort mehr erhoffte, fiel Paul etwas ein. So verbissen wie er in diesen einen Fall in letzter Zeit gewesen war, half ihm eine fremde Meinung bestimmt weiter. Ewig konnte er sich nicht damit beschäftigen - nur ein Tag blieb ihm, dann wollte niemand mehr davon hören. Vielleicht hatte er sich verrannt, vielleicht hatte er auch recht, selbst darüber entscheiden konnte er nicht. Nein, es würde sich schon zeigen, ob dieser neue Sergeant tatsächlich ein guter Polizist war oder sich vollkommen im Beruf geirrt hatte.
"Ich hätte eine Idee ...", begann er, kramte eine Akte unter dutzend anderen heraus und streckte sie Richard entgegen. "Wie wäre es damit? Lesen Sie sich das ganze aufmerksam durch und wir sehen uns in einer Stunde wieder. Dann können Sie zeigen, ob der Schreibtisch nicht doch ihr richtiger Platz ist."
Der Neue zog die Augenbrauen hoch, nahm aber wortlos die Mappe entgegen. Besser als nichts, redete er sich ein. Und so trottete er mit der Akte weg, bevor ihm sein neuer Vorgesetzter den Fall noch entziehen konnte. In einer stillen Ecke schlug er die Seiten dann auf. Alles war vollkommen durchwühlt, doch schon bei dem ersten Blick konnte er sich nicht mehr auf Aufräumen konzentrieren. Ein Foto vom Tatort. Zwei Leichen in einer Blutlache. Noch nie hatte er mit einem solchen Verbrechen zu tun gehabt. Er schluckte und bemerkte die Bildunterschrift. Es waren genau zehn Jahre und drei Tage vergangen. Das hieß wohl, der Mord war nach so langer Zeit nie gelöst worden.
Mit einem Schaudern legte er das Bild zur Seite und blickte das darunter an. Es war ein verwackeltes Foto, an dessen linkem Rand noch das Blut zu sehen war. In der Mitte war ein zerschlagenes Regal, das wohl vorher an der leuchtend blauen Wand gelehnt hatte. Rechts war ein Mädchen, etwa zehn Jahre alt, in einem weißen Kleid mit riesigen roten Flecken darauf. Daneben ein Mann, der die Hände beschwichtigend hob. Etwas verwirrt sah Richard sich alles genauer an. Obwohl das Bild nicht sehr klar war, kannte er die Gesichtszüge des Mannes irgendwoher. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es war Inspektor Kenneth! Er schien in dieser Zeit deutlich gealtert zu sein, doch die tiefliegenden grauen Augen und die verrunzelte Stirn wie auch die etwas abstehenden Ohren waren gleich geblieben. Er musste damals der ermittelnde Detective gewesen sein und offensichtlich beschäftigte er sich heute noch mit diesem Fall. Auch das Mädchen kam ihm bekannt vor. Er schalt sich für seine Blödheit, dass es ihm nicht sofort aufgefallen waren. Die grauen, beinahe schwarzen Augen und das schmale Gesicht voller Sommersprossen - sie war die Kopie der toten Frau auf dem Bild zuvor. Ihre Tochter etwa? Lebte das Mädchen heute noch? Wenn ja, dann musste sie bestimmt zwanzig sein. Aber würde jemand, der schon zwei Menschen so brutal getötet hatte, nicht auch noch sie aus dem Weg schaffen wollen? Mittlerweile war er neugierig geworden, obwohl sich ein unangenehmes Gefühl in ihm breit machte. Das hier war weitaus mehr als ein Fall, den man löste und einfach vergaß. Er wusste nicht wieso, aber er spürte, dass diese zwei Morde längst nicht alles waren.
Als er gerade das Bild zur Seite legte, rutsche ihm die Akte von den Knien und der Inhalt ergoss sich über den Boden. Genervt wollte er alles wieder zurückstecken, als ihm ein anderes Foto auffiel, das aus der Menge herausstach. Es war ein Bild von zwei Personen, die bis über beide Ohren strahlten. Eine junge Frau in einem kurzen blauen Kleid mit Pufferärmeln mit einem Ring mit einem grünen Stein an der Hand neben einem kaum älteren Mann in Hemd und Anzughose. Dieses Mal brauchte er nicht so lange, um zu verstehen. Es war abermals Inspector Kenneth, wenn auch um Längen jünger als jetzt und auf dem anderen Bild. Und die junge Frau sah dem jungen toten Mann zum Verwechseln ähnlich, trotz der anderen Umstände, unter denen das Foto jeweils aufgenommen wurde. Um seine Schwester zu sein, war sie zu wahrscheinlich zu alt gewesen, wenn schon der Inspector damals noch etwa dreißig Jahre alt aussah. Vielleicht war sie die Cousine oder die Tante des Toten? Vielleicht war es auch nur eine entfernte Verwandte, die diese blaugrünen Augen und das blassblonde Haar auch hatte. Auch die seltsame Monobraue, die ihr ansonsten perfektes Gesicht durchquerte, hieß auch nichts. Wer wusste schon, was hinter alledem steckte? Doch je mehr sich Richard in den Fall vertiefte, desto mehr bemerkte er, wie bedeutend das alles für einige war.
Nicht nur Bilder, auch Seite für Seite sah es sich an und legte er zur Seite, bis Inspector Paul Robert Kenneth vor ihm stand. Der ältliche Mann mit den trüben grauen Augen und etlichen Falten wirkte unbehaglich, fast schon nervös. Er konnte es kaum abwarten, endlich diesen Fall zu lösen und ein für alle Male abzuschließen, doch er hatte Angst. Angst vor der Wahrheit. Angst davor, dass die Wahrheit keine Gerechtigkeit bringen würde. Und Angst davor, sich noch einmal an alles erinnern zu müssen, was vor so vielen Jahren geschehen war. Allerdings war es an der Zeit. Wenn nicht heute, dann würde es nie einen Weg dafür geben.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro