Kapitel 30
Aufgeregt folgte ich seiner zuckenden Schwanzspitze durch die Dunkelheit des unterirdischen Tunnels.
Es mag sich wohl komisch anhören, aber hier unten gefiel es mir. Außer ich dachte daran, wie viele Schichten Erde und Steine über mir liegen mussten, dann beschlich mich ein erdrückendes Gefühl, das mir fast den Atem raubte. In der erdigen Wand glitzerten kleine Kiesel und der Weg schlang sich um viele Kurven, ohne dass man sich verirrte, denn es gab bisher keine Abzweigungen. Zurückzufinden würde kein Problem werden, solange wir noch diesem Pfad folgten. Aber das würde wohl nicht mehr lange so gehen, denn ab einer bestimmten Stelle mussten wir irgendwie abbiegen. Wie wir rausbekommen sollten, welcher Tunnel der richtige war, war mir noch ein Rätsel.
Das ständige Auftreten auf spitze Steinchen am Boden und das leise Geräusch, wenn ich auftrat, nervten mit der Zeit. Krähenschwinge hatte damit kein Problem, der konnte seine Pfoten auf die Erde schmettern, wie er wollte, ein Ton war trotzdem nicht zu hören. Er war ja schließlich ein Geist, auch in diesem "Labyrinth der lebenden Toten". Meine Gedanken streiften umher, damit mir nicht ganz so langweilig war.
Wo sollten Krähenschwinge und der damalige SalbeiClan ihr Lager gehabt haben? Für mich gab es keinen Ort im Wald, der gut genug dafür aussah. Aber wenn ich mich dort aufhielt, schaute ich auch selten in die Baumkronen. Was hatten die Katzen gemacht, wenn Blattleere herrschte? Es musste doch eiskalt dort oben gewesen sein! Und wenn ein Sturm wütete, blieben sie dann wirklich in ihren Baumnestern? Sie waren dort doch unglaublich durchgeschüttelt worden - jetzt war mir schlecht.
Passend zu meiner Übelkeit erreichten wir eine große Höhle, in der viele verschiedene Wege in jede Richtung abzweigten und in der ein schwaches Dämmerlicht unsere Augen erhellte. Sollte unser Unglück noch größer werden? Das waren mindestens ein Dutzend Pfade, zwischen denen wir wählen mussten! Ich hatte mir gewünscht, die Auswahl wäre ein wenig kleiner gewesen.
„Was machen wir denn jetzt-", setzte ich an zu fragen, bevor Krähenschwinge mich unterbrach.
„Überlass das mir, Kleine."
Mit diesen Worten stellte er sich in die Mitte der vielen Gänge und fing an zu glühen. Wie konnte das nur passieren? Was genau machte er da überhaupt? Vorsichtig schlich ich näher an ihn ran und stellte mich direkt neben ihn. Wie lange würde das jetzt dauern? War alles gut bei ihm?
„Der Tunnel dort."
Erschrocken fuhr ich zusammen, als Krähenschwinge plötzlich mit dem Glühen aufhörte und mit einem Nicken auf den scheinbar richtigen Weg deutete.
„Hey! Kannst du mich nächstes Mal bitte nicht so erschrecken?", fauchte ich ihn an. „Ich überleg's mir. Es macht nur so viel Spaß, wenn du zusammenzuckst", antwortete der unverschämte Kater ganz gelassen und lief vor. Das war nicht fair!
„Sicher, dass das der richtige Pfad ist?", miaute ich in die Dunkelheit hinein. Keine Antwort. Na gut, es war schließlich seine Schuld, wenn wir uns hier verirrten.
„Hattest du eigentlich Geschwister?", fragte ich irgendwann den großen, wuscheligen Klotz vor mir. Auch diesmal blieb es still. War ihm nicht auch langweilig? Was hatte ich gemacht, dass er mir nicht antworten wollte?
„Ich hatte eine Schwester. Ihr Name war Stacheltatze und sie war wirklich ein Herz."
Huch, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.
„Jemand wie du hat tatsächlich eine herzliche, normale Schwester? Kaum zu glauben!", scherzte ich und Krähenschwinge sprang darauf an. „Sie hat mich auch nicht umgebracht! Aber nervig genug dafür fand sie mich wohl häufig."
Das war irgendwie zu erwarten gewesen. Aber Krähenschwinge und eine Schwester? Kaum vorstellbar für mich. Ich würde sie gerne kennenlernen, aber mir war bewusst, dass das nicht so einfach ging. Tote Katzen waren ja dummerweise tot, auch wenn mir das bei meinem lieben Grummelgeist neben mir manchmal gar nicht so vorkam.
„Und hast du Geschwister, Taubenfeder?"
„Ja, einen lieben Bruder, sein Name ist Vogelsturm."
Schon das schelmische Blinzeln in Krähenschwinges Augen, als er zu mir nach hinten sah, sagte mir, was er als Nächstes antworten würde.
„Ein Bruder, soso. Und bekommt der dann auch so viele Sprüche zu hören wie ich?"
„Nein, er ist ja schließlich lieb - also so ziemlich dein Gegenteil", meinte ich, während der Geisterkater stehen blieb und sich dramatisch mit der Pfote an die Brust fuhr. „Oh, Taubenfeder, wie gemein von dir!", rief er entrüstet, bevor wir beide lachend weiterliefen.
Wer hätte jemals erwartet, dass dieser fiese Kater doch so nett und lustig sein könnte? Hätte ich noch vor ein paar Sonnenaufgängen, als er mich in dem schwarzen Wasser hat schwimmen lassen, geglaubt, jemals mit ihm in einem Labyrinth, mehrere Baumlängen tief in der Erde, herumzualbern? Wie kam das so plötzlich? Aber egal, ich wollte meinen schönen Erfolg nicht zu viel überdenken, bevor er mir wieder aus den Pfoten gerissen wurde.
„Wie hieß der Anführer zu deiner Zeit?", fragte ich neugierig. Wieder eine kurze Pause. Hatte ich das zerstört, was eben erst so zart zwischen uns entstanden war?
„Bleichhimmel."
Eine sehr kurze Antwort. Was hatte ich den nun schon wieder falsch gemacht?
„Das sagt mir nichts - Ah, doch! War das nicht der Anführer vor Luchshimmel?"
Zu unseren Schülerzeiten mussten wir alle Namen der bisherigen bekannten Anführer unseres Clans auswendig lernen und es wurden selbstverständlich nicht weniger. Krähenschwinge hatte wohl als Schüler nur einen Bruchteil dessen lernen müssen, was ich zu lernen gehabt habe.
Ich wünschte, es nicht bemerkt zu haben, aber das Fell des Katers vor mir stellte sich auf. „Was ist los? Hast du eine Gefahr bemerkt?" Sofort wurde ich wachsam zu allen Geräuschen um uns herum.
Nichts.
„Nein, nein. Du hast recht, Bleichhimmel war Luchshimmels Vorgänger. Aber ich habe Luchssprung nur als zweiten Anführer gekannt, ich bin vor seiner Anführerernennung gestorben."
Mäusedreck, ich hatte definitiv das falsche Thema getroffen. War das der Grund, warum Krähenschwinge eben gerade erstarrt war?
„Oh, das tut mir leid."
Bei allen Flöhen in Eichenfalls Fell, war das wirklich das einzige, was ich erbärmliche Katze in dieser Situation zu sagen hatte? "Oh, das tut mir leid"? Bussardbrise und Buchenröte und all die anderen Katzen, die so gut trösten konnten, sollten mir helfen! Was sagte man jetzt? Mein Kopf war völlig leer. Aber zum Glück redete Krähenschwinge wieder los, bevor ich etwas sagen musste.
„Luchssprung war mein Mentor, aber das eigentlich Wichtige hat mir der DüsterClan beigebracht. Tagsüber wurde ich von dem käferhirnigen Kater trainiert und in der Nacht von den Himmelskriegern. Und glaub mir, diese haben mir viel mehr beigebracht."
Scheint so, als wäre dieser Luchshimmel doch kein so begabter Anführer gewesen, wie es uns die Ältesten immer erzählten. Ich, als große Kriegerin, wusste natürlich längst, dass die meisten Geschichten unserer Ältesten nur Märchen waren.
Ich spürte, wie der Tunnel sich langsam wieder anhob. Wir waren demnächst da, aber vielleicht am falschen Ort.
„Wenn ich dir von meinem Mentor und Anführer erzählen muss, dann kannst du das doch auch, oder?", meinte Krähenschwinge.
„Du hättest nicht gemusst! Und ansonsten hast du kaum von deinem Anführer erzählt", protestierte ich. Jetzt war er wieder unverschämt. „Über Bleichhimmel gibt es auch nicht zu erzählen. Er war zu ehrlich, aber er konnte ganz akzeptabel kämpfen", murmelte der Geisterkater.
„Malvenhimmel ist eigentlich eine starke Katze, die gute Entscheidungen trifft, aber manche Sachen zu weit und manche zu wenig an sich ranlässt."
Es tat mir irgendwie leid, an unserer Anführerin herumzumeckern. Sie war nicht perfekt und hatte auf Kupferpfotes Tod viel zu herzlos reagiert, aber sie ahnte, dass ich völlig unschuldig war.
„Sie hat dich verbannt und du sagst, sie würde gute Entscheidungen treffen?", spottete Krähenschwinge. Stimmt, sie war ja nicht mehr meine Anführerin. Sie war die Anführerin eines Clans, der ab heute gegen mich gerichtet war und dessen Katzen mich töten durften. Und doch liefen wir gerade auf dem Territorium ebendieses Clans, nur eben viele Baumlängen darunter. Ob das meine ehemaligen Clankameraden davon abhalten würde, uns hier unten zu finden, war eine andere Frage. Schließlich kannte Haselkralle den Tunnel auch, warum sollten es nicht weitere Katzen tun?
Als mir plötzlich Krähenschwinges dunkelbraunes Fell ins Maul fusselte, ahnte ich, dass wir da waren. Nach rechts würde es nun auf unser Territorium führen, nach links in unser Lager. Erschrocken stellte ich fest, dass es mittlerweile spät geworden war und alle Krieger bereits in ihren Nestern schliefen.
Direkt vor der Spalte, die hinaus führte, lag der zweite Anführer. Ein niedliches Bild gab er ab, wie er zu einer Kugel zusammengerollt mit flauschigem Fell leise im Schlaf schnurrte. Man könnte denken, er könnte keiner Fliege etwas zu leide tun.
Von hier aus konnte ich den größten Teil des SalbeiClans überblicken, doch ich musste nachschauen, ob Ginsterpfote schlief. Oder schlich er erneut umher, auf der Suche nach dem nächsten Opfer?
Krähenschwinge war längst durch Haselkralle hindurchgelaufen und stand herausfordernd auf der anderen Seite.
„Du bist ein angeberisches Miststück, toter Kater!", fauchte ich scherzhaft und gab Acht, meine Stimme leise zu halten. Der "tote Kater" schnickte spielerisch mit dem Ohr und tänzelte durch die schlafenden Körper meiner ehemaligen Kriegergefährten. Er wollte mich echt ärgern!
Mit einem beherzten Sprung wirbelte ich über Haselkralles Schweif und landete geduckt zwischen Weidenfells riesigem Körper und Mauseschattens gedrungener Gestalt. Sogar im Schlaf überragte mich der dunkelrote Kater.
„Kommst du? Wir wollen zu Ginsterpfote", flüsterte ich in Krähenschwinges Richtung, der immer noch damit beschäftigt war, sein Geisterdasein in vollen Zügen auszukosten.
In dem Moment, in dem ich aus dem Kriegerbau-Ausgang verschwinden wollte, hob Bussardbrise langsam den Kopf.
„Taubenfeder?"
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