Im verspiegelten Glaskasten
Seine starken Armen hatten sich fest um ihre Taille geschlungen, sie schmiegte sich an seinen Bauch und schloss für einen kurzen Moment die Augen, atmete seinen betörenden Geruch ein. Vom offenen Meer wehte eine steife Brise und zerzauste ihr Haar. Sie schmeckte seine Lippen auf ihren und drehte sich wieder zu ihm, wollte mehr.
Im Haus hörte sie schon das Aufdrehen von Wasserhähnen und das Auf- und Absteigen auf der großen Holztreppe. Normalerweise war sie eine der Ersten, die morgens auf war, aber heute nicht. Sie hatte wieder geträumt. Das Meer war unruhig und warf sich rastlos gegen die Felsen unter dem Haus. Unzählige Wassergestalten, die versuchten durch die dicke Steinwand zu brechen, dabei jedoch kläglich scheiterten. Es war, als könnte sie ihren Schmerz spüren. Sie drehte sich zu ihrem Bett. Wünschte, er wäre noch da, aber die rechte Betthälfte war leer. Sie konnte ihn nicht aus ihren Träumen mit nachhause bringen. Sie schafften es nie die Grenze zwischen Traumwelt und Realität zu überschreiten. Dabei fühlte es sich jedes Mal so real, so echt an. Doch sie war wieder allein. Fühlte sich wie in einem verspiegelten Glaskasten, war sich sicher, er würde sie jetzt grade hier in ihrem kleinen Zimmer mit den großen Fenstern und den verstreuten Kleidern auf dem Boden sehen. Nur sie war nicht dazu in der Lage ihn zu sehen. Konnte nur noch seine Berührungen aus ihrem Traum nachempfinden. Der Hauch eines Sommerwindes auf ihren Armen von seinen Händen. Das Ziehen in ihren Haaren, als hätten sie sich in einem Rosenbusch verfangen. Seine federleichten Lippen auf ihren, wie sie einen Tanz im Einklang und der Gegensätze führten. Ihre langen Finger fanden ihre Lippen und pressten sich darauf.
Ein Traum. Nicht mehr als das. Sie wünschte sich, sie könnte weglaufen, hinter sich lassen, was nicht gut war und ihr Glück suchen. Alles fühlte sich abgenutzt an. Die ausgehöhlten Konversationen mit ihren Freunden. Die fremde Leere, die sie umfing, wenn sie mit ihrer Familie zu Abend aß. Ab und an verirrte sich ihr tastender Blick in den Himmel mit seinen rasant weiter ziehenden Wolken und sie frage sich, wie es wohl wäre frei, wie die Wolken zu schweben.
Sie war schon immer eine Träumerin, vielleicht hatte sie sich auch deswegen eine Traumwelt erschaffen, in die sie sich jede Nacht flüchtete und ihre Nächte mit einem Wesen ihrer Träumen verbrachte. Sie wusste nicht, ob er real war, ob es ihn irgendwo tatsächlich gab, wollte es auch nicht erfahren. Wollte aus diesem ewig andauernden Traum nicht erwachen und ihn platzenlassen, wie eine schillernde Seifenblase. Aber für jetzt musste sie die Grenze der Türschwelle übertreten und voll in die Realität eintauchen. Seinen Arm, den sie immer noch um sich spürte, abstreifen.
Ihre braunen Haare fielen in kleinen Wellen über ihren Rücken. Zarte Hände griffen ins Leere, als sie den Knauf zur Esszimmertür ertasten wollte. Die Tür stand bereits offen. Ihre Familie hatte mit dem Essen begonnen. „Mein Liebling, setz dich zu uns." Es war ihre Mutter, die ihren Blick vom reich gedeckten Tisch auf ihre Tochter richtete, wie sie verloren im Türrahmen stand und in den großen, holzgetäfelten Raum hineinstarrte. Sie sah so zerbrechlich und hilflos aus. Aber auch wunderschön. Auf ihre Weise. Mit kurzen Schritten erreichte sie den Tisch, ein Stuhl wurde für sie bereit gerückt und eine Tasse Kaffee eingeschenkt. „Hast du gut geschlafen, Liebes?", fragte die Stimme aus dem Dunkel. „Ja." Sie nickte und nippte an ihrem Kaffee, stellte ihn jedoch gleich wieder zurück und ertastete den Zuckerstreuer, der ganz in der Nähe stehen musste. Ihr Bruder reichte ihn ihr. Drei Ladungen landeten in ihrem Becher und versuchten so, ihr den Morgen zu versüßen. Wenn er jetzt neben ihr sitzen könnte, würden sich ihre Hände unter dem Tisch begegnen? „Nur der Wind ließ mich ein paar Mal aufschrecken." Von ihren wilden Träumen und dem jungen Mann mit den starken Armen berichtete sie lieber nichts. Ihre Mutter strich sich durch das streng nach hinten gekämmte Haar und zog die Stirn in Sorgenfalten.
„Was hältst du davon, heute mit uns in die Stadt zu fahren?" „Ja warum nicht." Augenblicklich stellte sie sich vor, wie er mit ihnen fahren würde. Ihre Hand in seiner, wie sie sich Geheimnisse auf der Rückbank des Wagens zuflüsterten und sein Grübchen hervorkommen würde, weil sie so lachten. In der Realität saß sie hinten auf der Rückbank, allein und spielte nervös mit ihren Händen. Es fühlte sich entsetzlich an in diesem Glaskasten gefangen zu sein und zu wissen, dass hinter den Grenzen ihrer selbst das Leben stattfand.
Sie traf sich mit ihren Freundinnen. Für einen flüchtigen Moment sahen die vier ganz gewöhnlich aus, wie sie durch die Stadt schlenderten, die Arme eingehakt, lachend. „Hier, sieh dir sein Bild an! Der glaubt doch nicht ernsthaft, ich schreibe ihm zurück!" Sie saßen an einem kleinen Bistrotisch und die Mädchen reichten ihre Handys herum, auf dessen Displays makellos überarbeitete Gesichter von jungen Männern mit leeren Augen zu sehen waren. Sie wusste, dass sie das fünfte Rad am Wagen war, mehr erduldet als erwünscht und spielt mit ihren Händen. Die Vorstellung daran, dass er das jetzt tun würde, beruhigte sie. Sie spürte seine großen Hände um ihre und hörte sein Lachen in ihren Ohren wiederhallen.
Es war eine dieser Vollmondnächte, in denen sie wusste, was passieren würde. Sie hatte bereits den ganzen Tag über die Nacht herbeigesehnt. Und als die Nacht kam, erschien er aus dem Nebel und hüllte sie in seine Liebe. Die Grenzen zwischen ihnen verschwammen, bis es keine mehr gab. Er hatte ihr etwas zugeflüstert in dieser Nacht. „Komm morgen früh zu mir an den Strand." Und genau dort saß sie jetzt. Der Seewind blies um ihre Nase und sie ließ sich ihr Gesicht von der Sonne erwärmen.
Ja, sie war blind. Verlor ihr Augenlicht bei einem tragischen Unfall. Aber sie war hier. Hier, weil er sie hierhergeführt hatte. Die Grenzen, die sie manchmal umgaben, waren nichts weiter als ein Seidenschleier. Und manchmal schafften sie es ihn anzuhaben. Sie ließ den Sand durch ihre Finder gleiten. Und da, vor ihr am Ufer, stand er. Blickte sie an, sah so viel in ihr, lächelte. Doch sie konnte ihn durch ihre verspiegelten Glasscheiben, ihre unsichtbaren Grenzen, nicht sehen. Das Meer umspülte seine Knöchel und die Sonne ließ sein Haar erstrahlen. Unverhofft hob eine Meeresbrise den Seidenschleier an. Und sie wusste, er war da. Spürte seine Gegenwart mit jeder Faser ihres Körpers. Ihre silberschimmernden Tränen waren der Beweis für ihn, dass sie wusste, er war bei ihr. Er würde es immer sein. Er würde immer auf sie achten. Und sie lieben. Wie er es seit dem ersten Tag getan hatte. Und das wusste sie sicher. Sie lächelte.
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Dies ist eine Kurzgeschichte, die ich für einen Wettbewerb geschrieben habe & die (natürlich, wie immer) nicht gewonnen hat (oder es in die Shortlist geschafft hat). Um wie viel wollen wir wetten, dass eine bereits aktive Autorin, die schon ein paar Bücher verlegt hat und sich somit bestens damit auskennt, was gut ankommt und auf was eine Jury achtet, gewinnt. Und soll ich euch was sagen: ich hab's satt.
In den nächsten Tagen wird noch eine ähnliche Kurzgeschichte kommen, da ich (bis ich es zu dieser Version schaffte) etliche Rohformen verfasste.
Lasst ihr mir doch wenigstens Feedback da und sagt mir, wie ihr diese Kurzgeschichte findet.
Sincerely, Lisa
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