Die Zeit II.
Kaum hatte Herr Schmid seine Erzählung beendet und die ersten Tränen begannen zu trocknen, da klingtelte es. Unsicher, was wir jetzt machen sollten, blieben wir alle auf unseren Plätzen.
„Ihr solltet euch mal eine Auszeit nehmen, bevor es hier weiter geht. Kommt, geht in die Pause. Ich werde mit der nächsten Lehrkraft reden, dass Sue weiterschreiben kann. Wen habt ihr gleich?", fragte er mit monotoner Stimme. Ich sah mich fragend um, da ich den Stundenplan nicht auswendig kannte und zudem keine Lust hatte in meinem Rucksack zu kramen.
„Wir haben Erdkunde bei Frau Hase.", antwortete Justin. Herr Schmid nickte nur und wartete, bis wir alle den Klassenraum verlassen hatten.
Zunächst war ich sehr unsicher, da mir nicht einmal gesagt wurde, wo ich die Pause zu verbringen hatte. Leicht verzweifelt folgte ich den anderen durch die Gänge, bis wir durch eine große Flügeltür das Gebäude verließen und auf dem anstphaltierten Pausenhof ankamen. Ich sah mich um, was ich sogleich wieder bereute, denn die Menge an Schülern wirkte auf mich so erdrückend. Überall, wo ich ihnsah, fremde Menschen über fremden Menschen. Verunsichert und voller Angst blieb ich wie angewurzelt stehen. Plötzlich zuckte ich zusammen, als sich eine zarte Hand auf meine Schulter legte.
„Komm, wir sind immer da hinten unter der großen Weide.", sagte die Trösterin von Maddy zu mir während sie auf einen abseits stehenden Baum deutete. Dankend lächelte ich sie an, dann gingen wir gemeinsam zu den anderen und nahmen im angenehmen Schatten auf den Gras unter der Weide platz. Erst jetzt überkam mich die Erkenntnis des Grauens: Ich hatte meine Schreibsachen im Klassenraum liegen lassen! Verdammt, so viel zum Thema Eingliderung und Bemühungen meinerseits. Maddy, ihre Trösterin, die sich im Nachhinein als Tanja vorstellte, und zwei andere Mädchen, die im Klassenraum ebenfalls in der hintersten Reihe saßen, quatschten angeregt miteinander. Ich schämte mich etwas, nur anteillos danebensitzen zu können.
„Kannst du eigentlich Gebärdensprache?", fragte mich Madison freundlich. Ich wiegte meinen Kopf unentschlossen hin und her, womit ich auszudrücken versuchte, dass ich diese nur zu einem kleinen Teil beherrschte.
„Cool, kannst du und was zeigen?", fragte eins der noch namenlosen Mädchen mit langen, welligen, braunen Haar. Zustimmend nickte ich und gebärdete „Was?", doch das verstanden sie natürlich nicht. Allerdings ist die Gebärde einem Schulterzucken recht ähnlich und wird durch einen entsprechenden Gesichtsausdruck zur Frage, weswegen sie vielleicht doch die Frage verstanden.
„Was bedeutet 'Ich liebe dich'?", fragte mich Tanja und ich übersetzte sofort. Es ist ein Handzeichen, beidem man den Daumen, Zeigefinger und kleinen Finger abspreitzt und Mittel- und Ringfinger anklappt – manch ein Comic-Leser würde es als umgedrehtes Spider Man-Zeichen sehen, was es auch ist.
Die anderes Mädchen versuchten es nachzuamen, scheiterten jedoch zunächst, da sie ihre Finger entweder umständlich verkonoteten oder es nicht schafften, die richtigen Finger einzuklappen. Ich musste breit grinsen, kam näher und drückte ihre Finger sanft in die richtige Porition. „Verdammt, Sue, das ist echt schwer.", lachte die Brünette etwas verzweifelt. Nun, für jemanden, der es noch nie gemacht hatte, waren Gebärden durchaus eine Komplikation in der Kommunikation. Das kannte ich von mir selber, als ich mich zurück an meine Anfänge erinnerte. Letztendlich gaben die Mädels auf und schüttelten ihre verkrampften Hände.
Gibt es eigentlich etwas, das du gerne von uns wissen würdest? Ich meine, du schüttest uns seit heute Morgen dein Herz aus und hast bestimmt auch viele Fragen an uns, wie wir an dich.", meinte das mir noch am unbekanntenste Mädchen. Ich nickte nur – wie sollte ich ihnen denn bitte mitteilen, dass ich zuerst gerne ihre Namen wissen würde. Nachdenklich musterten sie mich. Schließlich griff Maddison nach einem Stock und reichte ihn mir. „Versuch mal auf den Boden zu schreiben.", sagte sie aufmunternd lächelnd. Ich probierte es, jedoch vergebens, denn das Gras war einfach zu hoch und zu dicht. Traurig schüttelte ich den Kopf. So funktionierte das auf jeden Fall nicht. „Kannst du vielleicht einzelne Buchstaben in die Luft malen?" Eifrig nickte ich, den die Idee klang doch vielversprechend. Also begann in die Luft zu zeichen und die anderen sprachen jeden meiner Buchstaben im Chor mit, sodass ich versichrt war, dass sie mich auch verstanden. Zunächst zeigte ich auf mich und began anschließend zu Buchstabieren:
„Ich K-E-N-N-E K-E-I-N-E N-A-M-E-N.", sprachen die Umsitzteden meine Worte aus. Peinlich berührt senkten sie danach ihre Blicke. „Stimmt ja, wir hatten uns nich vorgestellt.", flüsterte Tanja.
„Das können aber einfach ändern: Ich heiße Annabell, aber alle nennen mich nur Anna – die Lehrer mit eingeschlossen.", erklärte das mir fremdeste Mädchen aus der hintersten Reihe.
„Ich bin Josephine.", meinte daraufhin die Brünette. Dann schauten sich wieder alle betreten an und schwiegen. Es war eine so komische Situation, in der ich schwören könnte, mindestens genauso peinlich berührt gewesen zu sein, wie meine Gegenüber. Um die Stille zu beenden, hob ich erneut die Hände.
„W-E-R S-I-T-Z-T N-E-B-E-N D-I-R J.", fragte ich mit ihrern Stimmen. „Ah, mit J meinst du Josephine!", bekam Tanja den Geistesblitz nach wenigen Augenblicken.
„Neben mir und somit im Klassenraum hinter dir sitzt Thomas. Er ist ziemlich nett und hilfsbereit, aber ein Einzelgänger. Wahrscheinlich sitzt er deswegen quasi alleine in der letzten Reihe, wo sonst nie jemand hin möchte.", erklärte Anna.
„Ja, wir nennen es die Ecke der Stille, denn wer dort sitzt, wird von den Lehrern irgendwie nie wahrgenommen.", ergänzte Josephine.
Die Mädels erzählten noch mehr über seltsame Eigenheiten von manchen meiner neuen Mitschüler und obwohl ich wirklch aufmerksam lauschte, schaffte ich es nicht mir alle zu merken. Klatsch und Tratsch wurden hier anscheinend sehr groß geschrieben, weshalb alles und jeder äußerst intressant für meine neuen Wegbegleiter war. Dabei wurden sie jedoch nie unfreundlich, sondern drückten sich stets resprektvoll aus, wenn es um andere Personen ging. Dafür bewunderte ich sie – Zurückhaltung ist eineTugend, so eine weitere Lehre von meiner Maddy. Ich hingegen war immer sehr direkt und ehrlich gesagt, konnte ich schlecht ein Blatt vor den Mund nehmen, wenn ich mich erst einmal in Rage geredet hatte. Zum Glück lag mein Schreibblock noch im Klassenraum, sonst hätte ich bestimmt ein paar weniger freundliche Kommentare zu ihren Erzählungen gegeben.
Es ist schon bemerkenswert, wie unterschiedlich sich Menschen in Abhängigkeit von ihrem Freundeskreis entwickeln. Waren Maddy, ich und unsere damaligen Freunde lauthals am Lästern und Gackern, beschränkte man sich hierauf netten Ausdruck und Gekicher hinter vorgehaltener Hand. Ich grinste nur, um meine Anteilnahme am Gespräch zu zeigen und hielt mir nicht die Hand vor den Mund – verstecken war in gewisser Weise schon meine Art, allerdings wollte ich mich köperlich zumindest nicht von diesen Leuten distanzieren, sodass mein Geist auch ihnen hoffentlich bald vertrauen könnte.
Dabei lag mein Schicksal im Grunde genommen nicht in meiner Hand, sondern in dem Heim, das gerade den „bestmöglichen Platz" für „ein Kind meiner Art" hatte. Andauernd musste ich mich in der Vergangenheit mit häufigen Ortswechseln arrangieren, da ein Heimkind wie ich ja „schwere Kost" war, nur weil es andere nicht schafften mich zu akzeptieren.
Hier, bei miener neuen Klasse, schien das anders. Sie sind wohl die weltoffensten Menschen, die mir je begegnet sind. Ihre vorbildliche Moral wird bis auf die Pike verfolgt, sodass sie schon fast als Mustermenschen anzusehen waren. Irgendwie absurd, gerade einen Wechsellaunigen Teenager so zu betitteln, aber genau das dachte ich, als ich halb ab-, halb anwesend neben ihnen im Gras unter den langen Ästen der Weide saß.
„Sag mal Sue, du wirst doch gleich weiterschreiben oder?", sprach mich urplötzlich Tanja an und riss mich somit aus meiner verzweigten Trance. Zustimmend nickte ich – etwas anderes blieb mir schließlich auch nicht über.
„Kommt noch mehr über Maddy?",fragte Maddison gefasst, wobei jedoch ein ergriffener Unterton mitschwang. Ich schüttelte nur den Kopf. Klar, würde Maddys Geschichte nie wirklich zu Ende sein und ich könnte ihnen noch für den Rest unserer Leben von ihr erzählen, doch ich spürte langsam, wie es ihnen reichte. Tatsächlich blieb mir für den folgenden Teil nur noch verhältnissmäßig wenig Zeit, weshalb ich quasi gezwungen war, fortzufahren, es aber gleichzeitig auch von mir aus wollte.
Das nächste Thema, meine zweite und dritte Tragödie, hatte mich entgültig zum Schweigen gebracht und ich wollte, dass sie diese Reaktion meinerseits verstanden, noch heute. Ich wusste nicht, ob ich es ein weiteres Mal schaffen würde, meine Geschichte auf diese Art zu erzählen und wollte unbedingt beenden, was ich begonnen hatte.
„Willst du uns schon verraten, worum es geht?", fragte Annabell mich nun vorsichtig. Mit dem Versuch, nicht unfreundlich zu wirken, schüttelte ich dieses mal sehr sachte verneinend den Kopf.
„Ist in Ordnung.", meinte die Fragende verstehend. Irgenwie taten sie mir Leid, in ihrer Unwissenheit von den möglichen Grausamkeiten, die das Leben so bieten kann. Sie allesamt schienen noch so unwissend, in einem gut behüteten Umfeld zu leben, das ich gerade in Begriff war zu zerstören, einfach die schützenden Mauern einzureißen und ihren Kopf wie ein Wink mit dem Zaunpfahl auf das Grauen zu richten, um ihnen zu zeigen, wie schlecht diese Welt sein kann.
Wobei, soeben war sie nicht schlecht – zumindest nicht zu mir. Nein, sie war gütig und verständnisvoll, lieb und höflich. Wie unfair von mir, ihnen diese Illusion zu nehmen, diese traumhafte Landschaft zu zerstören.
Aber so bin und war ich nunmal. Vielleicht war es mein Schicksal, ihnen diese Vorstellung zu entreißen und mühselig in die wahre Welt zu schleifen. Hier ging es nicht mehr um Einklang und durchweg exsistierender Harmonie, nein, hier ging es um das Gleichgewicht von Schmerz und Freude, die das Leben auf seine einzigartige Weise ausmachen, bestimmen und überhauptlebenswert gestallten.
Es ist das Leben, was ein jeder von uns führt. Es ist der Kampf um den Einklang.
Ich möchte ausdrücklich kein Persimist sein, aber manchmal zieht das Leben einen selbst richtig runter und man scheint wehrlos nichts dagegen unternehmen zu können. Diesen Zustand müsste ich gleich der Klasse erklären und das auch noch an meinem eigenen Beispiel, an meinen Eltern. Ich liebte sie über alles in der Welt und das wollte ich wahrheitsgetreu rüberbringen, doch mir graute es davor, dass der Rest ihrer Geschichte diese Liebe überschatte würde.
Es Klingtelte erneut und alle erhoben sich, um in einem ungeordneten, wilden Strom zurück zu ihren Klassenräumen zu eilen. Diese Drängelei war etwas, dass ich definitiv nicht vermisst hatte. Immer wieder erinnerte sie mich an ein Mädchen mit Berührungsänsten, die ich in einer Terapiegruppe kennenlernt hatte. Dagegen war mein Schweigen quasi problemlos möglich, hatte ich mir damals wie heute eingestehen müssen. Obwohl ich zeitweise vielleicht noch viel kränker als so viele von ihnen gewesen bin, so bemitleide ich doch jeden einzelnen von ihnen, die sie sich selbst nicht akzeptieren und sich mit ihren Problemen konfrontieren konnten. Wahre Stärke kommt von innen – eine weitere von Maddys Lehren, die ich sogleich auch brauchen würde. Für sie bestand ein wahrer Held nicht aus möderischem Mut oder willkrlichen, gewaltsamen Handeln, sondern aus guter Moral und Mut, sich seinen eigenen Ängsten zu stellen. Ich immer so sein wollen, ein guter, mutiger Mensch. Ob ich daran gescheitert war? Ich weiß es selber bis heute nicht und schere mich auch nicht weiter darum. Bekanntlich soll man aus einer Mücke keinen Elefanten machen, was ich zugegeben früher nur viel zu oft praktizierte. Man muss zu sich, seiner Geschichte und seinen Fehlern stehen. Ja, das war genau das was ich jetzt machen würde, denn nur so konnte ich den nächsten Teil überstehen.
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