KAPITEL 10
WÜSTENSTURM STAND auf einer Anhöhe, die das DonnerClan-Territorium überblickte. Der Wind pfiff kalt durch das herbstlich gefärbte Laub, und das stetige Rauschen des Baches in der Ferne erfüllte die Luft mit einer melancholischen Ruhe. Neben ihr saß Jaguarkralle, sein dunkles Fell hob sich wie ein Schatten gegen die goldenen Blätter ab. Obwohl sie seine Nähe spürte, schien eine unsichtbare Last zwischen ihnen zu liegen. Die Anspannung, die beide Katzen spürten, schien im Einklang mit den bedrohlich düsteren Wolken am Himmel.
„Das Wetter schlägt bald um“, murmelte Jaguarkralle, seine bernsteinfarbenen Augen prüften den Horizont.
Wüstensturm nickte schweigend. Auch sie spürte die kühle Schwere in der Luft, die das Ende der Blattgrüne ankündigte und den herannahenden Blattfall spürbar machte. Doch es war nicht nur das Wetter, das ihr Sorgen bereitete. Seit einigen Tagen herrschte Unruhe im DonnerClan-Lager. Die ständige Bedrohung durch die Krankheit, die geschwächten Krieger und der Mangel an Frischbeute nagten an ihrer Zuversicht. Und dann war da noch der Zustand von Rattenstern, der keine Besserung zeigte. Der DonnerClan-Anführer, normalerweise eine Säule der Stärke, lag hilflos in seinem Bau und kämpfte gegen die Krankheit, die ihn zu überwältigen schien.
„Wir müssen uns beeilen“, sagte Wüstensturm schließlich und stand auf. „Wenn wir die Patrouille nicht schnell erledigen, wird es dunkel, und das können wir uns bei unserer derzeitigen Situation nicht leisten.“
Jaguarkralle erhob sich ebenfalls und nickte knapp. „Bist du dir sicher, dass wir zu zweit gehen sollten? Es ist gefährlich, gerade jetzt, wenn die anderen Clans uns vielleicht angreifen könnten. Wir sind zu schwach, um einen ernsthaften Kampf zu führen.“
„Ich weiß“, gab Wüstensturm zu. „Aber wir können nicht mehr Krieger entbehren. Fleckenfell ist im Lager geblieben, um sicherzustellen, dass die Kranken versorgt sind, und Regentau braucht jede Pfote, um die Heilerarbeiten zu bewältigen. Wenn wir jetzt nicht selbst patrouillieren, könnten wir das gesamte Territorium verlieren.“
Jaguarkralle brummte zustimmend, auch wenn seine Augen besorgt aufblitzten. „Dann sollten wir los. Je schneller wir fertig sind, desto besser.“
Die beiden Krieger machten sich in schnellem Tempo auf den Weg. Der Boden unter ihren Pfoten war feucht, und das Laub raschelte leise, während sie durch den Wald schlichen. Die Stille um sie herum schien drückend, als hätte der gesamte Wald den Atem angehalten. Selbst die Vögel schienen verstummt zu sein.
Nach einer Weile des wortlosen Laufens blieb Wüstensturm abrupt stehen. Ihre Ohren zuckten und sie hob die Nase in den Wind. Jaguarkralle tat es ihr nach, seine Augen schmalten sich zu Schlitzen, als er die Luft prüfte.
„Riechst du das?“, fragte Wüstensturm leise.
Jaguarkralle nickte, sein Körper spannte sich an. „WindClan.“
„Das dachte ich mir“, murmelte Wüstensturm, ihre Augen funkelten vor Anspannung. „Aber warum hier? Das ist nicht ihr Territorium.“
„Vielleicht testen sie unsere Grenzen“, schlug Jaguarkralle vor und sah sich aufmerksam um. „Sie wissen sicher, dass wir geschwächt sind. Es wäre ein idealer Zeitpunkt für einen Angriff oder um uns zu verunsichern.“
Wüstensturm nickte, ihre Gedanken rasten. Windstern war dafür bekannt, seine Gegner auszutricksen, bevor er zuschlug. Es wäre nicht untypisch, wenn er Patrouillen ausschickte, um den DonnerClan einzuschüchtern, bevor er einen ernsthaften Angriff plante. Doch etwas an diesem Geruch war ungewöhnlich. Er war frisch, ja, aber nicht zahlreich genug, um eine vollwertige Patrouille zu sein. Es roch nach zwei, vielleicht drei Katzen – nicht genug, um einen ernsthaften Kampf zu führen.
„Komm“, miaute Wüstensturm entschlossen und setzte sich wieder in Bewegung. „Wir müssen herausfinden, woher dieser Geruch kommt. Wenn sie uns ausspionieren, müssen wir das wissen.“
Die beiden Krieger folgten dem Geruch, der sich tiefer in den Wald zog. Je weiter sie kamen, desto stärker wurde das Gefühl der Anspannung. Der Geruch des WindClans vermischte sich zunehmend mit dem Geruch von frisch aufgewühltem Erdreich und... Blut.
„Da vorne!“, rief Jaguarkralle plötzlich, seine Augen weiteten sich, als er etwas in der Ferne entdeckte.
Wüstensturm folgte seinem Blick und sah es auch. Auf einer kleinen Lichtung lag ein Körper, das helle Fell des WindClans hob sich deutlich vom düsteren Waldhintergrund ab. Sie rannten beide los, die Besorgnis trieb sie an.
Als sie die Lichtung erreichten, stießen sie abrupt ab. Vor ihnen lag der reglose Körper einer WindClan-Kriegerin. Ihr silbergraues Fell war mit Blut befleckt, ihre Flanke hob und senkte sich kaum merklich.
„Sie lebt noch“, stellte Jaguarkralle fest, seine Stimme war von Anspannung durchzogen. „Was machen wir?“
Wüstensturm war für einen Moment ratlos. Es war untypisch für den DonnerClan, einem feindlichen Clan-Krieger zu helfen, besonders in Zeiten wie diesen. Aber das war kein normaler Fall. Diese Kätzin war schwer verwundet und offensichtlich allein.
„Wir müssen ihr helfen“, entschied Wüstensturm schließlich und sah Jaguarkralle ernst an. „Sie ist keine Bedrohung in ihrem Zustand. Wenn wir sie hier liegen lassen, wird sie sterben.“
„Und wenn der WindClan herausfindet, dass wir eine ihrer Kriegerinnen gerettet haben?“ Jaguarkralle war sichtlich hin- und hergerissen. „Das könnte als Schwäche ausgelegt werden.“
„Es könnte auch als Geste des Friedens gewertet werden“, konterte Wüstensturm. „Vielleicht können wir auf diese Weise einen Angriff abwenden.“
Jaguarkralle seufzte, aber er widersprach nicht weiter. „In Ordnung. Aber wir sollten vorsichtig sein. Wir wissen nicht, wie schwer sie verletzt ist oder was sie hier gemacht hat.“
Gemeinsam beugten sie sich über die WindClan-Kriegerin. Wüstensturm überprüfte ihre Verletzungen – eine tiefe Wunde an der Flanke und mehrere Kratzer am Hals. Es sah aus, als wäre sie in einen heftigen Kampf verwickelt gewesen.
„Das ist nicht von uns“, stellte Wüstensturm fest, während sie die Wunde untersuchte. „Es sieht aus, als hätte sie gegen mehrere Katzen gekämpft, aber nicht aus unserem Clan.“
„Also ein anderer Feind“, murmelte Jaguarkralle. „Was bedeutet das?“
Wüstensturm schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber was auch immer passiert ist, es ist nicht gut.“
Gemeinsam hoben sie die verletzte Kätzin vorsichtig auf und trugen sie zurück in Richtung des DonnerClan-Lagers. Die Spannung zwischen ihnen hatte sich etwas gelegt, aber die Sorge über das, was sie gefunden hatten, blieb bestehen.
„Was, wenn Windstern uns angreift, weil er denkt, wir hätten sie angegriffen?“, fragte Jaguarkralle, als sie das Lager in Sichtweite hatten.
„Wir werden ihm die Wahrheit sagen“, antwortete Wüstensturm entschlossen. „Und hoffen, dass er uns glaubt. Aber zuerst müssen wir sie am Leben erhalten.“
Wüstensturm und Jaguarkralle hatten die WindClan-Kriegerin sicher ins Lager gebracht. Die anderen DonnerClan-Katzen scharten sich neugierig um sie, während Regentau heraneilte, um die Verletzte zu untersuchen. Wüstensturm stand beiseite, ihre Gedanken rasten. Sie konnte nicht begreifen, warum sie die Kätzin nicht kannte. Ihr silbergraues Fell und ihre markanten Züge waren ihr völlig fremd, und das, obwohl sie doch die Tochter von Windstern war. Sie kannte beinahe jede Katze ihres ehemaligen Clans, doch diese hier war wie ein Rätsel.
„Wüstensturm?“, rief Regentau von der Seite, während sie das Moos von der Wunde der WindClan-Kriegerin entfernte. „Ich glaube, sie ist wach. Du solltest vielleicht mit ihr reden.“
Wüstensturm nickte und trat näher, gefolgt von Jaguarkralle, der sich besorgt an ihre Seite stellte. Die silbergraue Kätzin öffnete schwach die Augen, ihre Atmung war schwer und unregelmäßig.
„Wer bist du?“, fragte Wüstensturm, ihre Stimme fest, aber nicht unfreundlich. „Und was ist dir zugestoßen?“
Die silbergraue Kätzin blinzelte benommen und versuchte, sich aufzurichten, doch sie sank mit einem schmerzvollen Zischen zurück ins Moos. Ihre Augen huschten misstrauisch von Wüstensturm zu Jaguarkralle, bevor sie schließlich leise zu sprechen begann.
„Mein Name ist Eschenfell… aber ich bin nicht wirklich vom WindClan“, murmelte sie schwach. Ihre Stimme war heiser, als hätte sie lange Zeit nicht gesprochen. „Ich war eine Streunerin, bevor sie mich gefangen haben.“
Wüstensturm zuckte überrascht mit den Ohren. „Gefangen?“
Eschenfell nickte leicht und schloss kurz die Augen, als würde sie sich an die schmerzhaften Erinnerungen zurückerinnern. „Ja, Windstern und seine Krieger haben mich gefunden, als ich durch das WindClan-Territorium gestreift bin. Sie sagten, ich sei eine Bedrohung, weil ich mich zu nahe an ihren Grenzen aufhielt, und nahmen mich mit. Ich hatte keine Wahl. Seitdem bin ich im WindClan gefangen und muss für sie kämpfen.“
„Was?“ Jaguarkralle knurrte tief in seiner Kehle. „Windstern nimmt Streuner auf und zwingt sie zum Kämpfen? Das ist gegen den Kriegerkodex!“
„Es ist schlimmer“, flüsterte Eschenfell, ihre Augen weiteten sich vor Angst. „Windstern weiß, dass der DonnerClan schwach ist. Er plant etwas. Ich habe die Krieger darüber reden hören… sie wissen, dass ihr krank seid, dass viele von euch geschwächt sind.“ Ihr Atem ging schneller, und ihre Stimme zitterte vor Panik. „Windstern wartet nur auf den richtigen Moment, um euch anzugreifen und euer Territorium zu übernehmen.“
Wüstensturms Herz begann schneller zu schlagen. Die Information traf sie wie ein Schlag. Sie wusste, dass ihr Vater ein skrupelloser Anführer war, doch dass er zu solch perfiden Mitteln griff, war selbst für ihn ungewöhnlich. Er hatte immer ein besonderes Auge auf das DonnerClan-Territorium gehabt, doch sie hatte gehofft, dass er nach ihrem Weggang und ihrer Flucht in den DonnerClan zumindest einen Funken Ehre bewahrt hatte.
„Und sie haben dich losgeschickt, um uns zu beobachten?“, fragte Wüstensturm scharf, ihre Augen verengten sich.
Eschenfell schüttelte schnell den Kopf. „Nein, nein! Sie haben mich nicht geschickt. Ich habe versucht zu fliehen. Ich wollte weg vom WindClan… Ich kann dieses Leben nicht mehr ertragen. Ich wollte nur meine Freiheit zurück, aber sie haben mich verfolgt, mich verletzt und…“ Ihre Stimme brach ab, als sie wieder schwer atmete.
Wüstensturm und Jaguarkralle wechselten einen besorgten Blick. Die Lage war ernst. Wenn Windstern tatsächlich wusste, wie schwach der DonnerClan war, konnte ein Angriff unmittelbar bevorstehen. Und der DonnerClan war nicht bereit, eine solche Bedrohung abzuwehren.
„Was sollen wir tun?“, fragte Jaguarkralle leise. „Wenn der WindClan tatsächlich plant, uns anzugreifen, dann haben wir kaum eine Chance, uns zu verteidigen.“
Wüstensturm schwieg für einen Moment. Die Verantwortung als Anführerin lastete schwer auf ihr, besonders in diesen unsicheren Zeiten. Doch sie wusste, dass sie nicht aufgeben durfte. Ihre Krieger zählten auf sie. „Wir müssen es verhindern, bevor es zu einem Kampf kommt“, sagte sie schließlich entschlossen. „Wir müssen Windstern zeigen, dass wir stärker sind, als er denkt. Er darf nicht glauben, dass er uns so einfach überwältigen kann.“
„Und wie sollen wir das anstellen?“, fragte Jaguarkralle skeptisch.
„Indem wir vorbereitet sind“, antwortete Wüstensturm. „Wir werden unsere Grenzen verstärken und mehr Patrouillen schicken, um zu zeigen, dass wir bereit sind, uns zu verteidigen, auch wenn es uns schwerfällt. Und wir werden den SternenClan um Rat bitten. Regentau muss Rattenstern wieder zu Bewusstsein bringen, wenn möglich. Ein DonnerClan ohne Anführer könnte ein zu leichtes Ziel sein.“
„Aber die Katzen sind erschöpft“, warf Jaguarkralle ein. „Wir können sie nicht noch mehr belasten.“
„Ich weiß“, gab Wüstensturm zu, und ihr Herz zog sich bei dem Gedanken zusammen, dass sie ihre Krieger an ihre Grenzen treiben musste. „Aber wir haben keine Wahl. Wenn wir jetzt schwach erscheinen, wird der WindClan uns verschlingen.“
Eschenfells schwache Stimme unterbrach ihre Besprechung. „Ich will helfen“, flüsterte sie und sah Wüstensturm mit entschlossenen, wenn auch müden Augen an. „Ich habe lange genug im Schatten des WindClans gelebt. Wenn ihr mir erlaubt, werde ich euch alles erzählen, was ich weiß. Windstern darf nicht gewinnen.“
Wüstensturm musterte die silbergraue Kätzin. Sie war noch schwach, aber die Entschlossenheit in ihren Augen ließ keinen Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit. Wüstensturm nickte schließlich. „In Ordnung. Du kannst uns helfen. Aber zuerst musst du wieder zu Kräften kommen.“
„Danke“, hauchte Eschenfell und ließ sich erschöpft zurücksinken.
„Jaguarkralle, bring sie zu Regentau. Sie wird sich um sie kümmern“, sagte Wüstensturm und beobachtete, wie Jaguarkralle der verletzten Kätzin half, sich aufzurichten. „Wir müssen einen Rat abhalten. Ich werde die anderen Krieger zusammenrufen. Es gibt viel zu besprechen.“
Jaguarkralle nickte und half Eschenfell auf, während Wüstensturm ihm noch einen letzten besorgten Blick zuwarf, bevor sie sich umdrehte und mit festen Schritten ins Lager lief. Ihre Gedanken rasten. Der WindClan wusste über die Schwäche des DonnerClans Bescheid. Windstern war unberechenbar, das hatte sie immer gewusst. Doch nun stand nicht nur das Territorium auf dem Spiel, sondern das Überleben ihres Clans.
Sie musste stark sein. Für ihre Krieger, für ihren Clan. Sie konnte und würde ihren Vater nicht gewinnen lassen.
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