Kapitel 62
Seerose konnte es nicht glauben. Ihr Sohn war wirklich am Leben und für ihre Tochter bestand auch eine gute Chance, dass sie nicht tot war. Geisterstern hatte ihre Jungen entführt.
Es war so viel geschehen - und jetzt, nach fünfzehn Monden, erfuhr sie alles. Sie hatte so lange getrauert und fast mit der Sache abgeschlossen, doch jetzt waren ihre Jungen wieder da.
Alles hatte sich mit einem Schlag verändert. Ihr ganzes Leben war auf den Kopf gestellt worden. Sie war gerade Mentorin geworden und hatte ihre Tochter bejubelt, als diese Heilerin geworden war, da kam schon die nächste Überraschung.
Unruhig bearbeitete sie mit ihren Krallen den Boden. Wieso war das Leben bloß so kompliziert? Am liebsten wäre sie losgerannt, und hätte einfach ihre Jungen gerettet.
Doch sie wusste, dass das nicht ging. Sie konnte nicht einfach verschwinden. Sie musste sich erst einmal einen besseren Überblick verschaffen, dann konnte sie einen Plan schmieden.
"Seerose?" Eine zarte Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Die hellgraue Kätzin riss die Augen auf und erkannte ihre Schülerin Frostpfote. Das kleine, weiße Fellbündel starrte sie mit großen Augen ängstlich an.
Wie hatte sie ihre Schülerin nur vergessen können? Sie würde später über ihre Jungen nachdenken können. Jetzt sollte sie ihrer Schülerin besser einmal das Territorium zeigen. Das war schließlich eine alte Tradition.
"Du möchtest, dass ich dir das Territorium zeige, nicht wahr?", fragte sie und warf einen unruhigen Blick in den Wald. Ein neues Gefühl des Unbehagens breitete sich in ihr aus.
"J-Ja", stammelte Frostpfote verängstigt, "natürlich nur, w-wenn du gerade Zeit hast. Ich möchte nicht stören, falls du gerade nicht kannst. Ich kann auch mit den anderen mitgehen."
Seerose schnurrte belustigt und strich ihrer Schülerin mit der Schwanzspitze über den Rücken. "Nein", erwiderte sie freundlich, "ich werde dir das Territorium jetzt zeigen. Tut mir leid, dass ich nicht daran gedacht habe. Ich war einfach nur in Gedanken versunken."
Frostpfote nickte erleichtert und folgte der hellgrauen Kätzin in den langsam kahl werdenden Wald, doch Seerose fühlte, dass etwas anderes sie verängstigte.
Die mulmigen Gedanken sowie ein Stich des Ungewissen begleiteten sie, als sie sich dem Waldstück näherten, das Frostpfote vermutlich noch nie in ihrem Leben betreten hatte, allerdings gab sich die frisch ernannte Mentorin größte Mühe, ihre Bedenken zu verdrängen; sie hatte sich bereits gerade eben ablenken lassen und ihrer Schülerin Desinteressere signalisiert, somit wäre es wohl durchaus unklug, sich noch ein weiteres Mal von ihren Vorstellungen verleiten zu lassen.
Im trüben Licht des Blattfalls verloren die ersten Bäume bereits wieder ihre Form und erblassten als Vorboten der bald folgenden Kälte; in nur wenigen Viertelmonden würden sich ohnehin wieder knorrige, verdorrte Zweige zwischen dunkelgrauen Wolken erheben, in den Himmel stechen wie absterbende Riesen und die Kunde des Hungers verbreiten, als die Beute immer rarer wurde.
Frostpfote sollte noch die Gelegenheit erhalten, den Wald ihrer Heimat im frischen Nachglanz der Blattgrüne kennenlernen und genießen zu dürfen, bevor finsteren Zeiten über dem SternenClan einbrechen würden - und Seerose würde ihr diese Möglichkeit sicherlich nicht verderben, nur weil sie sich vor ihren eigenen Gedanken fürchtete.
Immerhin hatten ihre Ängste ihr Leben schon genug kontrolliert und sowohl ihr als auch ihren Gefährten so viel mehr verdorben, als sie sich überhaupt vorzustellen vermochte; und zumindest einmal wollte sie sich diesen Zweifeln entgegenstellen.
-----
Die riesigen Bäume bauten sich vor den beiden Kätzinnen auf. Der Boden wurde von bunten Blättern erfrischt. Wirklich jede Farbe war dabei; ein saftiges Rot, das von einem stechenden Gelb übertont wurde, wiederum übertroffen von einem frischen Grün, das sich unter einigen braunen Sprenkeln versteckte.
Die großen Äste boten nun keinen Schutz mehr vor Regen, doch dieser sollte heute auch nicht mehr fallen. Er würde erst in der Nacht regnen.
Insgeheim freute die hellgraue Kriegerin sich bereits auf die Aussicht, sich nach einem zermürbenden Tag im Kriegerbau zusammenrollen zu können und die Sorgen des Alltags einfach einmal zu vergessen.
Der Himmel war wolkenlos und doch grau, als würde der WunderClan Seerose etwas Schlechtes versprechen wollen.
Es würde schon nichts passieren, hoffte sie, und selbst wenn sich ihre unerklärlichen Zweifel bestätigten, so wäre das Lager immerhin nicht weit entfernt.
"Wohin gehen wir zuerst?", fragte Frostpfote neugierig.
Die Angst der kleinen, weißen Kätzin schien so nicht-existent, als hätte sie nicht vor wenigen Momenten noch unruhig dem Wald entgegengeblickt. Nun blitzte das Verlangen nach Wissen in ihren Augen auf.
"Ich denke, ich werde dir zuerst die Grenze zeigen", miaute Seerose und spürte, dass sich Angst in ihr breit machte.
Was wäre, wenn sie Nachtfrost treffen würde? Oder Sonnenjunges? Was würde sie ihren Jungen sagen?
Schließlich war sie schon lange nicht mehr auf einer Grenz-Patrouille zu der Grenze des SonnenClans gewesen. Ihre Tage hatte sie immer damit verbracht, gegen den HimmelClan zu kämpfen oder zu jagen.
Sturmgeist hielt sie bewusst von dem Territorium des SonnenClans fern, da er nicht wollte, dass sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden müsste, aber jetzt blieb ihr keine Wahl.
Sie würde mit Frostpfote zur SonnenClan-Grenze gehen müssen, ob es ihr gefiel oder nicht. Das würde sie jetzt tun müssen, bis ihre Schülerin zur Kriegerin ernannt werden würde, was noch dauerte.
Dennoch, so musste sie sich eingestehen, oder versuchte es zur eigenen Beruhigung, erschien die Vorstellung, dass sie ausgerechnet heute ihren zwei vermeintlich im SonnenClan residierenden Jungen begegnen sollte, auch ironisch gering.
Es graute ihr, als die Grenze in Sicht kam. Plötzlich zuckte sie mit den Ohren. Ein Rascheln erklang. Ihr Nackenfell sträubte sich und ein altbekannter Geruch breitete sich in ihr aus.
Erinnerungen schossen durch ihren Kopf, als sie mit Geisterstern an der Grenze gestanden und er ihr offenbart hatte, dass er sie nicht mehr liebte.
Geisterstern: Der Kater, durch den sie fünfzehn verfluchte Monde gelitten hatte; der, der sie dazu gebracht hatte zu glauben, ihre Jungen seien tot; der, der sie hatte leiden lassen; der Einzige, den sie jemals wirklich geliebt hatte, und vielleicht auch der Einzige, dem ein gewisser Anteil ihrer selbst für immer gehören würde.
Geisterstern starrte sie aus seinen bernsteinfarbenen Augen an. Ihr blauer Blick traf ihn ebenfalls und für einen Herzschlag, für den Bruchteil eines Momentes, wünschte sie sich, sie könnte all jene Geschehnisse der Vergangenheit hinter sich lassen, als seien sie nie geschehen, und noch einmal, für eine einzige Sequenz ihres Lebens, diejenige sein, die Geisterfuchs mit verstohlener Aufmerksamkeit der Liebe bedachte.
Aber solche fiktiven Fragmente ihrer Vorstellung würden auf immer nur eben dies sein - fiktiv; immerhin ließ sich die Vergangenheit nicht neu erleben.
Beide standen versteinert da, bis Seerose bemerkte, dass neben ihm eine honigfarbene Kätzin stand. Sie hatte kurzes und doch weiches Fell. Ihre himmelblauen, hellen Augen glänzten und stellten einen Kontrast dar. Angsterfüllt sah sich die etwas kleinere Kätzin um. In ihrem Blick stand die pure Panik.
Sie kam Seerose so bekannt vor, als würde sie eine altbekannte Freundin wiedertreffen. Wer war sie bloß?
Doch dann riss sie Geisterstern aus den Gedanken. "Sonnenschein, geh schon einmal ins Lager", befahl er schroff und musterte seine ehemalige Gefährtin.
Die hellgraue Kätzin erstarrte. Sonnenschein?!
Ihre Sicht verschamm für einen Moment, die Realität verzerrte sich selbst in einem paradoxen Abbild ihrer bizarrsten Träume, und als sich ihr Blickfeld wieder lichtete, traf sie eine grausame Realisation gebündelt in einem Schlag, als habe ihr jemand nach all diesen Monden endlich die Augen geöffnet und sie der Blindheit entrissen.
Das ist Sonnenjunges! Meine Tochter steht vor mir und ich habe es nicht bemerkt!
"Nein! Warte!", jaulte sie.
Die sandfarbene Kätzin wirbelte herum und starrte die SternenClan-Kriegerin verwirrt an. "Wer bist du?", fragte sie leise und sah Geisterstern unsicher an, der vortrat.
"Das spielt keine Rolle, Sonnenschein! Geh jetzt ins Lager und hilf deinem Bruder, die Patrouillen zu organisieren."
"Nein! Hör mir zu! Ich bin deine Mutter!", brach es aus Seerose heraus.
Flehend sah sie die goldbraune Kätzin an, die einige Schritte zurücktrat und ihre Mutter entsetzt anstarrte. "W-Was redest du da für einen Mäusedreck?", fauchte sie aufgebracht, "meine Mutter hat mich verraten. S-Sie hat zugelassen, dass ..."
"Sonnenschein!" Wütend unterbrach Geisterstern die beiden Katzen. "Wir gehen! Jetzt! Auf der Stelle!"
Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten vor Wut. Mit diesen Worten rempelte er Sonnenschein an und rannte davon.
Seerose starrte ihnen wortlos hinterher. Sie konnte sich nicht bewegen. Tränen sammelten sich in ihren Augen an.
War das gerade wirklich passiert? Hatte sie gerade wirklich ihre Tochter getroffen und ihren ehemaligen Gefährten?
Sie wollte den beiden gerade hinterher rennen, als sie Frostpfotes weiches Fell neben sich spürte. Die kleine, weiße Kätzin hatte sie komplett vergessen. In ihrem Blick standen Verwirrung, Panik und Angst - doch allem voran: blankes Entsetzen, als habe sie eine Begegnung mit dem Übernatürlichen hinter sich.
Seerose sog scharf die Luft ein, inhalierte den frischen Geruch des Blattfalls, der inzwischen bereits eine Nuance des Regens in sich trug, der bald fallen würde. Ihre Krallen bohrten sich in den noch immer schlammigen Boden unter ihren Pfoten, verzweifelt auf der Suche nach Halt, als sie sich mit so vielen Reizen konfrontiert fand, dass sie nicht wirklich wusste, wie sie mit diesen umgehen sollte.
"S-S-Seerose", stammelte die kleine Schülerin, "i-ich ... d-du ... d-du musst sofort kommen. Bitte! Es geht nicht anders!"
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro