
6 | Der Beute Lockung
WAS DIE SCHATTEN VERSCHLINGEN
VI. Der Beute Lockung
Die vierte Nacht
❅ ❅ ❅
DIE STIMME WAR ZURÜCKGEKEHRT.
An Mittwinter war sie nur ein leises Flüstern gewesen, leicht zu verwechseln mit dem Wind, der über die Baumkronen strich, und seinem Seufzen im Gemäuer. Seitdem war es jede Nacht inbrünstiger geworden.
All die letzten Jahre war Katinka sicher gewesen, wieder frei zu sein, dass sie mit dem Eintritt ins Kloster alle dunklen Kreaturen hinter sich lassen würde, dass es nur der Kraft reinigender Kräuter, gesegneter Kerzen und Gebete bedurfte, um sie nie wieder zu hören.
Aber da war diese körperlose Stimme, die durch den Türspalt schlüpfte, ihr ins Ohr flüsterte und sie an die grausame Wahrheit erinnerte, dass ihre Hoffnungen nichts als töricht gewesen waren.
Wo die Finsternis sich einmal festgebissen hatte, verschwand sie nie wieder. Sie vergiftete ihr Fleisch, ihre Knochen und ihr Blut. Ja, Katinka hätte es besser wissen müssen, als zu erwarten, dass ihr Fluch aufgehoben werden würde. All das Betteln und die Tränen, die sie zu Füßen ihres fassungslosen Vaters vergossen hatte, damit er sie wegschicken würde, als sie noch ein Kind war, hatten nichts genützt.
Heute waren diese alten Mauern das einzige Zuhause, das Katinka noch geblieben war, aber nun hatten sie sie so gut wie aufgegeben.
Ironischerweise schlief neben ihr Saskia – das verfluchte Mädchen – friedlich. Sie schien sich nicht an dem zu stören, was Katinka nachts wach hielt und dass ihre Knie immer noch fest dem kalten Boden hafteten, obwohl sie die brennenden Kräuter eindeutig verabscheute und kaum betete.
Katinkas Augen waren auf die Flamme gerichtet, in der Hoffnung, dass ihr Licht die Dunkelheit, die ihre Sicht vernebelte, verbrennen würde.
Ich flehe dich an, Lichtmutter, halte die Schatten fern ...
„Lösch die Kerzen, Kind. Öffne die Tür." Es war nicht Perchta, die ihr geantwortet hatte, sondern die Stimme, die aus dem verdorbenen Maul des Hundes gesprochen hatte.
„Geh weg", hauchte Katinka.
„Aber du hast im Gebet um Hilfe gefleht. Hier bin ich und antworte dir."
„Ich habe nicht zu dir gebetet." Perchta hatte sie gerufen und die Lichtmutter sprach sicherlich nicht mit solch giftiger Zunge.
Ein leises Glucksen. „Es hat keinen Sinn, es zu leugnen. Du hast mich bereits in dein Herz und deine Seele gelassen. Warum sonst solltest du mich hören?"
Das musste natürlich eine Lüge sein. Wie auch immer dieser Dämon alle Schutzvorkehrungen des Konvents überwunden haben mochte, an Katinka konnte es nicht liegen. „Lass mich in Ruhe, bitte. Bitte."
„Ist die Stille der Welt nicht einsam?"
Nein, sie ist Freiheit, wollte sie schreien, sagte jedoch stattdessen bloß: „Du gehörst nicht hierher."
Seit wann stellten Dämonen solche Fragen? Seit wann fragten sie sie überhaupt etwas?
Nein, das hier war anders. Vollkommen anders als all die anderen Gespenster, Geister und Dämonen. Es schien allzu menschlich, zu mächtig – und zu grausam.
„Und du gehörst hierher?", fragte die körperlose Kreatur fast amüsiert.
Tränen trübten Katinkas Augen, denn sie wusste, dass das stimmte: Sie war eine Beleidigung für die Heiligkeit dieses Ortes. Eine arme Besessene, die der Liebe Mutter Gesas oder Perchtas nicht würdig war. Aber ich habe doch nie um diesen Fluch gebeten.
„Ist es wirklich ein Fluch, wenn Perchta auch die Herrin der Dunkelheit ist, sowohl die der Menschen als auch der Dämonen?"
Dieser Teufel konnte ihre Gedanken lesen? „Aber es steht den Menschen nicht zu, sich von ihrem Licht zu entfernen und in den Schatten der Lichtmutter zu wandeln."
„Wir sind gar nicht so verschieden, Kind", säuselte die Stimme und streichelte ihre Wange mit der sanftesten Brise. Sie roch nach Asche und Schnee. „Auch ich wünsche mir die Freiheit."
„Freiheit kann ich dir nicht geben, Dämon."
„Ich denke, du kannst. Und ich könnte dir dafür deine gewähren."
„Ich... ich würde Strafen erhalten, endloses Leid."
Der Wind manifestierte sich fast in etwas, das der Berührung einer kalten Hand, die ihr Gesicht streichelte, nur allzu ähnlich war. „Bist du denn nicht schon in der Hölle?"
„Perchta, beschütze mich!" Katinka biss sich auf die Lippe, so fest, dass sie spürte, wie heißes Blut an ihrem Kinn heruntertropfte.
„Vielleicht ist sie es, vor der du beschützt werden solltest?"
Bitte verzeih mir. Katinkas Finger umklammerten die zaghaft flackernde Flamme; sie verbrannte ihre Finger, bevor sie sie auslöschte. Doch Katinka wünschte sich, sie hätte sie und ihre ganze Dunkelheit in sich verzehrt.
❅ ❅ ❅
Als Saskia erwachte, waren die Laken neben ihr leer und kalt. In einer sanften Brise schwang die angelehnte Tür auf und wieder zu, seufzte bei jeder mühsamen Bewegung wie eine alte Frau und ließ kühle Luft ins Innere kriechen. Die Kerzen waren verloschen.
Und Katinka verschwunden.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, während Angst ihre spitzen Wurzeln in ihrer Magengrube schlug. Wenn jemand jemals gewagt – oder auch nur gewünscht – hätte sich in den Raunächten aus der Zelle zu stehlen, dann war es Saskia selbst. Katinka jedoch, die sich mehr als alles andere vor diesen Zeiten fürchtete, würde so etwas niemals tun.
Sie schlüpfte unter der Decke hervor und rannte hinaus in die endlosen Korridore, ohne sich darum zu kümmern, ihren Körper mit etwas Wärmerem zu bedecken als mit dem Unterkleid, das sie trug.
Ein Teil von ihr wollte panisch nach Katinka rufen, doch der andere wusste genau, dass das, was auch immer geschehen war, nicht für urteilende Augen bestimmt war. Es war besser, die Bestie nicht zu wecken.
Die Kapelle mit Perchtas Bildnis, die von schwach brennenden Kerzen erhellt wurde, war leer – bis auf den riesigen Hund, der zu ihren Marmorfüßen saß. Jetzt wirkte er nicht mehr derart tot wie zuvor. Unter seinem tintenschwarzen Fell ließen sich keine Knochen mehr erkennen, doch die Augen glühten noch immer in ihrem unnatürlichen Rot – den Feuern der Unterwelt.
„Wo ist sie?", stieß Saskia atemlos aus, wobei sich beinahe Panik in ihre Stimme schlich.
Das Wesen antwortete nicht, sondern verzog die Lippen zu einem Lächeln, das sie und die Göttin, deren heiligen Raum es betreten hatte, zu verhöhnen schien.
„Was willst du?"
„Ich habe dich gehört. Jetzt sollst du mich anhören", antwortete der Wolfshund.
Man sollte Dämonen und Geistern gegenüber unter keinen Umständen Furcht zeigen – das verschaffte ihnen umso mehr Macht über einen, ließ sie immer tiefer in den Geist und die Seele kriechen –, aber im Moment schien das eine unmögliche Aufgabe. Ihre Finger, die den Stoff ihres Kleids kneteten, zitterten leicht.
„Ich habe deinen Wunsch erfüllt. Jetzt verlange ich ein Opfer."
„Meinen Wunsch?"
„Dass dein Prinz fort ist. Das ist er. Ich kann geben, und ich kann nehmen, desetnica."
Übelkeit flammte in ihrem Magen auf. „Ich habe mir nie gewünscht, dass er tot ist", krächzte sie.
Ungerührt zuckte das Ohr des Wolfshundes. „Es war allein seine Schuld. Er hat nicht auf die Warnungen gehört und ist in meine Wälder eingedrungen."
„Deine Wälder?", fragte Saskia verblüfft.
Die Kreatur legte den Kopf schief. „Was glaubst du, wem sie sonst gehören? Diesem belanglosen kleinen Fürsten und seinen Schergen?"
Was in aller Welt war dieses Wesen? Wie ein Waldgeist sah es nicht aus. Andererseits, was wusste sie denn wirklich über die Welt der Geister?
Saskias Augen huschten zu der Kiste.
Aus der Kehle des Hundes drang ein heiseres Lachen, mit dem der Gestank von Rauch durch seine langen, scharfen Zähne kroch. „Nein, ich will keine paar Münzen wie ein alberner kleiner Geist."
„Was könnte ich dir denn sonst geben?"
„Die Wölfe kommen, desetnitsa. Hilf deinem kleinen Rehkitz lieber. Wir werden uns sehr bald wiedersehen", erhielt sie statt einer Antwort und Saskia verschwendete keine Zeit mit Fragen.
Was auch immer diese Kreatur war, was auch immer sie wollte, warum auch immer sie das wusste, war nicht wichtig. Nicht im Anbetracht der Bedeutung dieser Worte. Durch ein Tor, das nur angelehnt war, stürmte sie hinaus in die Nacht.
Sofort biss die Kälte des Schnees in ihre nackten Füße. Doch Saskia spürte sie kaum – es war der sich ihr darbietende Anblick, der sie bis auf die Knochen frieren ließ.
Die sieben Männer trugen Masken, die den behuften Bestien ähnelten: mit gekräuselten Hörnern, klaffenden Mäulern, die hungrige, rote Zungen freigaben, und dämonischen Augen. Der Orden folgte dieser Tradition, weil er kam, damit die wahren Monster es nicht taten, um einen zu bestrafen, bevor sie alle bestrafen konnten und um jeden Dorfbewohner von Schwarzhain daran zu erinnern, was ihn erwarten würde, wenn sie nicht hier wären.
Einer von ihnen hatte seine behandschuhte Hand in Katinkas Haar gekrallt, deren Augen wilde, reine Panik ausstrahlten. Unter dieser Maske hätte jeder sein können.
Dennoch wusste Saskia, dass es Silvan war.
„Geht wieder rein, Schwester. Sie ist für uns schon verloren", befahl er, ihren Verdacht bestätigend.
Sie fragte sich, ob er dabei lächelte und ob dieses Lächeln noch grausamer sein konnte als das monströse, das seine Maske zeigte.
„Nein ...", hauchte Saskia.
„Wir haben gesehen, wie sie mit Dämonen gesprochen hat. Sie war diejenige, die die Regeln gebrochen und Tod über Schwarzhain gebracht hat." Die Stimme von der hölzernen Maske verzerrt, konnte Saskia nicht mit Sicherheit sagen, ob Bitterkeit in ihr lag. Doch all das hier fühlte sich wie Rache an.
Vielleicht hatte ihre Schwester recht gehabt: Dieser Mann war gefährlich.
„Herr, ich flehe Euch an. Katinka würde niemals ..."
„Furcht ist nicht das gleiche wie Hingabe, Schwester. Zu viel davon und jeder Glaube ist verdorben."
Das konnte nur ihre Schuld sein, Saskia wusste es. Sie war so sehr damit beschäftigt gewesen, ihre Geheimnisse zu begraben, dass sie nicht bemerkt hatte, wie sie dabei auch frische Gräber schaufelte.
„Aber – was wird aus ihr?"
„Das ist nicht deine Sorge."
Alles in ihr wollte kämpfen, ihre Nägel in seinen Pelzmantel graben, ihre Zähne in seiner Hand versenken und Katinka aus seinen Armen reißen. Oder zumindest schreien, sie stattdessen zu bestrafen, denn sie war es, die gegen die Regeln verstoßen hatte.
Doch Saskia wusste, dass es hoffnungslos war. Was würde es ihnen helfen, wenn sie sie auch noch mitnehmen würden? Welchen Sinn hatte es, mit bloßen Händen gegen bewaffnete Männer zu kämpfen? Männer, die nicht nur das Kloster und das Dorf auf ihrer Seite hatten, sondern auch die Götter?
Und Katinka musste dies auch gewusst haben, denn sie versuchte nicht einmal, für sich zu sprechen, obwohl sie unschuldig war. Sie musste es sein. Wenn der Orden der Wölfe ein Urteil fällte, gab es nichts mehr zu sagen. So schien sie ihr Schicksal widerstandslos hinzunehmen und nur stille Tränen zu vergießen.
Saskia konnte nichts anderes tun, als ihre brennende Wut hinunterzuschlucken, still zu stehen und zu starren, die nackten Füße bereits im Schnee taub gefroren, wie sie Katinka wegschleppten.
Ich werde dich zurückbringen. Das werde ich, dachte sie und hoffte, dass ihre Schwester es in ihren Augen lesen konnte.
„Nicht weinen, Schwester. Es hat keinen Sinn, Tränen über ein verfluchtes Mädchen zu vergießen."
Saskia mochte auch verflucht sein. Aber mehr noch war sie ein Fluch für andere.
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