Kapitel 7: Stolpersteine
Unser Gespräch wurde von dem Öffnen der Boutique-Türen unterbrochen. Ich atmete einmal tief durch und stand aufgeregt von der Fensterbank auf. Aiden tat es mir gleich. Nun also war der Moment gekommen, von dem ich schon seit Wochen träumte. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das am Weihnachtsabend nach langem Warten endlich die Geschenke auspacken durfte. Als ich jedoch einen Fuß vor den anderen setzen wollte, um mich zum Eingang der Boutique zu begeben, hielt Aiden mich an der Hand zurück.
Abrupt hielt ich in meiner Bewegung inne. Ich konnte nicht sagen, was mich in diesem Augenblick mehr erschreckte. Die Tatsache, dass Aiden meine Hand hielt oder aber, dass er mich so urplötzlich vom Gehen abhielt. Etwas irritiert blickte ich ihn an. Aiden sah sich kurz um und kam dann etwas näher zu mir. Er tat ziemlich geheimnisvoll. „Hör mir zu, ich habe mir etwas einfallen lassen. Ich gehe nämlich stark davon aus, dass wir am Eingang nach unseren Personenkarten gefragt werden", erklärte er mir in einem flüsternden Ton.
Personenkarten? Panik kam in mir auf und zog mich für einen kurzen Moment in einen tiefen schwarzen Abgrund. Ich führte meine Karte zwar bei mir, das mussten alle Einwohner permanent tun, aber bei ihrer Vorlage würde klar werden, woher ich kam. Für mich war es nun mit einem Mal ganz sicher, dass sich die Bewahrheitung meines Traumes in Luft aufgelöst hatte.
Traurig blickte ich ihn an. „Aber Aiden, dann werden die Mitarbeiter wissen, dass ich aus der Unterschicht bin. Die werden mich sicherlich nicht rein lassen." Tiefe Enttäuschung hatte Besitz von mir ergriffen.
Aiden verstärkte den Druck seiner Hand. „Das mag sein, aber du wirst die Karte nicht vorzeigen, wenn sie es von dir verlangen", verkündete er mit siegesreichem Ton. Verwirrt blickte ich ihn an. Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen. „Und wieso nicht? Das ist mit Sicherheit Pflicht, um in den Laden zu kommen." Er zuckte mit den Schultern. „Für diesen Fall habe ich mir etwas einfallen lassen. Ich habe eine Erklärung parat, die dazu führen wird, dass wir beide in die Boutique gelangen." Zuversicht lag in seiner Stimme.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich hätte es wissen müssen, dass wir die Personenkarten beim Zutritt der Boutique vorzeigen mussten, schließlich waren diese bei jeder Gelegenheit und Aufforderung vorzulegen, um die Herkunft zu bestimmen.
Ich war nach wie vor enttäuscht und konnte seinen Worten nur schwer Glauben schenken. Das Funkeln in seinen grünen Augen signalisierte mir jedoch, dass ich ihm vertrauen sollte, und genau das wollte ich auch tun. Eine leise Stimme in mir bestärkte mich in diesen Gedanken. Ich nickte ihm zu, um ihm zu signalisieren, dass ich auf seiner Seite war und ihn würde reden lassen. Zur Antwort schenkte er mir ein Lächeln.
Aiden ließ meine Hand los und wir liefen die wenigen Meter zur Boutique. Etwas betrübt trauerte ich dem Gefühl seiner warmen Hand auf meiner Haut nach. Die Stellen seiner Berührung kribbelten auch jetzt noch und hinterließen ein unglaublich wohliges Gefühl.
An der gläsernen Eingangstür wurden wir wie erwartet von einer Dame empfangen. Sie trug einen blauen Blazer, eine weiße Bluse und eine schwarze Lederleggins. Ihre rötlichen Locken standen in alle möglichen Richtungen und passten farblich perfekt zu den bemalten Lippen.
Freundlich lächelte sie uns an. „Guten Morgen ihr beide. Wollt Ihr gern eine morgendliche Shoppingtour bestreiten?", fragte sie uns ziemlich motiviert für diese Uhrzeit. Aiden erwiderte ihr Lächeln. „Genau das ist unser heutiges Vorhaben." Die Dame nickte uns verständnisvoll an. „Eine wirklich ausgezeichnete Idee von euch. Um eure Tour zu starten, benötige ich lediglich noch eure Personenkarten", erklärte sie und hielt uns ihre linke Handfläche entgegen, die in einem passenden rotfarbenen Samthandschuh gekleidet war.
Ich versuchte, mir die Aufregung nicht anmerken zu lassen und konzentrierte mich auf meine Atmung. Mit Aiden war abgesprochen, dass er das Reden für mich übernehmen würde. Deshalb oblag mir zu diesem Zeitpunkt nur die Aufgabe, meine Nerven im Zaum zu halten und dadurch nicht aufzufliegen. „Natürlich, kein Problem. Einen Moment bitte", fing Aiden an, in seiner rechten Hosentasche zu kramen.
Nach nur wenigen Augenblicken holte er seine Personenkarte hervor und legte sie in die Hand der Verkäuferin, die die Karte skeptisch musterte und Aiden danach verständnislos anblickte. Unmissverständlich räusperte sie sich. „Ich weiß nicht, ob ich mich etwas ungenau ausgedrückt habe, aber ich benötige beide Personenkarten." Ihr böse funkelndes Augenpaar schielte in meine Richtung.
Mein Herz rutschte mir in die Hose. Ich war mir nicht sicher, ob der Versuch, meine Identität zu verbergen oder sie gar zu täuschen, eine Straftat darstellte. Mit an Wahrheit grenzender Wahrscheinlichkeit war es nicht erlaubt, so zu tun, als würde ich aus der Oberschicht stammen. Falls Aiden wirklich für mich log, welche Konsequenzen würden ihn erwarten? Was nahm er auf sich, nur um mir meinen Wunsch zu erfüllen?
Mein ungutes Gefühl wuchs mit jeder verstrichenen Sekunde weiter an und ich war mir nicht mehr sicher, ob wir hier das Richtige taten. Ich konnte noch nicht mal mehr mit Sicherheit sagen, ob das alles hier wirklich meinem Willen entsprach. Zweifel überkamen mich und ich fühlte mich schlecht. Mittlerweile konnte ich der Frau vor uns gar nicht mehr in die Augen sehen.
„Da gibt es ein kleines Problem", kam es sehr zögerlich von Aiden. Die Frau blickte ihn genervt an. Ich war verwundert, wie schnell sich der Gemütszustand dieser Dame verändern konnte. Noch vor zwei Minuten war sie fröhlich und hatte uns sehr euphorisch begrüßt und jetzt war jegliche anfängliche Nettigkeit verschwunden. „Und was für ein Problem junger Mann?", kam es gelangweilt von der Dame. Ihre Augen hatten sich zu engen Schlitzen verwandelt. Sicherlich dachte sie sich schon, dass hier etwas faul war. „Ich habe wohl die Karte meiner Schwester Zuhause auf dem Küchentisch liegen lassen."
‚Bitte was?', dachte ich. Ich versuchte, nicht zu überrascht zu wirken, da auch diese Reaktion dazu hätte beitragen können, der aufgetischten Geschichte ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen. Allerdings wäre ich von selbst auch nie auf die Idee gekommen, Aiden meinen Bruder zu nennen. Dieser wandte sich mir zu. „Es tut mir so leid Octavia. Du hattest sie mir extra auf den Tisch gelegt, damit ich sie einstecke und ich habe sie liegen lassen", spielte er seine Rolle äußerst glaubwürdig.
Danach drehte er sich wieder zu der Verkäuferin um. „Das ist mir alles so unangenehm. Wissen Sie, wir sind hier, um unserer Mutter ein Geschenk zu besorgen. Wir haben extra Ihren Laden auserwählt, weil Sie so wunderschöne Sachen haben. Leider brauchen wir das Geschenk schon heute Mittag, sodass wir aus diesem Grund nicht wiederkommen könnten, um es später auszusuchen. Könnten Sie für uns vielleicht eine kleine Ausnahme machen, und uns reinlassen? Es wird auch nie wieder vorkommen", bat Aiden die Verkäuferin und sah sie aus seinen tiefgrünen Augen heraus an.
Innerlich schmunzelte ich. Er hatte sich tatsächlich eine plausible Erklärung ausgedacht. Ich war beeindruckt.
Als die Verkäuferin dann auch noch ihre genervte Miene wegwarf und ein kleines Lächeln auflegte, wusste ich, dass wir gewonnen hatten. „Na gut, dann mache ich heute mal eine Ausnahme. Ihr habt Glück, dass ich heute so gut gelaunt bin. Folgt mir bitte." Sie kehrte uns den Rücken und bedeutete uns, ihr ins Ladeninnere zu folgen.
Ich lächelte Aiden dankbar an. Es war wohl niemand standhaft genug, um sich seinem Charme zu entziehen.
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