Kapitel 3: Iniko
Nicht unweit von uns auf dem Weg stand ein Wesen, das um die vier Meter Größe aufwies und Ähnlichkeiten mit einem Hund besaß. Sein Fell war sehr lang und pechschwarz. Es stand in allen Himmelsrichtungen von seinem Körper ab und schien schon länger nicht mehr gepflegt worden zu sein. An seinem Kopf waren lange spitze Ohren gewachsen, die von Weitem wie zwei große Hörner wirkten. Die Augen leuchteten feuerrot und funkelten mir böse entgegen, als Lucia den Namen des Tieres äußerte. Außerdem öffnete das Wesen sein gigantisches Maul, aus dem riesige spitze Zähne hervortraten sowie eine lange dünne Zunge zum Vorschein kam, die an eine Schlange erinnerte.
Die Krallen, die an den ungewöhnlich großen Pranken des Wesens gewachsen waren, schienen messerscharf zu sein und pfeilspitz. Gewiss wollte ich diesem Tier nicht nah genug kommen, um Opfer eines seiner Angriffe zu werden. Ich, als normalgroßer Engel, besaß ganz bestimmt sehr schlechte Karten in einem Kampf mit diesem gigantischen Tier.
Lucia fiel erneut in lautes Lachen, als sie meine Reaktion bemerkte, die ich gegenüber Inikos Erscheinung hervorbrachte. Diese fiel ziemlich ähnlich zu der vorhin gezeigten Reaktion auf ihr Wesen aus. „Du brauchst auch vor ihm keine Angst zu haben, er sieht bedrohlicher aus, als er tatsächlich ist. In seinem Wurf war er der verschmuste von allen. Ich würde ihn jedoch nicht reizen, er ist ziemlich schnell wütend, wenn man es darauf anlegt. Und dann garantiere ich dir für nichts mehr."
Sollten mich ihre Worte in irgendeiner Weise beruhigen? Falls dem so sein sollte, verfehlten sie ihre gewünschte Wirkung vollkommen. „Was ist das für ein Ding?", fragte ich sie und konnte mein Zittern in der Stimme kaum verbergen. Meine Beine bebten unter mir und machten den zuvor schon unsicheren Stand beinahe unmöglich zu halten. „Das ist ein Höllenhund", bekam ich von Lucia zur Antwort, die sich bereits auf den Weg zu Iniko machte.
Über diese Wesen hatten wir im Unterricht an der Akademie in Bridgeton tatsächlich nichts gelernt. Ich stand hier mit einer Vampirin und einem Wesen, das mir völlig fremd war und schien vollständig auf mich allein gestellt. Ich war zwar gerade dabei, Lucia ein wenig Vertrauen entgegenzubringen, doch konnte ich ihr schon so weit folgen und mich zu diesem monströsen Tier begeben?
„Weiß Iniko auch, dass er mir nichts tun soll?", fragte ich, um sicher zu gehen, dass ich mich wirklich ohne Gefahr ihm nähern konnte. „Solange ich ihm nicht sage, dass er dich angreifen soll, geschieht dir nichts, das verspreche ich meine Liebe", antwortete Lucia mit einer Ehrlichkeit in der Stimme, die mich überzeugte. Angst hatte ich vor diesem riesigen, mir unbekannten Wesen zwar nach wie vor, jedoch sagte mir eine Stimme, dass ich nach dem Transport durch Iniko unverletzt in Lucadian ankommen würde. Also machte ich die paar Meter zögerlich auf das riesige Tier zu und blieb daneben stehen. Lucia schwang sich mit einer gekonnten Bewegung auf den großen Rücken des Wesens, das sich auf den Boden legte, um den Aufstieg zu erleichtern, und bückte sich im Anschluss daran herunter, um mir ihre Hand hinzuhalten. Ich nahm sie und wurde augenblicklich wieder von dieser alles einnehmenden Kälte erfasst, die mich jetzt allerdings nicht mehr so überraschte, wie zuvor.
Durch ihr kraftvolles Ziehen und meinem Absprung vom Boden gelang es mir auf Anhieb, auf dem haarigen Rücken des Höllenhundes zu landen. Meine Hände glitten durch das dichte schwarze Fell des Tieres und ich war sehr erstaunt darüber, wie weich es sich anfühlte. Zuvor hatte es beim Ansehen einen eher drahtigen Anschein gemacht, der mich völlig getrübt hatte. Ich streichelte einige Male über Inikos Seite und spürte, wie die Angst sich ein wenig legte.
„Halt dich gut fest, Iniko wird ziemlich schnell laufen", warnte mich Lucia und ich intensivierte meinen Griff um die Haarbüschel am Rücken des Tieres. „Okay Iniko, bring uns zurück nach Lucadian", sprach Lucia an das Tier gewandt, das daraufhin ein tiefes Schnauben von sich gab und vom Stehen zunächst in einen langsamen Gang wechselte. Nach wenigen Sekunden dann beschleunigte Iniko seine Schritte und rannte durch die trostlose verbrannte Umgebung in Richtung Lucadian.
„Kam es mir gerade nur so vor, oder hat Iniko auf deine Worte reagiert?", fragte ich Lucia verblüfft. Tatsächlich hörte es sich so an, als hätte der Höllenhund das tiefe Schnauben zur Antwort auf Lucias Aufforderung hervorgebracht. „Das hat er tatsächlich. Das ist eine meiner Gaben. Ich kann mit Tieren kommunizieren." Ich dachte an meine Freundin Adley aus Bridgeton, die genau dieselbe Fähigkeit aufwies und mit Tieren sprechen konnte. Ich sah eine neue Möglichkeit, etwas weiteres über Lucia in Erfahrung zu bringen. „Einer deiner Gaben? Was sind die anderen?", fragte ich und versuchte, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Wenn sie mir schon nicht bewusst etwas über sich erzählen wollte, konnte ich vielleicht nebenher durch geschickte Fragestellungen mehr Information über sie ernten.
Lucia schenkte mir jedoch einen wissenden Blick. Ihre Augen blitzen gefährlich auf. „Wie ich schon sagte, braucht dich mehr momentan nicht zu interessieren. Du wirst die anderen Gaben, die ich beherrsche, noch früh genug kennen lernen." Erneut wich Lucia gekonnt meiner Frage nach Wissen aus und machte mir klar, dass sie nicht über sich reden wollte.
Ich beschloss, das Thema auf irgendetwas anderes zu lenken, das nicht direkt ihre Person betraf. Lucias Ausweichen hatte mir mehr als deutlich gemacht, dass ich bei jedem neuen Versuch, Informationen zu erhalten, kläglich scheitern würde.
Inikos lautes Schnauben drang an meine Ohren. In einem gleichmäßigen Rhythmus sog er scharf die Luft ein und aus und signalisierte so die Anstrengung, die er aufgrund der an den Tag gelegten Schnelligkeit verspürte. „Ist der Name Iniko für so einen großen und gefährlichen Höllenhund nicht etwas unpassend? Ich finde, der Name klingt eher süß und weniger angsteinflößend. Ich würde ihn viel mehr mit einem kleinen Hund oder einem Pony in Verbindung bringen." Davon, das Thema auf Iniko zu lenken, erhoffte ich mir, die Stimmung von Lucia etwas in die Höhe zu treiben. Ich hatte in der Kürze der Zeit, in der mir Lucia bekannt war, bereits bemerkt, wie viel ihr Iniko zu bedeuten schien. Sicherlich sprach sie lieber über ihn als über sich.
Lucia schüttelte heftig den Kopf und lachte. „Du hättest den Wurf von kleinen Höllenhunden sehen müssen. Iniko war so klein und hilflos, er konnte von selbst gar nicht laufen. Er war so unbeholfen mit diesen riesigen Pranken, dass es mich jedes mal amüsiert hat, ihm beim Tollen zuzusehen. Und sowieso ist er auch nach wie vor sehr verschmust und liebebedürftig. Unsere Bindung ist seit dem ersten Tag, an dem ich ihn bei mir aufnahm, unfassbar stark. Ich würde alles für ihn tun und er auch für mich. Wir verstehen uns blind, das ist viel mehr, als ich für möglich gehalten hätte. Ich bin so dankbar dafür, dass es ihn gibt."
Die Worte von Lucia glichen einer Liebeserklärung. Es war offensichtlich, dass Iniko ihr alles im Leben bedeutete. Während sie von ihm sprach, strahlten ihre weißen Augen in einem Licht, das ich zuvor nicht in ihnen hatte sehen können. Und ihre Mundwinkel schoben sich automatisch nach oben, was mich ebenfalls grinsen ließ. Es tat gut, zuzusehen, wie Lucia von Iniko schwärmte. Zwar waren ihre Worte für mich nur schwer nachvollziehbar, da ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie Lucia mit diesem riesigen Tier tagtäglich schmuste, jedoch war es eine Wohltat, zu sehen, wie wichtig Iniko ihr war.
„Wenn er dir so viel bedeutet, dann passt der Name Iniko bestens. Für mich macht der Name den Anschein, als würde man ihn nur an jemanden vergeben, den man sehr liebt." Lucia hielt kurz inne, ehe sie darauf antwortete. „Er ist das Wichtigste in meinem Leben, mein Elixier zum Existieren. Wenn er eines Tages nicht mehr sein wird, werde ich es auch nicht." Lucias Stimme wurde düster und man konnte heraushören, dass sie gar nicht daran denken wollte, Iniko eines Tages verlieren zu können. „Wie alt werden Höllenhunde eigentlich?", wollte ich wissen, da ich von diesem Wesen überhaupt kein Hintergrundwissen besaß. „Das ist ganz unterschiedlich, je nachdem, was sie selbst für ein Leben führen. Bei mir wird Iniko gepflegt und geliebt, er wird nicht wie seine Geschwister für Kämpfe gehalten und trainiert. Da ich sehr auf ihn achte, wird er mich zum Glück noch ein ganzes Stück durch mein Leben begleiten. Unsterblich ist er jedoch bedauerlicherweise nicht. Ich wünschte, ich könnte ihm meine Unsterblichkeit weitergeben und ihn unverwundbar machen. Er ist so ein tolles Wesen, er würde das ewige Leben verdienen."
Ich war sehr verblüfft, dass Lucia die ihr gegebene Möglichkeit, ewig zu leben, an ein Tier weitergeben würde. Sie würde sich selbst opfern, nur damit Iniko weiterlebte. Das war für mich die Definition von Liebe und signalisierte erneut, wie viel Iniko ihr bedeutete. „Du kannst dich sehr glücklich schätzen, so jemanden in deinem Leben zu haben." Lucia räusperte sich. „Glaub mir, das bin ich. Aber jetzt ist Schluss mit dieser Gefühlsduselei. Ich bin nämlich eigentlich überhaupt nicht so. Gefühle haben bei mir nichts zu suchen. Du hast lediglich einen wunden Punkt bei mir getroffen, das ist alles", erklärte Lucia und bemühte sich um eine feste Stimme. Ich glaubte, dass sie es vielmehr nicht haben konnte, dass ich so schnell ihren wichtigsten Punkt im Leben gefunden und sie darauf angesprochen hatte. „Das war nicht meine Absicht, tut mir leid", entschuldigte ich mich bei ihr und schloss damit das Thema um Iniko ab.
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