Kapitel 11: Wendung
Ich glaubte seiner Aussage nicht. Aiden machte einen so netten und vertrauenswürdigen Eindruck. Wahrscheinlich sagte er solche Dinge nur, um einen Grund für das Gehen seiner Mutter zu finden. Ich war mir mehr als sicher, dass nicht Aidens Verhalten schuld an allem war.
Sollte er jedoch Recht mit seiner Aussage haben, musste etwas Gravierendes in seiner Vergangenheit vorgefallen sein. Dann war das, was er mir bislang erzählt hatte, bei Weitem nicht alles, denn ich konnte keinen für mich nachvollziehbaren Grund erkennen, wieso seine Mutter ihn verlassen haben könnte.
Da sich erneut Stille zwischen uns ausbreitete, versuchte ich, schnell etwas zu finden, über das wir sprechen konnten. Ich hasste es, wenn sich zwei Menschen einfach anschwiegen. Solche Situationen konnten schnell peinlich werden und den kompletten Moment ruinieren. Außerdem wollte ich unbedingt diese schlechte Stimmung, die um uns hing, loswerden.
Mit einem Mal fiel mir die merkwürdige Begegnung von heute Morgen wieder ein. Ich beschloss, Aiden davon zu erzählen, um ihn mit meiner blühenden Fantasie zum Lachen zu bewegen. „Ich bin heute Morgen auf dem Weg in die Stadt einer merkwürdigen Gestalt begegnet", fing ich deshalb an.
Mit dieser Aussage zog ich Aidens Aufmerksamkeit wieder auf mich, denn prompt war sein Blick auf mich gerichtet. „Was denn für eine Gestalt?", hakte er nach. Ich zuckte mit den Schultern. „Da war ein kleines Wesen im Wald. Du musst wissen, dass ich eine blühende Fantasie besitze, die mir manchmal Streiche spielt. Dieses Mal hat sie aber wirklich alles gegeben, denn die Begegnung fühlte sich verdammt echt an."
Anstatt eines Lächelns schenkte Aiden mir einen besorgten Gesichtsausdruck. Mein Vorhaben, ihn zum Lachen zu bringen, war also fehlgeschlagen. Stattdessen dachte er bestimmt, ich wäre vollkommen verrückt. „Wie sah die Gestalt denn aus?", wollte er wissen.
Ich konnte nicht deuten, was er fühlte. Seine Stimme war kalt und monoton. Ich runzelte die Stirn. Ich war mir nicht sicher, ob es gut war ihm weiter von dieser Begegnung zu berichten, nachdem seine Reaktion so seltsam ausgefallen war. „Sie war klein und etwas dicklich. Die Haut war dunkler als unsere, vielleicht ein wenig bläulich. Und es hatte buschige schwarze Haare, die wirr nach oben standen", versuchte ich mich zu erinnern.
Plötzlich und für mich unvorhersehbar stand Aiden von dem Boden auf. Erschrocken blickte er auf mich herab. Einige Augenblicke schwieg er und sein Atem ging in schnellen tiefen Zügen. „Wie ist Dein Hausname?", fragte Aiden mich hektisch.
Ich war etwas erschrocken über diese heftige Reaktion. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Dieses Wesen war bloß ein Spiel meiner Fantasie, das hatte ich ihm doch bereits gesagt. Und wieso wollte er nun auf einmal meinen kompletten Namen wissen? Was hatte das mit dem Wesen zu tun? „Mein Name ist Zoey Sophie Coleman. Bevor meine Eltern starben, und ich noch nicht den Namen meiner Tante angenommen hatte, hieß ich Zoey Sophie Raine", antwortete ich Aiden etwas unsicher.
Dieser wich bei meiner Antwort noch ein paar Schritte von mir weg. Mittlerweile lagen um die vier Meter zwischen uns. Der Schreck stand nach wie vor in seinen Augen und er hatte die Stirn in Falten gelegt, was ihn sehr nachdenklich aussehen ließ.
Nach einigen Augenblicken der Stille begann er jedoch zu nicken und seine Augen wurden etwas klarer. „Aber natürlich. Und ich wundere mich schon, wieso ich so ein seltsames Gefühl bei dir empfinde. Ich hätte es gleich wissen müssen, als ich es das erste Mal gespürt habe", murmelte er vor sich hin. Dabei musste ich mich sehr bemühen, ihn akustisch zu verstehen. Verständnislos starrte ich ihn an. Ich konnte keine Bedeutung hinter seinen wirren Worten erkennen. „Was denn für ein Gefühl? Was hat das alles zu bedeuten Aiden?"
Seine Augen trafen meine. Ich war nicht fähig, den Ausdruck in ihnen zu lesen. Das Einzige, was ich in den weit aufgerissenen Augen sah, war Unglaube. „Du wirst sehr wahrscheinlich schon bald erfahren, wie es ist, ein Leben als Student an der Akademie zu führen", erklärte er mir.
Irritiert stand ich vom Boden auf und versuchte, den klebrigen Sand von meinen nassen Klamotten zu streifen. „Aber Aiden, das kann ich mir niemals leisten", warf ich ein. Wieso war er sich bei seiner Meinung so sicher? Ich hatte ihm doch bereits von unserer finanziellen Situation berichtet. Außerdem kam ich nicht aus der Oberschicht. Damit war es mir untersagt, an der Akademie ausgebildet zu werden.
Aiden schüttelte den Kopf und kam zwei Schritte auf mich zu. Wärme lag nun endlich wieder in seinen Augen, die mich sofort in ihren Bann zog. „Du bist zu viel größerem bestimmt, als du bislang dachtest. Ich weiß nicht, was dir erzählt wurde, jedoch glaube ich, dass vor dir viel zu viel verheimlicht wird", fing er an zu erklären und hielt einen Moment lang inne. Auch jetzt konnte ich der Bedeutung seiner Worte nicht folgen. Wirr hingen sie in meinem Kopf fest und fanden keinen passenden Zusammenhang. Dann fuhr er fort. „Ich weiß, wie verrückt das für dich klingen muss, allerdings bin ich mir nach diesem Gespräch nun mehr als sicher, dass du ein Engel bist."
Ohne, dass ich es irgendwie hätte steuern können, prustete ich los. Ich fiel in schallerndes Gelächter und Tränen liefen mir unkontrollierbar aus den Augen. Was hatte er da gerade gesagt? Wie zum Teufel kam er auf diese Idee? Bis vorhin stand ich noch in dem Glauben, dass meine Fantasie grenzenlos wäre. Nun aber war ich mir nicht sicher, wer von uns beiden die größere Vorstellungkraft besaß.
Als ich wieder in der Lage war, mein Lachen zu zügeln, schüttelte ich den Kopf und blickte Aiden an. Dieser hatte mich während meines Anfalles gewähren lassen und nichts gesagt. Lediglich sein verständnisloser Blick traf mich. „Wie kommst du darauf, dass ich ein Engel wäre? Die existieren doch gar nicht." Aidens ernste Miene blieb standhaft. Er kam nochmal zwei Schritte auf mich zu, was eine beruhigende Wirkung auf meinen Körper zeigte. „Es muss so sein, anders kann ich es mir nicht erklären, wieso du in der Lage bist, einen Troll zu sehen."
Wieder lachte ich laut los. Trolle? Engel? Was kam als nächstes? Etwa Vampire oder Werwölfe?
Ich räusperte mich und war um eine ernste Miene bemüht. „Wie kommst du überhaupt darauf, dass es solche Wesen gibt Aiden? Oder gehst du gerade auf meine Fantasiethese ein und willst mir beweisen, dass auch du eine grenzenlose Fantasie besitzt?" Die Vorstellung, dass Aiden glaubte, diese Wesen würden wirklich existieren, bereitete mir Sorge. Als Kind hatte ich das gleiche gedacht, jedoch habe ich im Erwachsenwerden schnell erkannt, dass die Erzählungen meines Großvaters nur Geschichten gewesen sind, um mich aufzuheitern oder mich zu gruseln.
Aiden blickte sich um. Sein Kopf schweifte nach links, dann nach rechts. Ich folgte seinem Blick, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches erkennen. Was war los? Dachte er, der Troll sei mir gefolgt? Fühlte er sich von ihm beobachtet?
Und plötzlich hörte ich ein Geräusch. Wie aus dem Nichts erfüllte ein lautes Flügelschlagen die frühlingshafte Geräuschkulisse, so als sei ein immens großer Vogel gerade mit weit ausgeholten Flügeln losgeflogen.
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