Kapitel 64
Die Dunkelheit der Bäume umfasste den Boden und war kaum schwärzer als die Nacht selbst. Es war windstill. Der Himmel frei. Die Beute schlief in ihren Nestern. Einige Blätter wisperten kaum hörbar in einer sanften Brise.
Dann, als wäre die Finsternis persönlich erwacht, tauchte ein dunkelgrauer Schatten zwischen einigen Büschen auf und schob sich elegant ins Freie. Sein Fell war glatt angelegt und seine eisigen, blauen Augen funkelten kalt.
Lautlos stolzierte er zu einem Baumstamm, den er überquerte. Mühelos und präzise grub er seine Krallen in den Boden. Schritt für Schritt und vorsichtig näherte er sich der anderen Seite.
Eine große, von Schilf verdeckte Insel kam in Sicht. Er unterdrückte ein Gähnen und seufzte. "Jetzt bin ich schon wieder zurück", murmelte er.
Sein meeresgleicher Blick durchstreifte das Lager. An einigen Stellen lagen Katzen, die leise schnarchten, doch ihm stach nur ein riesiger Felsen entgegen. Eine kleine Höhle erstreckte sich unter diesem. Zielstrebig steuerte der dunkelgraue Kater auf sie zu.
Ein weiterer, dunkelgrauer Krieger schlief dort. Als der noch Unbekannte in seinen Bau trat, öffnete er ein bernsteinfarbenes Augen und musterte seinen Besucher. "Nachtfrost."
Sein Miauen klang leer und kalt durch den Bau. Er setzte sich auf und starrte Nachtfrost an, der respektvoll den Kopf neigte.
"Vater, du wolltest mich sprechen?", fragte er und sah sich leicht unsicher im Bau um.
Nachtfrosts Vater nickte. "In der Tat", bestätigte er, "gut, dass du gekommen bist. Es ist wichtig. Ich muss mit dir über das, was heute passiert ist, reden."
Wenn der dunkelgraue Kater nervös war, ließ er es sich nicht anmerken. Erwartungsvoll starrte er den Ranghöheren an. Er stellte keine Fragen. Er wartete nur geduldig, dass sein Gegenüber es ihm erklärte. Und das tat es auch.
"Ich war heute mit deiner Schwester im Wald. Wir wollten eben ein paar SternenClan-Krieger beseitigen. Leider ist Sonnenschein inkompetent und ich habe die ganze Arbeit gemacht. Sie ist so eine Enttäuschung. Das Blut eurer Mutter setzt sich eben durch. Wo ich gerade bei eurer Mutter bin, diese haben wir heute auch getroffen.
Sie hat ernsthaft versucht, Sonnenschein zu 'retten'. Zum Glück hatte Sonnenschein aber viel zu viel Angst, als ich dabei war, und ist zurück ins Lager gegangen. Sie ist genau wie Seerose. Wie konnte ich nur jemals so eine erbärmliche Kätzin lieben? Ich hasse sie so sehr. Sie ist einfach nur eine feige Krähenfraßfresserin. Sie hat alles verdient. Alles."
So sehr der dunkelgrauer Kater auch versuchte, seinen Schmerz zu verbergen - Nachtfrost konnte ihn in jedem seiner Worte hören. Ihm war durchaus bewusst, dass sein Vater seine Mutter immer noch liebte. Nachtfrost schnaubte.
Und wegen all diesem Leid müssen Sonnenschein und ich jetzt in dieser Hölle leben. Seerose, wenn du uns wirklich lieben würdest, würdest du kommen und uns retten.
"Jedenfalls haben Stimmengeflüster und ihre Fehler-Jungen uns gesehen. Sie haben mir gedroht, dass wenn ich euch nicht vertreibe und sie wieder als meine Familie nehme, sie alles dem Clan offenbaren werden. Dir ist nun sicherlich bewusst, was ich von dir will, Nachtfrost."
Der bernsteinfarbene Blick des Katers richtete sich auf seinen Sohn, durchbohrte ihn waffenlos, dann wisperte seine Stimme leise: "Beseitige sie."
Nachtfrost kroch ein Zittern über den Rücken. Er hasste seine Halbgeschwister und deren Mutter auch, aber er konnte sie doch nicht töten, auch wenn sie sich unangemessen benahmen.
Aber sie wollen dich vertreiben. Sie wollen Sonnenschein schaden.
Letzteres ließ ihn aufspringen. Niemand, wirklich niemand, würde seiner Schwester auch nur ein Haar krümmen.
Sie war die Einzige, die er noch hatte. Sie war seine Familie. Sie lebte bereits in der Hölle. Flüchten konnten sie auch nicht. Es würde ihr nicht noch schlechter gehen.
"In Ordnung", knurrte Nachtfrost, "ich werde sie erledigen, und niemand wird erfahren, was wir getan haben. Alle werden denken, es war bloß ein Unfall oder etwas in der Art."
Der dunkelgraue Kater nickte und befahl dann schroff: "Gut. Jetzt geh. Und komm erst wieder, wenn du fertig bist mit deiner Aufgabe. Ich will keine Spuren sehen."
Nachtfrost neigte noch einmal respektvoll den Kopf, ehe er nachdenklich den Bau verließ. Traurig sah er zum weißen Vollmond auf. Noch in dieser Nacht würde er drei Katzen töten. Drei Leben nehmen, um seine Schwester und sich selbst zu schützen. Er wollte es nicht, doch es musste sein.
Er seufzte. "Ich muss mich beeilen", murmelte er, "ich habe nicht viel Zeit. Morgen müssen drei Katzen tot, beziehungsweise auch verschwunden sein."
Er trabte zum Kriegerbau und warf einen Blick auf Sonnenschein, die sich zitternd in ihrem Nest zusammengerollt hatte. "Du wirst von all dem nie etwas erfahren", versprach er leise flüsternd.
Dann glitten seine meeresgleichen Augen zu Stimmengeflüster. Zuerst bist du dran, dachte er leise und unterdrückte ein Knurren. Am liebsten hätte er sich sofort auf sie gestürzt.
Er sog scharf die Luft ein. Stimmengeflüsters Nest lag relativ am Rand. Es würde nicht allzu schwierig sein, sie zu ermorden. Ein Biss in die Kehle würde genügen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, sie zu töten. Doch es musste sein.
Auf leisen Pfoten schlich er sich zu ihrem Nest und beobachtete einen Moment lang, wie ihre Flanke sich ruhig senkte.
Dann bohrte er seine Zähne in ihr Genick. Ein leises Knacken und alles war vorbei. Kein Schrei. Keine Geräusche. Nichts. Es war komplett still. Nur ein knappes Zucken des Körpers. Wenig Blut. Stimmengeflüster war tot.
Er packte sie kräftig im Nacken und schleppte die tote Kätzin zum Fluss. Hier würde er sie loswerden. Aber erst musste er noch ihre Jungen beseitigen.
Er legte sie ab und schlich sich zurück in den Kriegerbau. Ein schlechtes Gewissen nagte an ihm. Er hatte soeben eine Katze getötet; weil sein Vater es ihm befohlen hatte.
Aber ich habe es für Sonnenschein getan, schoss es ihm durch den Kopf, nur für Sonnenschein.
Doch das Gefühl der Schuld blieb. Es ging nicht. Niemals würde es gehen.
Knochensplitter und Krallenfeder, Geistersterns ungewollte Jungen, schliefen ruhig nebeneinander. Eigentlich waren sie zwei liebe Katzen, die sich nur nach Liebe sehnten. Dennoch waren sie in diesem Falle Katzen, die beseitigt werden mussten.
Nachtfrost sah sie traurig an. Er mochte sie vielleicht nicht, aber er hasste sie auch nicht. Die beiden waren unschuldig. Sie hatten es nicht verdient zu sterben, nicht heute.
Tu es für Sonnenschein und dich, meldete sich wieder diese schreckliche Stimme in seinem Kopf.
Er beugte sich vor und sein heißer Atem streifte Knochensplitters Nackenfell. Langsam fassten seine Zähne sich um ihren Hals.
Er war kurz davor zuzubeißen, doch er konnte nicht. Er konnte es einfach nicht. Es fühlte sich falsch an, so schrecklich falsch. Nein, er wollte sie nicht töten.
Langsam ließ er sie los und ging ein paar kleine Schritte zurück. Da schlug Knochensplitter auch schon die Augen auf. Ängstlich sah sie ihn an. Ihre Ohren hatte sie angelegt.
"N-Nachtfrost?", flüsterte sie verängstigt, "d-d-du willst mich töten, oder?"
Jedes ihrer Worte zitterte vor Furcht. Sie drückte sich panisch in ihr Nest. Ihre Krallen bohrten sie in die Erde.
"B-Bitte", flüsterte sie, "ich mache auch alles, was du willst, aber tu das nicht. Lass mich am Leben. Bitte, bitte töte mich nicht! Ich möchte noch nicht sterben!"
Das Flehen in ihrem ängstlichen Blick. Ihre panischen Worte. Sie trafen ihn mehr als alles, was er je erlebt hatte. Ihre Worte bohrten sich in seine Seele.
"Weck Krallenfeder", befahl er und wandte ihr den Rücken zu.
Benommen riss Knochensplitter ihren Bruder aus seinem tiefen Schlaf. "Komm", flüsterte sie, "sei leise. Niemand anders darf aufwachen, sonst ... sonst ..."
Ihre Stimme brach ab und sie warf einen apprehensiven Blick auf Nachtfrost, dessen eisblaue Irden am Boden hafteten. Nur die goldenen Sprenkel in seinen Augen unterschieden sich minimal von der Dunkelheit.
"Kommt mit", befahl er, erhob sich auf die Pfoten und ging zum Fluss, ohne sich zu vergewissern, dass die beiden anderen Katzen ihm folgten.
Sie waren nicht einmal jünger als er, doch sie wussten, dass er stärker war, deshalb wollten sie sich nicht mit ihm anlegen. Timide krochen die beiden Geschwister hinter ihm her. Ihre Schwänze schleiften über den Boden.
Am Ufer blieben sie neben ihrem dunkelgrauen, schwarz gesprenkelten Halbbruder stehen, der still aufs Wasser sah. Herzschläge, die sich wie ewige Monde anfühlten, vergingen, ehe er langsam, monoton miaute:
"Geisterstern hat mir aufgetragen, eure Mutter und euch zu töten, weil Stimmengeflüster gestern etwas Gewisses gesagt habt. Ich denke, ihr wisst, was ich meine. Jedenfalls ist sie jetzt tot. Ich soll auch euch töten."
Mit einem kräftigen Hieb stieß er Stimmengeflüsters Leichnam ins Wasser. Es herrschte eine starke Strömung, die den Kadaver mit sich nehmen würde. Jeder würde annehmen, sie wäre verschwunden.
"Ich würde euch jetzt theoretisch umbringen, aber ich will das nicht. Ich kann es nicht. Deswegen geht einfach. Rennt weg und kommt nie wieder. Ihr könnt nichts dafür, was eure Mutter getan hat."
Seine Worte waren knapp und kurz, doch Knochensplitter sah erleichtert aus. Sie zitterte immer noch, aber erwiderte mit fester Stimme: "Danke, Nachtfrost. Wir werden gehen."
Sie nickte ihrem Bruder zu und die beiden Katzen sprinteten los, ohne auf Stimmengeflüster zu achten, die im Fluss versank. Bald waren sie im Wasser verschwunden und schwammen weg.
Warum tust du mir das an, WunderClan? Und warum hilfst du uns nicht, Mutter? Warum bist du so ein Monster?
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Das Kapitel ist kein reguläres Kapitel, kein Zusatzkapitel btw
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