Kapitel 3. Am Fluss
Der Duft von etwas Großem lag in der Luft, sie spürte es sofort, in dem Moment, in dem sie aus dem Bau tappte und den Wind im Fell spürte. Nichts Konkretes, und doch deutlicher als alles, das sie je gespürt hätte – das Gefühl von etwas Großem in der Luft. Klar und unscharf wie ein Spiegelbild im Fluss.
Ganz wie damals, in der Kinderstube, als sie Wolljunges das erste mal gesehen hatte. Bei Schafsjunges war es allen klar gewesen. Aber dass Wolljunges dazugehörte, dass sie auch eine Sagerin war, das hatte erst Sturmpfote gesehen. Und nur Sturmpfote hatte es glauben wollen, bis vor ein paar Monden, denn wer glaubte schon einer Schülerin, dass es zwei Sager gab, das hatten die Clans seit Generationen nicht mehr gesehen. Engstirnige, konservative alte Kratzbürsten, hatte Ascheregen gesagt und ihr natürlich auch nicht geglaubt.
Heute war es etwas anderes, ein anderes Gefühl als damals, und doch das Gleiche.
Niemand sah es. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, dann schüttelte sie sich und prüfte die Luft. Regen, wahrscheinlich nach Sonnhoch. Da würden sie wieder zurück sein und Federpfote müsste auf Patrouille, der arme. Aber vielleicht fing der Regen schon früher an und er musste gar nicht erst los. Die Nachmittagspatrouillen sollten sicherheitshalber jetzt schon aufbrechen, der Frischbeutehaufen war schon halbleer. Aber wenn sie Grauschweif das jetzt sagte, müsste sie ihm den Rest des Tages Zecken aus dem Pelz fressen, also seufzte sie nur und trabte schweigend zum Ältesten hinüber.
»Sehr gut, da bist du ja. Guten Morgen, Kleine. Gut geschlafen?«
Sie zuckte mit dem Schwanz. Sie hasste es, klein genannt zu werden. Vor allem von Grauschweif, der fast kleiner war wie sie. »Zu kurz.«
Er neigte den Kopf. »Wir gehen nur zum Fluss. Bei Sonnhoch sind wir wieder zurück.« Er sah sie flüchtig an, dann nickte er und trabte los.
Mit kribbelnden Pfoten folgte sie ihm. Es kam genau wie erwartet, außerhalb des Lagers war das Gefühl noch stärker, spornte sie an, zog sie zu sich, weiter hinaus, voran. Es war nicht der Regen. Das hatte sie am Anfang noch gedacht, in Erwähnung gezogen jedenfalls, doch das war es nicht. Etwas lag darunter. Dahinter. Nur konnte sie nicht erkennen, was es war.
Und wenn Sturmpfote etwas ganz und gar nicht ertragen konnte, dann, nicht zu wissen. Etwas nicht zu erkennen, das vor ihrer Nase lag.
Der Fluss war der falsche Ort. Warum sollte man zum Fluss gehen, wenn Regen in der Luft lag? Sturmpfote steuerte weiter nach Osten. Ein paar Schwanzlängen konnte man ausscheren. Wenn man sich fallen ließ und es niemand bemerkte, ein paar mehr. Und wenn die Patrouille aus WindClan-Katzen bestand, konnte man gehen, wohin man wollte.
Was glücklicherweise der Fall war. Ihre Pfoten trommelten auf den Boden, als sie eine scharfe Rechtskurve einschlug und auf die Grenze zusteuerte, erst kurz davor drosselte sie ihr Tempo, kam zum Stehen und starrte auf die andere Seite.
Ein Herzschlag.
Dann, Stimmen. Der SchattenClan hatte seine Routine noch immer nicht geändert, immer die gleichen Zeiten, im Fünftagestakt. Wahrscheinlich die Arbeit von Eibendorn, die immer noch dachte, keine andere Katze außer ihr könnte bis fünf zählen.
»Sturmpfote!« Pfotenschläge hinter ihr, sie drehte sich gar nicht um, ehe der schnaufende Grauschweif neben ihr Platz gefunden hatte. »Was zum SternenClan machst du da? Wir dachten schon, der Fuchs hätte dich geholt! - oh.« Er hielt inne. Im ersten Moment zu versteinert, um zu antworten, starrten sie sich an – Amselfeder auf der einen Seite, Grauschweif auf der anderen. Dann schälten sich drei andere Katzen aus dem Dickicht und der SchattenClan war in der Überzahl. »Wir sind nicht auf Streit aus und wollen euch keine Beute stehlen«, sagte er sofort.
Ein Zeichen dafür, dass er Amselfeder nicht kannte. Nicht, dass Sturmpfote sie wirklich gekannt hätte – nun ja, aus der Ferne, bei den Großen Versammlungen hatte sie sie beobachtet. Für eine Unterhaltung hatte bisher weder Interesse noch Dringlichkeit bestanden, doch zumindest kannte sie sie gut genug, um zu wissen, dass dieser gelangweilt-griesgrämige Gesichtsausdruck der schwarzen Kätzin wirklich kein Grund zur Sorge war. Im Gegenteil. Das war ihr Ausdruck von Freundlichkeit.
Jedenfalls vor der Unterstellung. Grauschweif konnte manchmal wirklich alles nur noch schlimmer machen.
»Wir auch nicht«, knurrte sie mit blitzenden Zähnen. »Der SchattenClan stiehlt keine Beute.«
Sturmpfote wandte kurz den Blick ab, um Amselfells Begleiter zu inspizieren – wahrhaftig nicht die richtige Truppe für einen SchattenClan-Überfall. An ihrer Flanke stand Schlitzohr, der älteste Heiler des Clans, und dahinter ein recht langweilig aussehender braun-weißer Kater, dessen Namen sie sich nicht merken konnte, und der Tratschtantenschüler, mit dem sich Stoppelpfote immer auf den Großen Versammlungen unterhielt.
Sturmpfotes Augen wanderten wieder zu Amselfeder. Sie war verbittert. Und sie sprach nie, und überhaupt wusste niemand, was der SternenClan nur an ihr hatte, aber sie zählte zu den interessanteren Mitgliedern der Patrouille. Zumindest für heute.
Und Sturmpfote war nicht umsonst hierher gekommen. Das würde ihr sicher ein paar Stunden Nestersäubern einbringen, doch diesmal hatte sie keine Wahl. Angreifen würden sie schon nicht. Vier gegen zwei, nein, dafür war Amselfeder zu stolz und Schlitzohr zu klug.
»Grauschweif kann nichts dafür, ich bin hierher gerannt.« Sie lächelte kurz, kurz genug, um authentisch zu wirken, und Grauschweif nur eine winzige Möglichkeit zu geben, etwas zu antworten, für die er einen Tick zu langsam war. »Ihr habt eine Prophezeiung bekommen, nicht wahr? Eine Bedrohung.« Sie grub die Krallen in die Erde. »Etwas, das uns alle betrifft.«
Die Luft stand unter Strom. Eine Bewegung und alles würde zerplatzen.
Sturmpfote schnippte mit dem Ohr. »Kleejunges erzählt es allem im Clan. Er ist-«
»Sturmpfote, wir gehen jetzt sofort zum Fluss.«
Sie zuckte mit dem Schwanz und fasste Schlitzohr ins Auge. Derselbe Blick in seinen Augen. Sie brauchten gar nicht zu antworten. Die Reaktion war klarer als tausend Worte. In ihrem Blick lag etwas – und Sturmpfote konnte um Haaresbreite genau sehen, was es war.
Sie setzte ein Lächeln auf und diesmal war es sogar ehrlich, »Naja, ich wollte euch nicht stören. Dann bis bald! Viel Glück bei der Jagd!«, und preschte zurück in das Feld. Hinter sich hörte sie Grauschweif verärgert fauchen, doch sie achtete nicht mehr auf ihn. Am Fluss blieb sie stehen, schloss die Augen und spürte den Wind auf ihrem Fell.
Ja. Der Geruch von etwas Großem lag in der Luft.
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