Kapitel 52
Ihre Pfoten trugen sie wie noch nie zuvor. Sie rannte schneller als sonst. Sie musste entkommen. Sie durfte nicht bleiben. Sie musste verschwinden. Und doch war es zwecklos. Er war stärker.
Er jagte sie. Seine Pfoten trommelten über den Boden und schienen sie zu fangen. Sie wirbelte herum und sah ihm in seine bernsteinfarbenen Augen. "Bitte! Lass mich gehen! Was willst du?", flehte sie.
Aber es interessierte ihn nicht. Er kam näher und näher. Mit jedem Pfotenschritt wurde der Abstand kleiner. Sie gab sich doch so eine Mühe. Wieso brachte es nichts?
Er ließ sie nicht gehen und er würde es auch nicht tun. Sein Hass übertrug sich auf sie und jagte sie durch den Wald. Die riesigen Bäumen flogen an ihr vorbei. Er kam näher.
Seine dunkelgraue Silhouette war nicht einmal mehr eine Fuchslänge entfernt. Und dann - Schreie. Wie aus dem nichts erklangen sie in ihren Ohren. "Seerose!", war es, was sie sagten.
Die hellgraue Kätzin blinzelte verwirrt, um zu erkennen, dass sie sich in ihrem Nest befand.
Mondschatten saß neben ihr und musterte sie besorgt. "Ist alles gut?", fragte er mit großen Augen. "Du hast im Schlaf geschrien. Du sagtest, dass ich dich gehen lassen solle und hast gefragt, was ich von dir wolle."
Peinlich berührt bearbeitete Seerose mit den Krallen den Boden. "Ich habe nur geträumt", erwiderte sie schließlich und begann, sich zu putzen, doch Mondschatten unterbrach sie. "Wieso schlafen wir nicht weiter?", fragte er, "es ist noch nicht Morgen."
Die junge Kriegerin warf einen Blick aus dem Kriegerbau und erkannte, dass der blaugraue Kater Recht hatte. Die Sterne schimmerten nur schwach am finsteren Himmel und der Mond wurde von den Wolken verdeckt.
"Stimmt", murmelte sie und leckte sich verlegen die Vorderpfote, "und was jetzt? Ich kann nicht mehr schlafen. Sonst werde ich nur wieder von Löwenfell träumen."
Geisterfuchs, korrigierte sie sich in Gedanken.
Als sie diesen Namen stumm aussprach, sah sie traurig zu Boden und spürte, dass der Kummer sie erneut durchflutete. Es war nun schon einen Viertelmond her, dass der dunkelgraue SonnenClan-Krieger sie verraten hatte.
Tagsüber lenkten ihre Freunde und Sturmrose sie ab, aber nachts jagte er sie in ihren Träumen und ließ sie nicht gehen. Oder war es sie, die ihn nicht gehen ließ?
Mondschatten nickte verständnisvoll. Seit er sich bei ihr entschuldigt hatte, benahm er sich tatsächlich besser und zeigte mehr Mitgefühl.
Das kann gerne so bleiben, dachte Seerose leicht ironisch.
"Sollen wir in den Wald gehen?", fragte er, doch die hellgraue Kätzin riss das Maul nur zu einem gewaltigen Gähnen auf, das zeigte, dass sie das nicht wollte.
"Nein", entschied sie, "lass uns doch einfach hier bleiben und über irgendwas reden. Vielleicht werde ich dann wieder richtig müde und kann ohne Träume schlafen."
Mondschatten schnurrte belustigt. "Wenn es das ist, was du willst."
"Stell mir einfach Fragen", miaute sie und rollte sich zusammen. Ihre weiße Nase vergrub sie unter ihren Pfoten. Verschlafen schloss sie die Augen und zuckte auffordernd mit den Ohren.
"Gut", begann Mondschatten und legte den Schweif um die Pfoten. "Magst du Sturmgeist?"
Die Frage überraschte Seerose. "Natürlich mag ich ihn", erwiderte sie, "wieso sollte ich das nicht tun?"
Hatte Mondschatten etwas dagegen? Hatte sie die Frage falsch verstanden? Hatte Sturmgeist etwas getan? Wieso fragte er sie das? War etwas mit ihrer Freundschaft?
"Nein, ich meinte eher, ob er für dich einfach nur ein Freund ist", räusperte sich Mondschatten nun verlegen. Die hellgraue Kätzin öffnete eines ihrer blauen Augen und starrte ihn verwirrt an.
"Wovon redest du?", gähnte sie, "er ist einfach nur ein Freund. Du weißt genau, dass ich keinen einzigen Gefährten hatte. Also; wieso stellst du mir diese bizarre Frage? Und überhaupt, was geht dich das an?"
Stille. Schweigen. Kein einziges Geräusch. Das waren die Dinge, die folgten. Nur das Schnarchen der Katzen, die in dem Kriegerbau schliefen, erfüllte die Luft. Keiner der beiden Katzen sagte etwas.
Ungeduldig peitschte Seerose mit dem Schwanz. "Nun?", fragte sie schließlich, "hast du meine Frage nicht verstanden? Wieso willst du das von mir wissen, wenn es dich nichts angeht und du die Wahrheit kennst?"
Mondschatten zuckte bei ihrem strengen und bestimmten Ton zusammen und legte die Ohren an. "N-Nun", stammelte er, "ich versuche, etwas herauszufinden."
Seerose starrte ihn verwirrt an. "Was denn? Wie man Seerose nerven kann, wenn sie müde ist und eigentlich nur über irgendein Zeug reden will? Herzlichen Glückwunsch! Du hast es geschafft, die Antwort auf deine Frage zu finden."
Mondschatten knurrte leise. "Wieso musst du immer so sarkastische Antworten geben? Ich habe etwas gehört und möchte wissen, ob es stimmt."
Nun hob Seerose den Kopf und starrte ihren blaugrauen Freund aufmerksam an. "Ich höre", miaute sie und musterte ihn prüfend, doch an ihm ließ sich nicht erkennen, was er meinte.
"Nun", begann Mondschatten, "ich habe es von Morgenhimmel gehört. Ich war gestern mit ihr auf Patrouille und sie meinte zu mir, dass du Jungen von mir erwarten würdest. Stimmt das?"
Seerose erstarrte. Sie fühlte, dass das Blut in ihren Adern gefror und wie ihr Herz nun gegen ihre Brust hämmerte. Was sollte sie sagen?
'Nein, ich hatte vor kurzem einen Gefährten aus einem anderen Clan' oder 'Ja klar, obwohl du nicht einmal mein Gefährte bist, aber der kannst du gerne sein'?
Verunsichert sah sie auf ihre Pfoten hinab. Plötzlich schreckte sie hoch. Schwarzfluss' Duft strömte um sie herum und eine bekannte Stimme flüsterte ihr ins Ohr: "Erzähl dem Mond nicht von den Schatten. Sag ihm, was er hören möchte."
Soll ich ihn wirklich anlügen?, schoss es ihr durch den Kopf, wäre das nicht unfair? Niemand hat es verdient, angelogen zu werden. Schon gar nicht, wenn es um Jungen geht! Aber welche Wahl habe ich eigentlich?
"Erzähl dem Mond nicht von den Schatten. Sag ihm, was er hören möchte", wiederholte Schwarzfluss nun deutlicher, "erzähl ihm ... was er hören möchte."
Ihre Stimme verblasste allmählich, doch ihr Geruch, der nur für Seerose existierte, lag noch lange in der Luft. "Es sind deine Jungen." Seeroses Stimme durchschnitt die Luft scharf wie Krallen, "von wem sollen sie auch sonst sein?"
Jedes Wort blieb ihr beinahe in der Kehle stecken. Es fühlte sich falsch an zu lügen. Aber sie musste es tun. Sie würde sich schon noch an die Lüge gewöhnen, tröstete sie sich.
Mondschattens grüne Augen begannen, vor Glück zu leuchten. "Ich werde Vater?", flüsterte er, "ich werde wirklich Vater?"
Freudig sprang er auf und seine Stimme hallte durch den ganzen Bau, als er den schlafenden Katzen verkündete: "Ich werde Vater! Seerose erwartet meine Jungen!"
Das Herz der hellgrauen Kätzin brach, als sie sah, wie sehr er sich freute.
Es tut mir leid, Mondschatten. Aber ich tue das für meine Jungen und mich. Vielleicht ist es ja auch besser für dich, wenn du glaubst, dass es deine sind. Ich meine, du willst scheinbar ja Vater werden.
Vor Freude platzend ließ er sich wieder neben ihr nieder. "Aber wir sind doch jetzt Gefährten, oder?", wollte er wissen.
Seerose riss entsetzt die Augen auf. Wieder erklang Schwarzfluss' Stimme: "Erzähl dem Mond nicht von den Schatten. Sag ihm, was er hören möchte."
Seerose spürte, dass ihr schlechtes Gewissen wuchs, und doch antwortete sie: "Ja, das sind wir jetzt." Ihr Herz zog sich zusammen. Doch sie musste lügen. Sie musste lügen. Für ihre Jungen. Für sich selbst.
Was bin ich für eine schreckliche Katze? Kurz nachdem mein Gefährte mich verlassen hat, habe ich schon einen Neuen, den ich nicht liebe. Ach was. Vielleicht lerne ich ja, ihn zu lieben.
Sie zweifelte an ihren eigenen Worten. Schließlich konnte man sich nicht zwingen, sich in einen Kater zu verlieben. Aber was sollte sie tun, wenn selbst ihre Mutter, eine SternenClan-Katze, es ihr geraten hatte?
Es war die einzige Möglichkeit, um dem Clan vorzubehalten, dass sie Geisterfuchs' Jungen erwartete. Jeder würde sich sonst fragen, wer der Vater war und das ging nicht.
Sie musste lügen, auch wenn es unfair gegenüber Mondschatten war. Er hatte es nicht verdient. Er hatte doch noch gar nichts verbrochen, was ihn als schlimmen Krieger dastehen lassen würde.
Er war loyal und schien sie wirklich zu mögen. Sie würde ihm geben, was er wollte. Liebe und Vertrauen. Das schuldete sie ihm. Aus Dankbarkeit und als Entschuldigung.
"Tut mir leid, aber ich brauche ein wenig Zeit für mich", miaute sie schließlich und trat aus dem Bau. Mondschatten nickte verständnisvoll hinter ihr. Wieder überkam sie eine Welle des Schmerzes. Sein Verständnis erinnerte sie an Geisterfuchs.
Wo war dieser wohl? War er bei Stimmengeflüster und kümmerte sich um seine unerwünschten Jungen? Sie fuhr wütend die Krallen ein und aus.
Dieser Krähenfraßfresser! Hat er mich wirklich nur wegen seines neuen Postens verlassen? Oder hat er es wegen dieses Dachsherzens Stimmengeflüster getan?
Der Gedanke quälte Seerose und sie ließ sich im sanften Gras, das ihren angeschwollen Bauch streichelte, nieder.
Sie hob den Kopf und beobachtete die Sterne, die wie Wasser im See funkelten.
Alles war so friedlich. Die sanfte Brise, die das Lager durchzog. Die Blumen, die im Wind nickten, und die Blätter, die leise Allüren wisperten, die man nicht verstehen konnte. Alles war so still. Und in Seerose herrschte ein Krieg. Ein Krieg der Schuld und Wut.
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