Kapitel 43
Zuerst sah ich nichts. Fast erwartete ich, dass Krähenschwinge neben mir stand. Die Dunkelheit war bei unserem ersten Treffen die selbe gewesen, auch jetzt umnebelte mich eine schwarze Decke, die mir die Sicht nahm. Damals hatte ich das erste Mal seinen angenehmen Duft nach Kiefernharz gerochen.
Nun lag ein anderer Geruch in der Luft, der von frischem Quellwasser und blühenden Wiesen. Ich war definitiv nicht mehr im Zweibeinerort oder in der Blattleere. Dies hier war das Gebiet des HimmelClans, meiner hoch geehrten Ahnen.
Ich hatte den Stein gefunden!
Die Realisation sackte erst langsam über mich herein. Es würde sich alles ändern - ich wurde von der Suchenden zu einer Beschützerin. Meine Aufgabe war es von nun an, den kleinen Stein nicht aus den Augen zu lassen. Es gab genug Katzen, die mich dazu bringen wollten, ihn zu "verlieren", was auch immer das heißen sollte.
Ich wollte mir eigentlich nicht ausmalen, welche Katzen das waren, aber Krähenschwinge war mit Sicherheit einer von ihnen. Es tat mir im Herzen weh, es bohrte sich hinein wie eine Kralle. Würde Krähenschwinge es genießen, wenn er wüsste, dass er mir weh tat? Ein Teil von mir hoffte, dass ich ihm nicht gleichgültig war. Er war so ein herzlicher und lustiger Kater gewesen, bis er Malvenhimmel getötet hatte. Eigentlich hatte er seinen Standpunkt sehr klar gemacht: Er war der Böse und es war ihm egal. Er scherte sich nicht darum, wem er schadete, Hauptsache er erreichte sein eigenes Ziel. Was war sein Ziel? Was bewegte ihn dazu, das zu tun, was er tat? Er wollte mich aufhalten, so viel war klar, aber wieso? Welchen Nutzen zog er daraus?
Die Dunkelheit verschwand, weiches Gras schmiegte sich um meine Pfoten. Gelbes Sonnenlicht spiegelte sich in meinen Augen, Bienen summten. Aber meine Laune hatte sich verfinstert und auch die schöne Natur konnte das nicht ändern.
Ich hatte den Stein, die Clans waren gerettet. Ich sollte mich freuen und dem HimmelClan auf ewig danken, jedoch fühlte ich mich wie verflucht. Mein Herz war schwer vor Kummer über den Verlust der netten Seite von Krähenschwinge - denn zurückgeblieben war die dunkle, böse Seite, die sich nicht für mich interessierte.
Eine kleine dunkelgraue Kätzin wartete an einer Quelle auf mich und schaute mich mit Augen an, die in der selben Farbe leuchteten wie das Wasser neben ihr. Mit einer stolzen Körperhaltung stand sie da und kringelte ihren Schweif sanft. Als sie mich registrierte, drehte sie die Ohren zur Seite und wanderte mit eleganten Bewegungen auf mich zu.
Ich war überrascht. Die letzte Katze des HimmelClans, die ich getroffen hatte, hatte einen schweren und stolpernden Gang gehabt und war unachtsam durch das Gebüsch getrampelt.
Wie mir das Gras unter den Pfoten gefehlt hatte! Es war zwar erst ein Tag, aber die Zeit im Zweibeinerort hatte meinen Ballen nicht gut getan. Ich spürte ganz genau, dass sie wund waren. Wie kam Elliot nur damit klar?
„Sei gegrüßt, ich habe auf dich gewartet", miaute die Kätzin mit dem angenehmen Gang. Sie klang weise, obwohl ich nicht beschreiben konnte, wie genau das klang. Sanft, geschwungen und trotzdem fest - so in etwa vielleicht. Es musste eine HimmelClan-Stimme sein, denn ich war mir sicher, dass keine Katze im normalen Leben so sprach.
„Du hast unser Zeichen bekommen?", fragte sie vorsichtig. Zeichen? Welches Zeichen? Ich wusste nur von einem Stein! Mein verwirrter Blick ließ sie den Kopf schief legen. „Ich rede vom Stein, Federkopf", lachte sie leise. Ich schnaubte. Wenn sie sich so unklar ausdrückte, musste sie sich nicht wundern, wenn ich es nicht verstand. Sie neigte ihren Kopf.
„Du bist für etwas Wichtiges hier her gerufen worden, Taubenfeder."
Ich musste schmunzeln, als ich daran dachte, dass Maulbeerklang eben dies nur kurze Zeit zuvor gesagt hatte. Es war schlussendlich tatsächlich wichtig gewesen, obwohl ich nicht damit gerechnet hatte.
Die HimmelClan-Kätzin mit den Sternen im Fell schritt voran, an der Quelle entlang und zu einem Felsen. War es nicht letztes Mal eine Felsformation gewesen, die die Prophezeiung überbracht hatte? Ein verrückter Gedanke, doch kam er mir in den Kopf.
„Was ist das Problem? Ihr habt nicht etwa einen zweiten Krähenschwinge gefunden, der mich nerven darf?", murrte ich, woraufhin sie ihren Kopf irritiert zu mir drehte, obwohl sie dabei noch weiterlief.
„Wer ist Krähenschwinge?"
"Oh, wenn du wüsstest." Ein wehmütiger Blick hing auf meinem Gesicht, er schien der anderen Katze aufzufallen.
„Mäusehirniges Thema? Tut mir leid."
Schuldbewusst senkte sie den Kopf, sie tat mir direkt leid, auch wenn ich es hasste, an den Geisterkater erinnert zu werden.
„Wenn es kein zweiter Krähenschwinge ist, können es ja nur gute Nachrichten sein", scherzte ich und machte gleich große Augen. Ich klang ja fast wie Bussardbrise! Lernte ich endlich, wie man Katzen tröstete? Vielleicht lag es an Maulbeerklangs gutem Einfluss.
„Da wäre ich mir nicht so sicher", flüsterte die elegante Kätzin mit traurigen, türkisfarbenen Augen.
„Weißt du, der erste böse Kater, Jagdkralle, hat vor langer Zeit den Gründer aller Clans, Paris, herausgefordert. Sie beschlossen, wenn du die Prophezeiung nicht erfüllen kannst und der Stein versagt, dann bekommt der DüsterClan - die dunkle Seite der Verstorbenen - von einem Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang die Macht, sich sichtbar und spürbar zwischen den Lebenden zu bewegen. Paris ist sich sicher, dass du es schaffst und spottet über Jagdkralle, aber wir haben alle keine Ahnung."
Bitte was? Wer war so unglaublich mäusehirnig und legte das Schicksal aller Clans in meine Pfoten?
Die Prophezeiung besagte mehr oder weniger eben dass, was sie mir eröffnet hatte. Der DüsterClan, also Krähenschwinge und alle anderen bösen Seelen, würden die Clans vernichten, wenn der Stein sie nicht irgendwie aufhielt. Ich atmete erschrocken ein.
„Es könnte so viel Unheil geschehen, Taubenfeder. Bitte versprich mir, dass du das nicht zulässt", flehte die graue Kätzin. Die seefarbenen Augen leuchteten im Licht der Sonne und reflektierten die Sterne, die durch ihr Fell wanderten.
Obwohl es nicht in die Situation passte, landete eine Meise wenige Katzensprünge von uns entfernt im Gras und zwitscherte laut. Die schrille Stimme und die gefährliche Stille der Natur jagten mir Schauer über den Rücken. Die Bäume raschelten nicht und die Felsen taten sich hoch über uns hinauf.
Ich hatte vielleicht den Stein gefunden, aber meine Last war nicht von mir genommen. Es musste etwas passieren, von dem ich nicht einmal wusste, was es war. Ich durfte einen Stein nicht verlieren, aber wie würde er die Clans vor dem DüsterClan retten?
Das Lied der Meise klang seltsam verzehrt.
„Ich werde mein Bestes geben", versprach ich der schlanken Kätzin. Unsicher presste sie ihre Stirn gegen meine und ich bekam das Gefühl, mein Körper füllte sich wieder mit neuer Energie und Stärke.
„Wer bist du eigentlich?", fragte ich neugierig nach. Ich kannte sie nicht, entweder hatte sie in einem anderen Clan gelebt oder sie war vor meiner Geburt gestorben.
„Fischfell, die Schwester von Salbeihimmel", antwortete sie freundlich. Was? Das konnte nicht sein! Damit war sie eine der ersten Katzen des HimmelClans überhaupt gewesen.
Nachdem Paris eine Streunervereinigung gegründet hatte, starb er ohne Vorwarnung. Seine drei besten Freunde zerstritten sich über seine Nachfolge und zerrissen die Gruppe in drei Clans. Salbeihimmel war der erste Anführer des SalbeiClans. Ich empfand tiefste Achtung vor der Kätzin vor mir.
„Bitte, sag niemandem, dass ich mit dir geredet habe. Allein, dass der DüsterClan existiert, darf keine lebende Katze wissen, nicht einmal jede tote Katze weiß davon", miaute Fischfell mit eingezogenem Kopf. Dann jammerte sie leise: „Ich werde solchen Ärger bekommen."
Mit diesen Worten begann die Welt um mich herum zu verschwimmen und die HimmelClan-Kätzin verschwand. Diese Prozedur kannte ich bereits, ich wachte auf. Mir wurde übel, als ich mich nicht mehr orientieren konnte. Schließlich lag ich wieder neben Maulbeerklang.
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