5. Blattflügels Vermächtnis
Es ist zu früh! Viel zu früh!
Blattflügel konnte ihre eigene Angst riechen. Die Kinderstube war still, nur von draußen drang leises Laubrascheln in den dunklen Bau unter den Ästen, aber der hellbraunen Tigerkätzin dröhnte trotzdem ein Sturm in den Ohren. Sie fühlte ihren Herzschlag im Hals pochen, sie wusste, dass etwas nicht stimmte.
"Ottersee? Ottersee!" Die Stimme der Königin brach beinahe, als sie hilflos nach der Heilerin rief, in ihren Augen stand nackte Panik, während sie versuchte, sich aufzurappeln und von einer weiteren, viel zu heftigen Wehe zurück in ihr Nest gezwungen wurde.
Der Eingang zum Bau raschelte laut, als zwei Katzen auf einmal versuchten, sich durchzuzwängen und zu ihr zu gelangen, doch Ottersee gab Felsenkralle einen energischen Schubs zurück, damit sie eintreten konnte.
"Was ist los? Hast du Schmerzen?", fragte Ottersee. Blattflügel sah, dass sie bemüht war, nicht in Panik zu verfallen, aber sie konnte die Besorgnis sehen. Alle in diesem Bau wussten, dass die hellbraun getigerte Kätzin eigentlich zu alt war, um Junge zu bekommen.
"Kommen die Jungen?", platzte Felsenkralle dazwischen, die Königin konnte eine Mischung aus Angst und Aufregung in seinem Gesicht sehen.
Blattflügel wusste nicht, auf welche Frage sie zuerst antworten sollte, ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie ein Maulvoll Sand heruntergeschluckt und bei der nächsten Wehe brachte sie nur ein schmerzerfülltes Gurgeln zustande. Alles was sie tun konnte, war, zu nicken und den Atem anzuhalten. Sie versuchte, sich einzureden, dass Geburten wehtun sollten, dass alles in Ordnung war, aber nichts konnte dieses kalte Gefühl vertreiben, das ihr in den Schultern saß, wie eine Krähe.
Felsenkralle war mit einem Satz bei ihr und presste seinen starken Körper gegen ihre bebende Flanke.
"Alles wird gut, Blattflügel. Ich bin hier. Wir werden das gemeinsam durchstehen, versprochen", flüsterte der Kater in ihr Ohr, und obwohl die Königin ihm glauben wollte, konnte sie es nicht.
Mittlerweile war auch Moosschwinge auf die Unruhe aufmerksam geworden. Blattflügels beste Freundin hinkte mit der verletzten Pfote erhoben in den Eingang des Baus.
"Ist es schon so weit?" Die Stimme der alten Kätzin war ebenso besorgt wie die aller anderen. Im Gegensatz zu Felsenkralle war sie gar nicht begeistert davon gewesen, dass Blattflügel sich für Junge entschieden hatte und in diesem Moment wünschte sich die Tigerkätzin, sie hätte auf ihre Freundin gehört.
Ottersee bestätigte die anstehende Geburt und sandte Moosschwinge aus, im Stillen Wald hinter dem Lager einen stabilen Stock zu holen, während sie zum Heilerbau rannte und mit einem Haufen mehr oder wenig übel riechender Blätter wieder zurückzukommen.
Blattflügel hätte sich am liebsten übergeben, ihr Körper bäumte sich immer wieder vor Schmerz auf, die Wehen fühlten sich wie Blitze an, die sich jedoch quälend langsam ihren brennenden Weg durch Blattflügels Bauch bahnten. Die Kätzin hatte keine Kontrolle mehr über ihren Körper, heiße und kalte Wellen liefen über ihren Rücken, ließen sie abwechseln vor Hitze keuchen und dann frösteln. Es war so viel schlimmer als sie es sich vorgestellt hatte, aber sie erkannte, dass sie Recht gehabt hatte, Angst davor zu haben. In keinem der Kämpfe, die sie in ihrem Leben durchgestanden hatte, hatte sie jemals so gekreischt oder solche Schmerzen gefühlt.
Moosschwinge kam mit einem Stock zurück, den Ottersee der Königin sofort ins Maul schob. Blattflügels Kiefer presste sich auf das Holz, als die nächste Wehe kam, sie hatte Angst, dass er splittern und zerbrechen würde. Neben sich hörte sie Ottersee und Moosschwinge besorgt flüstern, obwohl sie kaum glauben konnte, dass sie über den sirrenden Ton in ihren Ohren überhaupt irgendetwas anderes Hören konnte.
"Die Wehen kommen schon in viel zu kurzen Abständen. Es sollte viel einfacher anfangen und sich dann erst zu diesem Ausmaß steigern", murmelte die junge Heilerin, die mit von Sorgen getrübtem Blick Blattflügels Flanken abtastete. Die eigentlich sanfte Berührung fühlte sich an, als wollte die zarte, braune Kätzin sie aufspießen und in einem unerwarteten Anflug von Wut und Kraft stieß Blattflügel sie weg. Ihr lag ein garstiges Fauchen auf der Zunge, aber Felsenkralle zog sie schnell wieder zurück in ihr Nest.
"Beruhige dich, Blattflügel. Ottersee ist nicht hier, um dir wehzutun", wisperte er mit seiner warmen, jedoch rauen Stimme.
Er hat Recht. Die Jungen sind es, die mir wehtun, dachte Blattflügel voller Bitterkeit und ließ ihre Zähne in die Rinde des Stockes krachen, so heftig, dass sie fürchtete, sich einen Fang abgebrochen zu haben.
"Denk daran, wenn das alles vorbei ist, dann werden wir Mutter und Vater sein", versuchte der Krieger sie zu ermutigen. Sie wusste, dass er ihr nur so gut beistehen wollte wie er konnte und sich dabei genauso hilflos fühlte, wie sie, aber am liebsten hätte sie ihm jedes Schnurrhaar einzeln ausgerissen. Im Grunde war es ja Felsenkralles Schuld, dass sie sich hier befand. Er war auf die verrückte Idee gekommen, doch noch Vater werden zu wollen, bevor er sich den Ältesten anschloss, dabei waren sie sich am Anfang ihrer Beziehung einig gewesen, keine Jungen haben zu wollen. Blattflügel bezweifelte mit keiner Faser ihres Körpers, dass er ein guter Vater sein würde, doch bei sich selbst war sie sich nicht so sicher. Sie hatte es für ihn tun wollen, sie hatte sich überreden lassen, um ihm seinen Herzenswunsch zu erfüllen, doch jetzt schien ihr all das wie ein riesengroßer Fehler.
Blattflügel kreischte, als die nächste Wehe auf sie einschlug, diesmal spürte sie, wie die Schmerzwelle auf einen Widerstand traf, der daraufhin ein Stückchen nach hinten gepresst wurde.
"Das erste Junge kommt", rief Ottersee hektisch und machte sich offenbar bereit, das Junge in Empfang zu nehmen, aber Blattflügel wünschte sich, es würde sich einfach in Luft auflösen, zusammen mit allen anderen die sich in ihr befanden.
SternenClan, hilf mir, flehte die Kätzin, ihre Gedanken wurden von gleißendem Schmerz geblendet, immer und immer wieder. Blattflügels Körper verkrampfte sich immer mehr, sie bekam kaum noch Luft und hörte Felsenkralle nicht mehr, der ihr motivierende Worte ins Ohr miaute.
Doch dann, für einen kurzen, friedlichen Moment war der Schmerz verschwunden, als das erste Junge endlich ins Moos glitt. Die Königin kostete ihn aus, als könnte sie die weiche, warme Schmerzlosigkeit tatsächlich schmecken, aber es war noch nicht vorbei.
Es fühlte sich jedoch immer mehr so an, als wäre es das. Der helle Ton in Blattflügels Ohren wurde immer lauter und übertönte beinahe die Stimmen der panischen Katzen um sie herum. Ihre Hinterbeine fühlten sich nass und klebrig an, genauso wie das kleine Häuflein Fell, dass ihr unter die Nase gelegt wurde. Blattflügels Sicht war verschwommen, sie sah nur ein paar graue Streifen vor sich. Die Schmerzen waren immer noch da, aber sie schienen sich immer weiter zu entfernen, und obwohl Ottersee schrie, dass das nächste Junge kurz davor war, geboren zu werden, schienen die Wehen abzuebben.
Der Ton in Blattflügels Ohren wurde langsam leiser, doch so geschah es auch mit den Stimmen um sie herum. Ottersee rief Befehle, doch sie wirkte ganz leise, flüsternd sogar. Blattflügels Kopf schwankte, sie fühlte sich, als wäre Distelwolle in ihrem Schädel. Da, wo kurz zuvor noch bittere Gedanken und Schmerz gewesen waren, war nun Nichts mehr. Nichts. Blattflügel dachte an Nichts anderes mehr als daran, sich der süßen, friedlichen Stille hinzugeben. Sie sah an sich herunter, vorbei an ihrem Körper zu Ottersee, die mit rotverschmierten Pfoten ein zweites Junges von der Fruchtblase befreite, aber es war Blattflügel egal.
"Tu doch etwas!", hörte Blattflügel ihren Gefährten brüllen, ganz weit weg, obwohl er direkt neben ihr war. Felsenkralle rüttelte an ihr, versuchte, sie von den weißen, weichen Wolken fernzuhalten, die sie so sehr lockten. Die Königin drehte lahm den Kopf zu ihm und sah sich zum letzten Mal seine Augen an. Sie waren so besonders. Eines blau. Das andere braun. So wunderschön. So einzigartig. Blattflügel versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht.
"Sie verliert zu viel Blut", rief Ottersee verzweifelt, während die beiden Krieger ungehalten auf sie einschrien.
Blattflügel spürte gar keine Schmerzen mehr, nur Kälte. Ihr Kopf sank immer weiter auf ihre Pfoten herab, der Stock entglitt ihr. Nichts war verlockender, als sich der Kälte hinzugeben. Eigentlich mochte Blattflügel Kälte nicht, aber diese war anders. Besonders. So friedlich.
Und obwohl sie so friedlich, so besonders war, so wünschte sich Blattflügel doch, sie hätte eine andere Wahl. Sie wollte zurück zu dem Moment wo sie "Ja" gesagt hatte und es durch ein "Nein" ersetzen, aber es war zu spät. Sie war der Kälte schon so nahe, sie nahm die Kätzin wie eine Strömung mit sich und sog sie ein. Sie konnte die Augen nicht mehr offen halten und empfing den Frieden, der sich wie eine Decke aus Schnee um ihren Körper legte.
Innerer Frieden war etwas wirklich schönes. Leider hielt er nicht lange. Der Nebel, der es Blattflügel verwehrt hatte, klare Gedanken zu fassen, lichtete sich und ließ all die schmerzhaften Erinnerungen zurück in ihrem Kopf strömen. Das weiche Gefühl war verschwunden, Blattflügel konnte ihren Körper wieder fühlen. Die Schrecken der Geburt schwappte über sie hinweg und ließen sie aufspringen. Gleißendes Licht blendete sie im selben Moment in dem sie die Augen einen kleinen Spalt öffnete. Es schien sich direkt in ihren Kopf zu bohren, wie ein Dorn.
"Blattflügel?"
Eine Stimme, so schmerzvoll bekannt, dass es Blattflügels Herz zerbrach, machte ihr klar, wo sie sich befand. Vorsichtig blinzelte sie und erlaubte ihren Augen, sich an die Helligkeit zu gewöhnen.
"Rieselbart?", fragte sie zurück, unsicher, ob die glitzernde Katze, die da vor ihr stand wirklich ihr Vater sein konnte. In seinem Fell waren die braunen Streifen kaum noch zu sehen, so durchscheinend war er, aber sie erkannte ihn trotzdem wieder. Er sah so viel gesünder aus, als beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte.
Rieselbart schnurrte und drückte seine Schnauze gegen ihre Wange.
"Auch wenn die Umstände traurig sind, freue ich mich, dass du da bist", miaute der Kater und deutete ihr mit einem Nicken, ihm zu folgen.
Blattflügel stolperte ihm verunsichert hinterher. Unter ihnen befand sich eine durchscheinende Wiese die mit klitzekleinen Sternen besprenkelt waren, doch alles andere war in einen dichten, glitzernden Nebel getaucht. Der Schock setzte erst ein, als sie auch die anderen Gesichter sah. Verlorene Gesichter. Gesichter von Katzen die tot waren. Blattflügels Herz begann auf einmal wieder zu rasen und ihre Zunge weigerte sich, ihr zu gehorchen.
"Ich...Ich bin gestorben, oder?", stammelte sie und fühlte sich unfähig, weiterzugehen. Rieselbart drehte sich zu ihr um und sonnte sie in einem Blick, wie nur ein Vater ihn seinem Jungen schenken konnte.
"Das bist du."
"Aber...Aber", brabbelte die Kätzin, der Sturm in ihr wütete stärker los als noch vor der Geburt. Angst. Enttäuschung. Wut. Vor allem Wut. "Aber ich will nicht tot sein!"
"Wer will das denn schon?", gab Rieselbart zurück und versuchte, ihr den Schweif um die Schultern zu legen, aber Blattflügel stieß ihn weg. Ihr lag eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber sie konnte sie nicht aussprechen. Nicht, wenn ihr Vater sie so verständnisvoll ansah, so mitfühlend.
"Ich wollte doch wieder eine Kriegerin sein", klagte die Kätzin und sank in sich zusammen. Auf einmal fühlte sie sich wieder ganz klein, als hätte sie überhaupt keinen Einflauss mehr darauf, wie die Dinge passierten, als wäre sie nur ein Zuschauer ihres eigenen Todes gewesen. Sie war hilflos.
Vor ihren Augen schwebten die letzten Augenblicke, die sie von ihren Jungen und ihrem Gefährten hatte erfassen können und alles was sie spürte war feurige Wut. Sie sollte nicht hier sein! Sie sollte beim SumpfClan sein und ihm als Kriegerin dienen! In ihr drohte alles in einem Wirbel aus Feuer und Hass zu verbrennen, als sie Rieselbarts vertrauten Geruch ganz nah bei sich erschnupperte.
"Hass ist nicht das Gefühl, dass man erwartet, wenn man an seine Familie denkt", wisperte er. Er hörte sich traurig an, vielleicht auch enttäuscht.
"Wenn es nicht um sie gegangen wäre, dann wäre ich doch überhaupt nicht hier! Diese Jungen haben alles zerstört! Ich hätte niemals zustimmen sollen, ich hätte darauf bestehen müssen! Ich hätte-!"
"Lass es sein, Blattflügel", unterbrach ihr Vater sie. "Hass bringt dich hier nicht weit. Der SternenClan ist ein Ort des Friedens und je eher du dein Schicksal akzeptierst, desto glücklicher wirst du sein."
"Aber wie kann ich glücklich sein, wenn ich nicht das Leben geführt habe, dass ich führen wollte? Jetzt ist es zu spät, ich habe es für Junge aufgegeben, die ich nicht liebe", entgegnete die Kätzin wütend, doch ihr Vater schüttelte den Kopf.
"Weißt du, es ist viel schwieriger, einen Groll zu hegen, als du denkst. Vorallem wenn du erkennst, dass diese Jungen- deine Jungen- nicht diejenigen sind, auf die du wütend bist. Glaub mir. Wenn du ihnen zusiehst, wie sie groß werden und all die viele Dinge siehst in denen sie dir ähnlich sind, dann wird es schwer, nicht stolz auf sie zu sein."
Blattflügel konnte es sich nicht vorstellen,aber sie hatte keine andere Wahl, als ihrem Vater zu glauben.
"Ich wollte nicht sterben", flüsterte die Tigerkätzin schwach, mehr zu sich selbst, als zu dem SternenClan-Kater.
"Die meisten wollen das nicht und rechnen in dem Moment wo es passiert auch nicht damit. Sterben fühlt sich für jeden anders an. Manchmal ist es schmerzvoll, machmal lindert es die Schmerzen, die der Tod uns zufügt. Aber ich kann dir versprechen, dass du nicht alleine bist und dass wir dir helfen werden, weiterhin Teil deiner Familie zu sein." Rieselbart drückte sich tröstlich an sie, aber Blattflügel wusste nicht, ob sie wirklich Teil der Familie sein konte, die sie hierhergebracht hatte. Und sie wusste nicht, ob sie jemals stolz auf ihr Vermächtnis sein konnte, ohne diese Verbitterung im Herzen zu spüren, aber sie würde es versuchen. Das war noch eine Sache, die sie für Felsenkralle tat. Er hätte es sich so gewünscht, dass sie vom Himmel herabsah und lächelte, wenn sie ihre Familie sah und wahrscheinlich hatte Rieselbart Recht damit, dass sie nicht ewig wütend sein konnte. Schließlich war er eine SternenClan-Katze, er musste es wissen. Sie war nun auch eine SternenClan-Katze und sie würde es bestimmt bald erfahren.
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